Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt auf, dass Subjektorientierung als normatives handlungsleitendes Prinzip im Kontext Sozialer Arbeit auf zwei verschiedenen Ebenen eine relevante Rolle zuteil wird: sowohl auf der Ebene des Verhaltens im Sinne einer Befähigung der Inanspruchnehmenden zu selbstbestimmten Subjekten wie auch auf der Ebene der Verhältnisse im Sinne der Herstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen, die Autonomie ermöglichen. Mit Sicht auf Soziale Arbeit mit älteren Menschen werden Orientierungsangebote dargestellt, die aufzeigen, wie dieses Prinzip auch in der Arbeit mit alten Menschen umgesetzt werden kann.
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Notes
- 1.
Frankfurt unterscheidet in seiner Autonomiekonzeption Wünsche erster und zweiter Stufe. Wenn bspw. ein drogengebrauchender Mensch den Wunsch erster Stufe hat, Drogen zu nehmen, kann er auf der zweiten Stufe zeitgleich den Wunsch verspüren, keine Drogen nehmen zu müssen. Die Sucht nach Drogen kann aber so elementar sein, dass er dennoch Drogen nimmt; Frankfurt würde argumentieren, dass die Sucht nach Drogen die Person dazu führt, keinen freien Willen zu haben. Gleichsam könnte das Beispiel auch so formuliert sein, dass die drogenbrauchende Person den Wunsch erster Stufe hat, Drogen zu nehmen, ihrer Sucht auch positiv gegenübersteht und somit keinen Wunsch auf der zweiten Stufe verspürt. Auch hier würde Frankfurt argumentieren, dass sie dennoch nicht über Willensfreiheit verfügt. Denn, auch wenn sie den Wunsch hätte, ihren ersten Wunsch nach Drogen handlungsunwirksam zu machen, könnte sie diesen Wunsch gleichwohl nicht umsetzen – sie hat somit keine vollkommene Handlungsfreiheit: Wenn sie etwas anderes wollte, könnte sie es nicht tun (vgl. ausführlich Schulte 2005).
- 2.
Im Kontext dieser neuen Steuerungsmodelle wird zwar den Inanspruchnehmenden in ihrer Rolle als ‚Kund*innen‘ ein besonderer Stellenwert zugesprochen, wenn diese als aktive Subjekte Berücksichtigung finden. Allerdings werden sie entlang den Leitkategorien der Public-choice-Theorie als homo oeconomicus und damit als kundige Verbraucher*innen konzipiert, die als Nutzenmaximierer*innen idealtypisch zwischen verschiedenen Angeboten eine Wahl treffen und/oder über entsprechende Leistungen verhandeln (vgl. Schaarschuch 2006, S. 99). Kritisch lässt sich hierzu anmerken, dass solche utilitaristischen Fundierungen eine leitmotivische Vorwegnahme des Aktivierungsdiskurses darstellen: So führt die Hervorhebung der Wahlmöglichkeiten des*der Einzelnen nach seinen eigenen Kriterien letztendlich zu einer Verantwortungszuschreibung (vgl. ebd., S. 99). Tendenziell ausgeblendet werden so gesellschaftliche Verhältnisse sowie unterschiedliche Ressourcenausstattungen. Oder anders formuliert: Wenn jede*r seines*ihres Glückes Schmied*in ist und dies jedem*jeder auch zugemutet wird, dann kann auch jede*r für sein*ihr eigenes Elend bzw. den Misserfolg verantwortlich gemacht werden.
- 3.
Die soziale Kategorie ‚Klient*in‘ verweist häufig auf den (unterstellten) Mangel an Autonomie (vgl. u. a. Schrödter 2018, S. 1674).
- 4.
Vgl. zur Relevanz des Nahraums im Alter van Rießen und Bleck (i. E. 2021).
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van Rießen, A. (2022). Subjektorientierung: Ein handlungsleitendes Prinzip auf zwei Ebenen. In: Bleck, C., van Rießen, A. (eds) Soziale Arbeit mit alten Menschen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37573-7_29
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