1 Einleitung

Das Konsumverhalten von Verbrauchern befindet sich seit jeher in einem Wandel. So war die Etablierung von Kauf- und Warenhäusern eine Folge des Bedürfnisses der Verbraucher nach der Deckung ihres Einkaufsbedarfs an einem einzigen Ort (Stichwort: One-Stop-Shopping). Die Motorisierung der Bevölkerung trug zur Entstehung von Einkaufsmöglichkeiten „auf der grünen Wiese“ bei (Banken 2007). Katalogbestellungen und Teleshopping haben die Ortsbindung beim Einkauf aufgehoben und im Zusammenhang mit der Entwicklung des PC und der Anbindung von immer mehr Haushalten an das Internet Online-Versandhäusern wie Amazon, eBay und Zalando den Weg bereitet. Das Such- und das Einkaufsverhalten von Verbrauchern hat sich dadurch von Grund auf verändert. Inzwischen informieren sich viele Verbraucher über die Eigenschaften selbst beratungsintensiver Produkte online, statt die Beratung im stationären Handel in Anspruch zu nehmen.

Der Wandel im Konsumverhalten ist neben verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungstrends wie dem demographischen Wandel oder der Urbanisierung auch auf die technologische Entwicklung zurückzuführen. Wie das Beispiel der Online-Versandhäuser zeigt, haben insbesondere Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien einen maßgeblichen Einfluss auf das Konsumverhalten. Die Folgen dieser Entwicklungen treffen analog zum Einzelhandel inzwischen auch die Kulturbranche. Auf der einen Seite verändern das Internet, neue Konzepte der Bereitstellung von IT-Ressourcen (Cloud-Computing), die Möglichkeiten der Analyse großer Datenmengen (Big-Data-Analytics), soziale Medien und mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets grundlegend, wie Organisationen aus der Kulturbranche ihre Angebote ökonomisch verwerten, distribuieren und vermarkten können. Auf der anderen Seite erzeugt die breite Verfügbarkeit dieser Technologien und ihr Einsatz in immer mehr Bereichen des täglichen Lebens eine neue Erwartungshaltung bei den Verbrauchern. So zeigt zum Beispiel der Erfolg von Unternehmen wie Netflix und Spotify, dass On-Demand – die Möglichkeit zum Medienkonsum auf Abruf – zum Standard wird. Spotify hat inzwischen weltweit über 50 Mio. zahlende Kunden und über 140 Mio. aktive NutzerFootnote 1.

Aus der Konsumentensicht verändert sich durch das Zusammenspiel von mobilen Endgeräten, sozialen Medien und dem Internet wie, wann und wo sich Kulturinteressierte mit Kulturangeboten auseinandersetzen und Kulturangebote konsumieren. Musikstreaming-Anbieter wie Deezer, Spotify, Apple Music, Tidal oder Juke bieten ein umfangreiches Repertoire klassischer Musik an. Die Anbieter verbinden mithilfe ihrer Streaming-Plattformen den Medienkonsum mit klassischen Konzepten aus der Welt der sozialen Medien, um Konsumenten miteinander zu verbinden und deren Nutzungsverhalten zu analysieren. Laut Prognosen wird die Anzahl der Musik-Streaming-Nutzer in Deutschland bis 2020 von 15,4 Mio. in 2015 auf 32,2 Mio. ansteigenFootnote 2.

Die digitale Kundenschnittstelle hat im Kulturbereich eine große Bedeutung erlangt. Um den Zugang zu dieser Schnittstelle nicht zu verlieren und am Wachstum im Onlinebereich teilhaben zu können, ist die Digitalisierung von Serviceprozessen, die Einbettung des Leistungsangebotes in ein digitales Ökosystem und die Erschließung neuer, digitaler Kommunikations- und Vertriebskanäle für viele Organisationen der Kulturbranche eine Voraussetzung, um zukünftig am Markt bestehen zu können. Leitbranchen wie die IT- und die Unterhaltungsbranche zeigen, wie sich eine solche Digitalisierung erfolgreich durchführen lässt. Erfahrungen und Best-Practices aus diesen Branchen lassen sich jedoch aufgrund von Unterschieden in der Interaktion mit Kunden und Partnern und der von vornherein hohen Technologieaffinität der Unternehmen nur eingeschränkt übertragen.

Die nachfolgend vorgestellte Fallstudie untersucht wie die Berliner Philharmoniker, eines der weltweit führenden Orchester, digitale Technologien einsetzt, um erfolgreich neue Märkte zu erschließen, näher am Kunden zu sein und ein weltweites Publikum anzusprechen. Die Berliner Philharmoniker erweitern die Bühne des Orchesters bis in die Wohnzimmer der Kunden in aller Welt. Gleichermaßen schaffen sie neue Handlungsfreiheiten und Chancen ihr kreatives Wirken auszuweiten und bieten einen zeitgemäßen Zugang zum Orchester für folgende Kundengenerationen.

2 Kurzporträt der Berliner Philharmoniker

Die Berliner Philharmoniker sind eines der ältesten und traditionsreichsten deutschen Orchester. Ende des 19. Jahrhunderts gegründet, haben sie in ihrer Geschichte mehrfach kulturellen Pioniergeist bewiesen. Als eines der ersten Orchester wagten sie im März 1882, nach einer basisdemokratischen Entscheidung, den Schritt in die Selbständigkeit. Dieser war mit finanziellen Schwierigkeiten und Ressourcenknappheit verbunden. Mit ihren musikalischen Darbietungen wurde das Orchester schnell international bekannt. Viele Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts profitierten von der Zusammenarbeit mit dem Orchester. Dazu gehörten Anton Rubinstein, Richard Strauss, Johannes Brahms, Clara Schumann oder Antonín Dvořák.

Über den musikalischen Kontext hinaus waren die Berliner Philharmoniker auch an technologischen Neuheiten interessiert. Der Chefdirigent Arthur Nikisch (1895–1922) stellte sich für die erste Stumm-Filmaufzeichnung eines Dirigenten zur Verfügung und spielte die erste komplette Sinfonie auf Schallplatte ein. Die Aufgeschlossenheit behielt man sich auch unter neuen Dirigenten. Unter Wilhelm Furtwängler (1922–1934 & 1952–1954) spielte man als Erster eine Platte (Bruckners No. 7) mit einer neu entwickelten elektroakustischen Aufnahmetechnik ein, welche eine deutliche klangliche Verbesserung gegenüber der mechanischen Vorgehensweise brachte. Herbert von Karajan (1956–1989) nutzte neue Technologien im Bereich der Produktion um Ton- und Bildaufzeichnungen aller Konzerte anfertigen zu lassen.

Die Aufgeschlossenheit der Philharmoniker gegenüber dem Einsatz neuer Technologien und organisatorischen Veränderungen führte 2008 zur Einrichtung der Digital Concert Hall (DCH), einer anmelde- und bezahlungspflichtigen Plattform, welche die Möglichkeit zum On-demand-Streaming von Live-Konzerten und aufgezeichneten Konzerten sowie den Abruf umfangreicher Hintergrundinformationen zu Konzerten und Künstlern bietet. Die Vision für die DCH entwickelte sich aus der Erkenntnis, dass sich das Marktpotential von Live-Konzerten aufgrund der physischen Restriktionen eines Konzertsaales nicht ausschöpfen lässt. 2015 wurden in 6 Saisons 3,5 Mio. Stunden Konzerte gestreamt, was ca. 5 Jahren Spielzeit in der Berliner Philharmonie entspricht. 25.000 aktive Abonnenten nutzen das zahlungspflichtige Angebot. Aber auch in den sozialen Kanälen verbucht man große Reichweiten. Bei Facebook folgen digital über 800.000 Fans den Berliner Philharmonikern (Stand: 24.05.2016). Ähnlich stellt sich die Situation bei YouTube dar, welches mit über 133.000 Abonnenten (Stand: 24.05.2016) ein hervorragendes Beispiel zur Reichweitenvergrößerung unter zur Hilfenahme neuer Medien darstellt.

Bis 2002 waren die Berliner Philharmoniker als öffentlich-rechtliches Senatsorchester aufgestellt und damit einer Verwaltungskammer Berlins untergeordnet. 2002 sind das Konzerthaus und das Orchester in die Stiftung Berliner Philharmoniker übertragen worden, um den kreativen Handlungsraum zu erweitern und dem Orchester mehr Autonomie zu gewähren (siehe Abb. 1). Die Verwertungsrechte aus dem künstlerischen Schaffen werden über eine GmbH abgewickelt, deren Gesellschafter die Musiker des Orchesters sind. Hierin zeigt sich der Erhalt ihrer Tradition einer basisdemokratischen Einheit, bei der alle Mitglieder an den Aspekten ihres Schaffens teilhaben. Des Weiteren gibt es für spezielle soziale Projekte eine GmbH, die deren Abwicklung übernimmt.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung)

Organisationsstruktur Berliner Philharmoniker.

Die Finanzierung und Haftung der Trägerschaft Stiftung Berliner Philharmoniker liegt indirekt bei der Senatskammer Berlin. Mit einem Budget von 13,3 Mio. € pro Jahr teilfinanziert Berlin das Orchester. Dies ist allerdings nur ein Bruchteil des nötigen Gesamtbudgets. Ein Großteil wird vom Orchester selbst erwirtschaftet.

3 Vision eines digitalen Konzerterlebnisses

Im Zentrum des Werteangebotes der Berliner Philharmoniker steht eine erlesene Klangkultur mit dem Anspruch „ein Symbol für Exzellenz“ (Koch 2014, S. 256) zu sein. Regelmäßig finden sich die Berliner Philharmoniker in der Top-Auswahl der weltbesten Klassik-Orchester wieder. Damit ist das künstlerisch wichtigste Erzeugnis für die Philharmoniker der klassische Konzertbetrieb, welcher sich von Auftritten in der Philharmonie, über Konzertreisen, bis hin zu Sonderkonzerten erstreckt. Darüber hinaus werden sie auch für Radio- und Fernsehübertragungen engagiert. Der Verkauf von physikalischen Medien wie CDs und DVDs werden sowohl über den Einzel- und Onlinehandel als auch über einen eigenen Onlineshop durchgeführt. Über die Einnahmen aus Übertragungen und Medienverkäufen wird bis zu 60 % des Jahresbudgets erwirtschaftet. Jedoch zeichnete sich im Zuge der Digitalisierung der Musikmedien ein dramatischer Rückgang der klassischen Mediennutzung ab. Von diesem Branchentrend waren auch die Berliner Philharmoniker unmittelbar betroffen.

„In 2008 haben wir sehr deutlich gesehen, wie die CD- und die DVD-Geschäfte heruntergehen und die Fernsehsender das Angebot an Fernsehslots reduzieren. […] Wir haben gemerkt, dass wir selbst etwas unternehmen müssen. Von außen kommt niemand der uns hilft.“ (CEO, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Ein Wachstum mithilfe der bisher zur Verfügung stehenden Medien war nur schwer realisierbar. Für die Übertragung von Live-Konzerten geeignete Fernsehslots wurden über die Jahre weniger und für ein Orchester finanziell immer unattraktiver. Zusätzlich wurde das Interesse der Plattenfirmen an der Aufnahme eines symphonischen Repertoires zugunsten von Produktionen mit Stars geringer. Darüber hinaus waren dem Wachstum im Kerngeschäft der Philharmoniker, dem Live-Auftritt des Orchesters, physische Grenzen gesetzt. Pro Saison geben die Philharmoniker 145 Konzerte. Der Großteil davon (etwa 90 Konzerte) findet in Berlin statt. Die übrigen Konzerte werden auf Tourneen und Festivals gegeben. Dazu gehören unter anderem die Osterfestspiele Baden-Baden, die Salzburger Festspiele und die BBC Proms London. Tourneen gehen nach Asien (Japan, Korea, China), Nordamerika (New York) und durch Europa. Regelmäßig sind die Konzerte ausverkauft. Da der Platz in einem Konzertsaal limitiert und eine Erhöhung der Anzahl der Konzerte nur schwer realisierbar ist, bestanden im klassischen Konzertbetrieb physische Wachstumsgrenzen.

Um diese Barriere zu überwinden, mussten neue Kommunikations- und Distributionskanäle aufgebaut und etabliert werden, was in der Entwicklung der DCH mündete. Für die Entscheidung zur Entwicklung der DCH maßgeblich war ein Ereignis auf der Asien Tournee 2005Footnote 3. Bei einem Auftritt in Taiwan wurde das Konzert auf einen Platz vor dem Konzertsaal übertragen, auf dem mehrere zehntausend junge Klassikinteressierte das Konzert live verfolgten.

„Das Orchester spielte in einem Pagoden-artigen Saal mit 2000 Besuchern. Ein normales Konzertpublikum: schwarzer Anzug, weißes Hemd. Hinten im Saal gab es eine einzelne Totale. Das Signal wurde auf die Plätze vor dem Konzertsaal übertragen. Nach dem Konzert ist das Orchester rausgegangen und hatte auf einmal 20.000 junge Leute vor sich. […] Da haben die Musiker natürlich gesagt: […] [D]iese Leute erreichen wir gar nicht. Wir müssen irgendwas schaffen um diese Menschen auch zu erreichen.“ (CEO, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Dieses Erlebnis wird als ein „Tipping-Point“ (CEO, Berlin Phil Media GmbH, 2015) bezeichnet. Den Philharmonikern wurde bewusst, dass neue Distributionskonzepte notwendig sind, um das Potential, das insbesondere im asiatischen Markt besteht, auszunutzen. Zwischen 2006 und 2008 entwickelten die Berliner Philharmoniker eine Vision und ein Umsetzungskonzept für einen neuen digitalen Distributionskanal. Die Konzeptionsentwicklung und Umsetzung wurde von einem ehemaligen Unternehmensberater, dem heutigen CEO der Berlin Phil Media GmbH betreut. Die Entwicklung erfolgte in der Erwartung, dass die Zukunft der digitalen Musikdistribution nicht von den Major Labels wie Universal, Warner oder Sony, sondern von Streaming Services (z. B. YouTube), Download Services (z. B. iTunes), dem online Handel (z. B. Amazon) und den Entwicklungen im Markt für Kommunikations- und Unterhaltungselektronik (z. B. Apple, Samsung, Sony) geprägt sein würde.

Kern der digitalen Vision der Philharmoniker ist ein virtueller Konzertsaal, die DCH, als Metapher für eine Internetplattform für die Distribution digitaler Inhalte. Die Plattform sollte es ermöglichen Live-Konzerte weltweit erlebbar zu machen, ein Archiv mit Konzertaufnahmen für Fans und Bildungszwecke bereitzustellen und sich über soziale Medien stärker mit den Fans der Berliner Philharmoniker zu vernetzen. Als Eckpunkte der digitalen Vision wurden definiert:

  • Die Umsetzung der DCH als Streaming-Plattform, die technisch auf dem neusten Stand ist und über ein selbstständiges und attraktives Erscheinungsbild verfügt,

  • das Erschaffen eines audiovisuellen Erlebnisses für die Sinne,

  • eine Ton- und Bildqualität, die selbst die anspruchsvollsten Nutzer zufrieden stellt,

  • Aufnahmen und Live-Übertragungen von Konzerten, die weder Orchester noch Publikum stören,

  • die Übertragung des Konzertprogramms der gesamten Saison,

  • die Erhöhung des Bekanntheitsgrades der Berliner Philharmoniker,

  • sicheres Streaming,

  • keine Download-Möglichkeit für digitale Inhalte und

  • das Angebot exklusiver Inhalte (im Gegensatz zu freien Inhalten), für die Nutzer bereit sind zu zahlen.

4 Digitale Transformation der Berliner Philharmoniker

Die Philharmoniker haben sich entschieden, die Transformation ihrer Konzerte in digitalen Content sowie dessen Distribution weitestgehend, unabhängig von bestehenden Medienplattformen, in die eigene Hand zu nehmen. Für diesen Wandel galt es die Berliner Philharmoniker zu rüsten. Einerseits durch Ressourcen in finanzieller Form, welche die Anfangsinvestitionen abdecken sollten, ohne Risiken für die Stadt Berlin aufzubauen. Andererseits in organisatorischer Form, um den Veränderungen im Markt flexibel begegnen zu können. Es galt den Umsatzeinbruch am Klassikmarkt zu kompensieren, die Marke Berliner Philharmoniker in ihrer Präsenz zu stärken und dabei die bisherigen Qualitätsansprüche zu halten.

Abb. 2 stellt wichtige Entwicklungsmeilensteine der DCH dar. Im Jahr 2008 wurde die Deutsche Bank als langjähriger Sponsor der Berliner Philharmoniker für das Projekt der virtuellen Konzerthalle gewonnen. Im selben Jahr wurden dem Rat der Stiftung Berliner Philharmonie und der Deutschen Bank das Konzept für die virtuelle Konzerthalle vorgestellt, die zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Namen Electronic Concert Hall geführt wurde. Für den virtuellen Konzertsaal sollte derselbe Qualitätsanspruch wie für den physischen gelten: die Perfektion des audiovisuellen Konzerterlebnisses. Hier sollte die Electronic Concert Hall ein neues Produktangebot, in Form eines Streaming-Portals zur Übertragung von Live-Konzerten und zum On-Demand-Abruf, schaffen.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Entwicklungsmeilensteine der DCH.

Im Dezember 2008 wurde die erste Generation der virtuellen Konzerthalle als Flash-Webseite unter dem Namen DCH veröffentlicht. Im Bereich der Streaming-Server entschied man sich für den Adobe Flash Media Server mit dem Real Time Messaging Protocol (RTMP). Als Content-Delivery-Netzwerk wurde Limelight eingesetzt. Die entwickelte Lösung ermöglichte das Streaming von 720p Videos (h264) in 3 Streams mit einer Bitrate zwischen 700 und 2100 kbit/s. Als Audiokompressionsverfahren wurde auf AAC im Stereoformat mit einer Bitrate zwischen 128 bis 320 kbit/s eingesetzt.

Aufgrund von Einschränkungen in der Erweiterbarkeit der Webseite und Problemen bei der Gewährleistung einer weltweit einheitlichen Nutzererfahrung beim Live-Streaming wurden 2010 sowohl das Frontend als auch das Backend grundlegend überarbeitet. Die Webseite wurde auf der Basis von HTML5 grundlegend neu entwickelt. Darüber hinaus wurden offene Programmierschnittstellen (APIs) in das Backend integriert, um das Frontend zu entkoppeln. Dies schuf langfristig gesehen die Möglichkeit der Integration weiterer Frontend-Apps wie die in dieser Zeit aufkommenden Smart-TVs, Smartphones und Tablets. Auch die Streaming-Technologie hatte sich weiterentwickelt und so wechselte man zum heute standardmäßig eingesetzten und von Apple entwickelten HTTP-Streaming Protokoll HLS, welches den HTTP Standard nutzt, und so größtmögliche Flexibilität schaffte.

Nach intensiven Tests verschiedener Content-Delivery-Netzwerke (CDN), welche beispielsweise einen Video-Stream von einem zentralen Media Server aus replizieren und an verschiedenen geographischen Orten zur Verfügung stellen können, entschied man sich zunächst für eine am Markt verfügbare CDN-Lösung. Die weltweite Auslieferung von sehr langen HD-Videos verursachte jedoch weiterhin Nachladeprobleme (Caching-Probleme). Häufige Nutzerbeschwerden waren die Folge. In Zusammenarbeit mit einem Advanced Consulting Partner von Amazon Web Services entschied man sich daher zur Entwicklung einer eigenen CDN-Lösung. Die gesamte Video-Bibliothek (ca. 3 Terabyte, Stand: 24.05.2016) wurde von einem zentralen Speicherort aus auf Cloud-Server-Instanzen mit dem Adobe Media Server in allen Kontinenten verteilt und ist daher schnell abrufbar. Je nach Nachfrage kann die Performance skaliert werden. Ein automatischer Bandbreitenwechsel für die Übertragung ist möglich. Die gesamte Implementierung dauerte weniger als einen Monat und löste die bis dahin bestehenden Probleme. Alle Video-Streams konnten nun verschlüsselt in hoher Auflösung (1080i Video, 256 kbit/s Audio) angeboten werden.

Mitte 2010 erschien die DCH als Smart-TV-App für Sony Fernseher. Smart-TVs weiterer Hersteller folgten später. Um das starke Wachstum im Smartphone-Markt auszunutzen, wurde 2013, zunächst nur für das mobile Betriebssystem iOS von Apple, die erste Smartphone-App veröffentlicht. Eine App für das mobile Betriebssystem Android von Google folgte 2014. Heute ist die DCH für alle relevante stationäre und mobile Betriebssysteme verfügbar, darunter: Android, iOS, Amazon Fire TV, Apple TV, Android TV und Windows 10.

5 Reorganisation und Kompetenzaufbau für die digitale Transformation

Die Planung und Umsetzung der DCH erforderte den Aufbau neuer Organisationsstrukturen, einen umfangreichen Ausbau der technischen Infrastruktur sowie die Aneignung von Kompetenzen im Bereich digitaler Technologien für das Marketing, die Distribution und die Produktion digitaler Inhalte.

5.1 Organisatorische Veränderungen

Um das Konzept der virtuellen Konzerthalle umsetzen zu können, war die Gründung einer rechtlich und technisch eigenständigen Organisationseinheit, der Berlin Phil Media GmbH, notwendig. Erstens war ein gewinnorientiertes Geschäftsmodell, das mit der DCH verfolgt wurde, innerhalb der Stiftungsstrukturen nicht umsetzbar. Zweitens war es aufgrund der Dynamik im Musikmarkt und der hohen Veränderungsgeschwindigkeit im Technologiebereich wichtig, Entscheidungsfreiräume bezüglich der Personalplanung und Mittelverwendung zu schaffen sowie Entscheidungswege kurz zu halten, um flexibel auf Veränderungen reagieren zu können. Die GmbH sollte agiles Handeln ermöglichen und eine Startup-ähnliche Atmosphäre bieten:

„Diese Tochtergesellschaft [Anm.: die Berlin Phil Media GmbH] muss nach völlig anderen Regeln ticken. Die muss eigentlich wie ein Start-Up funktionieren. […] Deshalb ist es auch ganz gut, dass wir hier angefangen haben und nicht in der Philharmonie. Wir haben hier eine ganz andere Art der Zusammenarbeit, völlig andere Aufgaben, völlig andere Geschwindigkeiten in denen wir agieren.“ (CEO, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Drittens sollte das Haftungsrisiko für die Stiftung möglichst geringgehalten werden. Negative Erfahrungen aus zurückliegenden städtischen Projekten mit Kulturbetrieben wie dem Tempodrom, waren hier prägend. Eine Bezuschussung der Berlin Phil Media GmbH aus Stiftungsmitteln kam daher nicht infrage. Durch die Gründung einer GmbH wurde dem Problem des Haftungsrisikos innerhalb der Trägerschaft Rechnung getragen. Die Finanzierung wurde mit Mitteln des langjährigen Hauptsponsors Deutsche Bank sichergestellt. Die Deutsche Bank steht seit mehr als 25 Jahren in einem engen partnerschaftlichen Verhältnis mit den Berliner Philharmonikern. Von dem Konzept des Digitalisierungsvorhabens ließ sich die Großbank überzeugen und sagte im Jahr 2008 eine Geldleistung für die Stiftung zu, um das technologische Equipment und die Anschubfinanzierung zu sichern. Dieses Sponsoring sicherte die Finanzierung bis zum Jahr 2016Footnote 4. Nach der Gründung wurden die für den Geschäftsbetrieb erforderlichen Leistungsschutzrechte für digitale Produkte von der Verwertungsgesellschaft auf die neue Gesellschaft übertragen.

Die Berlin Phil Media GmbH wurde in einem Büro außerhalb der Berliner Philharmonie angesiedelt, das in seiner Innenarchitektur die Merkmale eines Startups aufweist. Eine offene Raumgestaltung ermöglicht kurze Kommunikationswege und gewährleistet Transparenz über das Unternehmensgeschehen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung für die Umsetzung der DCH konnten die Berliner Philharmoniker jedoch auf keine ausreichenden Erfahrungen in Produktion und Distribution digitaler Inhalte zurückgreifen. Digitale Kompetenzen – bspw. in den Bereichen Hosting, Content-Delivery-Netzwerke, Web- und App-Entwicklung oder Social-Media-Marketing – mussten durch gezielte Personalakquise und -entwicklung zunächst aufgebaut werden.

Der erste Schritt wurde mit der Einstellung eines Chief Technology Officer (CTO) vollzogen, der die Umsetzung der IT-Strategie übernahm. Die Innovationskultur der Berlin Phil Media GmbH äußert sich in der Ausweitung der internen Kompetenzen. Anfänglich mit dem Einkauf fertiger IT-Produkte betraut, wurde die Position des CTO im späteren Verlauf zum strategischen Projektmanagement der Projekte ausgebaut, welche mit verschiedenen Dienstleistern durchgeführt wurden. Schrittweise, entsprechend der technologischen Entwicklung des Unternehmens, wurden neue Positionen geschaffen und Aufgabenfelder ausgeweitet. Jedem Mitarbeiter ist ein Bereich zugeordnet, in dem er sowohl operative Erfahrung sammelt als auch Entscheidungskompetenz besitzt, was zu einer direkten Feedback-Kopplung von Planung, Umsetzung und Erfahrung führt. Diese Entscheidungsfreiheit wird durch die Gestaltung der Arbeitsumgebung begünstigt.

6 Kompetenzaufbau in der Medienproduktion

Die Produktion des digitalen Konzerterlebnisses wird als das infrastrukturelle Kernprojekt der Transformation betrachtet. Ohne eine hochwertige Digitalproduktion der Konzerte, dem eigentlichen Produkt, ist eine erfolgreiche, weltweite Distribution, welche dem Anspruch der Philharmoniker gerecht wird, nicht denkbar. Das Ziel ist es, die Aufführungen audiovisuell möglichst authentisch und in ihrer gesamten Dynamik über digitale Kanäle erlebbar zu machen. Drei Kriterien waren für die Digitalproduktion im Konzertsaal innerhalb der Philharmonie entscheidend:

  • ein störungsfreier Konzertbetrieb während der Aufnahmen,

  • die Möglichkeit zur Fernsteuerung der Kameratechnik und

  • eine authentische Aufnahme des Konzerts in Bild, Klang und Dynamik.

Dass bereits die entsprechenden Räumlichkeiten innerhalb der Philharmonie vorhanden waren, stellte sich als glücklicher Zufall heraus und war der planerischen Voraussicht des Dirigenten Herbert von Karajan zu verdanken, welcher maßgeblich die bauliche Struktur der Anfang 1960 neugebauten Philharmonie beeinflusste. Diese Möglichkeit der Integration der Content-Produktion in das Konzerthaus stellt sich heute als wichtiger Wettbewerbsvorteil heraus, da nicht viele Konzerthäuser über diese Räumlichkeiten verfügen.

Um eine kontinuierliche Videoproduktion der Konzerte zu ermöglichen, musste ein Kamera-Setup gefunden werden, das fest in den Konzertsaal integrierbar ist und dennoch Bewegungsspielraum für Choreographien und eine Bildsprache zulässt. Den Anforderungen des Orchesters entsprechend, sollten die Kameras unauffällig, klein und leise sein, durften niemanden störend, mussten mit den bestehenden Lichtquellen auskommend und fernsteuerbar sein. Bei den sonst üblichen Fernsehproduktionen ist weitaus mehr Licht im Saal verfügbar. Es stehen Kameramänner vor dem Orchester, zusätzlich werden Monitore aufgebaut, was zu einer „[…] völlig anderen Konzertatmosphäre“ (CEO, Berlin Phil Media GmbH) führt. Dies galt es in jedem Fall zu vermeiden. Demzufolge wurden verschiedene Kameratechnologien evaluiert. Die Remote-Köpfe und Kameras verschiedener Hersteller wurden bestellt und intensiv hinsichtlich der genannten Kriterien getestet. Zu Beginn eingesetzte Kameralösungen, wie sie in Plenarsälen üblicherweise Verwendung finden, wurden den Ansprüchen der Philharmonie nicht gerecht, da die Mechanik zu laute Geräusche erzeugte. Man entschied sich daher für eine softwarebasierte Kameratechnik.

Um die Kamerasensoren mit ausreichend Licht zu versorgen, wurden im Konzertsaal diverse Scheinwerfer installiert, welche sich vom Lichtstudio aus mit Blick in den Konzertsaal steuern lassen, während sich die aktuellen Kamerabilder und Messparameter auf Bildschirmen in Echtzeit mitverfolgen lassen. Diese Einrichtung mit der Möglichkeit der Feinabstimmung ermöglicht eine passende Belichtung und trägt zur hohen Qualität der Aufnahmen bei.

Das Tonstudio innerhalb der Philharmonie ist das Herzstück der Analog–Digital-Umwandlung des Konzerterlebnisses. Dieses war bereits vor der digitalen Transformation Bestandteil der Philharmonie und wurde für die Produktion mit dem Video-Studio verknüpft. Im Video-Studio der Philharmonie laufen die Audio- und Videodatenströme zusammen. Auf mehreren Bildschirmen sind die verschiedenen Livebilder der Kameras zu sehen. Während einer Konzertaufnahme arbeitet ein sechsköpfiges Regieteam zusammen, um ein zuvor festgelegtes Drehbuch, gemäß der Partitur des Konzertstückes, in einen Videoschnitt umzusetzen. Für jede Konzertübertragung ist ein Team im Vorlauf ca. dreieinhalb Tage beschäftigt. Es wird abwechselnd mit sechs Teams auf freiberuflicher Basis zusammengearbeitet. So kann auch ein etwaiges Risiko für Personalausfälle erheblich reduziert werden. Über vorprogrammierte Positionen und Abläufe der Kameras sind einfache Bildwechsel wie Zoom, Schwenken oder Fahrten möglich. Im Gegensatz zu der oft hohen Bildwechseldynamik der Fernsehaufzeichnungen mit mobilen Fernsehkameras ist die Kameraführung für Produktionen der DCH vergleichsweise statisch. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Aufnahmetechnik im Saal fest installiert ist und sich teilweise nur vor der Aufnahme bewegen und einstellen lässt. Für die Filmaufnahmen der Philharmonie-Konzerte mit dem statischen Kameraaufbau musste vom Regieteam unter der Federführung der Leiterin der Videoproduktion eine ganz neue Bildsprache entwickelt werden, welche als ein eigenes Charakteristikum der DCH wahrgenommen wird.

Die fertig geschnittenen Videosequenzen werden auf Servern innerhalb der Philharmonie gespeichert und codiert. Bei Live-Übertragungen werden die Videodaten direkt, über das Internet und ein proprietär entwickeltes Content Delivery Network (CDN), den verschiedenen DCH-Applikationen wie den Smartphone-Apps oder der Website als Live-Stream zur Verfügung gestellt. Zur Nachbearbeitung und zum Upload in das DCH-Archiv werden die Aufnahmen im Nachgang der Konzertaufnahme der Berlin Phil Media GmbH zur Verfügung gestellt.

6.1 Kompetenzaufbau in der Mediendistribution

Die Content-Produktion in der Philharmonie verläuft in enger Abstimmung mit der Content-Distribution auf Seiten der Berlin Phil Media GmbH. Die von der Philharmonie gelieferten, fertigen Video-Streams müssen weltweit unterbrechungs- und störungsfrei über das Internet abrufbar sein. Bei Live-Konzerten kommt erschwerend hinzu, dass die Übertragung mit möglichst geringer Verzögerung erfolgen muss, um das Live-Erlebnis zu garantieren.

Zu Projektbeginn wurde die Entscheidung getroffen, die fehlenden Software- und Systementwicklungskompetenzen extern zuzukaufen. Eine Full-Service-Agentur wurde mit der Entwicklung des Backends und des Frontends der DCH einschließlich der Bezahlungsabwicklung beauftragt. Nach der Veröffentlichung der ersten Version der DCH im Dezember 2008 zeigte sich, dass die entwickelte Lösung den Flexibilitätsanforderungen der Berlin Phil Media GmbH nicht gerecht werden konnte. Änderungen am System konnten nur durch die Agentur vorgenommen werden. Man war durch die Single-Sourcing-Strategie in eine einseitige Abhängigkeit geraten. Zudem war die Portierung der DCH auf mobile und stationäre Endgeräte in Form von Apps nur schwer umzusetzen. Darüber hinaus war die Content-Übermittlung an Regionen in Übersee, wie beispielsweise Australien, während eines Live-Streams nicht unterbrechungsfrei möglich, was zu häufigen Beschwerden seitens der Kunden führte.

Nach den Erfahrungen, die mit der ersten technischen Umsetzung der DCH gesammelt wurden, erfolgte eine Zäsur. Nach etwa eineinhalb Jahren wurde die Zusammenarbeit mit der Full-Service-Agentur beendet. Eine neue Lösung sollte von Grund auf neu konzipiert und umgesetzt werden. Die Erfahrungen aus dem ersten Entwicklungsanlauf prägten das weitere Vorgehen maßgeblich und hatten einen großen Einfluss auf die Technologieauswahl, das Projektmanagement und die Ausgestaltung der Kooperationsbeziehungen mit externen Partnern. Man entschied sich für einen Multi-Sourcing-Ansatz mit verschiedenen spezialisierten, externen Partnern.

Die Entwicklung der Backend-Systeme, des Web-Frontends, der iOS-App, der Android-App, der TV-Apps und das Aufsetzen der Web-Server wird jeweils von unterschiedlichen Agenturen durchgeführt. Das IT-Projektmanagement verantwortete dieses Mal die Berlin Phil Media GmbH. Eine dezentrale Entwicklung, ein kontinuierliches Monitoring des Projektfortschritts, eine transparente Projektkoordination und die Multi-Sourcing-Strategie haben beherrschbare Abhängigkeitsstrukturen geschafft und ermöglichen zudem einen Wissenstransfer hin zur Berlin Phil Media GmbH. Über eine zentrale Chatplattform können sich die Entwickler der externen Agenturen austauschen. Die Dokumentation aller Diskussions- und Entscheidungsprozesse erfolgt zentral bei der Berlin Phil Media GmbH. Auf Meetings und Emails wird möglichst verzichtet. Um Aufträge zu delegieren und Projektfortschritte messen zu können, werden Aufgaben als priorisierte Tickets in Auftragsbüchern abgelegt, welche in definierten Produktversionszyklen, sogenannten „Sprints“, abgearbeitet werden. Diese agilen Methoden helfen der Berlin Phil Media GmbH, ein effizientes IT-Projektmanagement zu betreiben und einem kontinuierlichen Deployment, d. h. einer schnellen und schrittweisen Weiterentwicklung bestehender Produkte mit kurzen Release-Zyklen, näher zu kommen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, alle Apps auf einem einheitlichen Leistungsniveau zu halten, um über alle Endgeräte und Plattformen hinweg eine konsistente Nutzererfahrung zu gewährleisten.

Mit externen Agenturen wurden durch den Einkauf langfristiger Entwicklungskapazitäten strategische Entwicklungspartnerschaften etabliert. Die langfristige Zusammenarbeit mit den externen Partnern hat bewirkt, dass sich diese als Product-Owner wahrnehmen und sich aktiv in die kreative Lösungsfindung einbringen. Dem Risiko eines Know-how-Verlustes wird durch einen aktiven Wissenstransfer von den Entwicklern zurück in die Projektplanung sowie durch die langfristigen Partnerschaften mit den Agenturen entgegengewirkt.

6.2 Kompetenzaufbau im digitalen Marketing

Unabhängig von der Branche spielen soziale Medien eine immer wichtigere Rolle im Marketingmix von Unternehmen. Auch im klassischen Kulturbetrieb sind soziale Medien inzwischen ein fester Bestandteil des Marketing. Kultureinrichtungen sind bestrebt, neue Kommunikationsmittel zu nutzen und mithilfe neuer Medien insbesondere die internetaffinen Nutzer anzusprechen.

Um sich stärker mit den eigenen Fans zu vernetzen, bestehende und potentielle neue Kunden gezielt anzusprechen und das neue Angebot weltweit bekannt machen zu können, waren die Philharmoniker darauf angewiesen, digitale Kommunikationskanäle für das Marketing aufzubauen. Im Gegensatz zum klassischen Marketing über Printmedien verfügten die Philharmoniker zunächst über keine Erfahrungen im digitalen Marketing. Der Aufbau eines erfolgreichen digitalen Marketings stellte jedoch nicht allein aufgrund dieser fehlenden Erfahrungen, sondern insbesondere wegen der speziellen Anforderungen an die Außendarstellung eine Herausforderung dar.

Zum einen sollte verhindert werden, dass die DCH bei Fans und Musikinteressierten als eine eigenständige Marke wahrgenommen wird. Die DCH soll als zusätzlicher Kanal dienen, über den Bestandskunden und potentielle Neukunden mit den Berliner Philharmonikern in Kontakt treten können:

„Wir treten ja nicht als Berlin Phil Media und auch nicht als DCH auf, sondern als Berliner Philharmoniker. Die DCH ist keine eigene Marke und hat auch keinen eigenen Wert ohne die Berliner Philharmoniker. Unser Anliegen ist, dass wir die Technik [Anm.: die DCH], die dazwischengeschaltet ist, vergessen machen, dass man ein möglichst authentisches Erlebnis hat und nicht andauernd denkt: Ich bin hier auf einer Videoplattform unterwegs.“ (CMO, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Zum anderen muss die Außendarstellung dem basisdemokratischen Grundprinzip der Berliner Philharmoniker Rechnung tragen. Entscheidungen werden nicht von legitimierten Gremien oder Orchestervorständen getroffen, sondern stets von den 128 gleichberechtigten Musikern als Ganzes. Dieses Prinzip ist Ausdruck der Marke geworden, an den sich Art und Inhalt der Kommunikation anpassen müssen:

„Unsere Aufgabe [Anm.: des Marketings] ist es nicht, eine neue Attitüde für unser Orchester zu erfinden, sondern die Attitüde, die das Orchester hat, die muss transferiert und in eine digitale Kommunikation übersetzt werden. Man muss in dieses Orchester hineinhorchen, denn das Orchester besteht aus 128 sehr starken Charakteren. Da eine Synthese herzustellen, den kommunikativen Kern des Orchesters zu identifizieren, ist fordernd und muss jeden Tag neu gemacht werden.“ (CMO, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wurde ein neues Corporate Design geschaffen, das sich sowohl auf der Orchester-Homepage als auch in der DCH wiederfindet. Das Logo findet sich einheitlich auf gelbem Untergrund wieder und wurde trotz der Neuausrichtung nicht verändert, um den Wiedererkennungswert und damit die Identität des Orchesters zu wahren. Das Design findet sich in allen Social-Media-Kanälen wieder und soll die Einheit des Orchesters widerspiegeln. Weiterhin wurde die Orchester-Homepage sowie die Benutzeroberfläche der DCH angeglichen. Ziel der neuen Markengestaltung war es, die DCH direkt an den großen Namen zu knüpfen und sie hinter die Marke zurücktreten zu lassen. Sie fungiert lediglich als technischer Enabler für ein möglichst authentisches Konzerterlebnis. Diese Verknüpfung spiegelt sich auch im Streaming-Angebot der DCH wider, das sich inhaltlich exakt an den Darbietungen der Philharmoniker orientiert:

„Die inhaltlichen Entscheidungen werden drüben [Anm.: bei den Philharmonikern] gefällt. Die Berliner Philharmoniker sind unter anderem deswegen ein so gutes Orchester, weil sie die Musik spielen, die sie selbst interessiert und herausfordert. Insofern ist es [Anm.: die DCH] inhaltlich ein relativ unflexibles Produkt. Wir [Anm.: die Berlin Phil Media GmbH] können zum Beispiel nicht sagen: ein halbes Jahr spielen wir hier jetzt nur Mozart und Bach, weil das für den Einstieg eben leichter ist.“ (CMO, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Eine Adaption des über die DCH beworbenen und abrufbaren Repertoires an spezielle Kundenwünsche erfolgt nicht. Eine Strategie, welche eine Marktsegmentierung vornimmt, um Absatzmärkte etwa nach Bedürfnissen in bestimmte Kundengruppen zu segmentieren, ist somit nicht nötig. Die Kommunikationsstrategie folgt diesem Ansatz, indem wiedergegeben wird, was das Orchester produziert. So werden in allen Regionen die gleichen Orchesteraufnahmen veröffentlicht, um der Zuhörerschaft ein einheitliches Musikerlebnis zu vermitteln.

Über die digitalen Kanäle wird sehr neutral und wenig personenbezogen kommuniziert. Ziel ist es, eine professionelle Distanz gegenüber dem eigenen Angebot zu wahren:

„Wir haben eine Form der Ansprache entwickelt. Zum Beispiel schreiben wir nur im Ausnahmefall „We“. Wir schreiben meistens relativ unpersönlich. Wir lassen grundsätzlich die Musik für die Berliner Philharmoniker sprechen und nicht so sehr die Worte.“ (Director of Cooperations and Social Media, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Die Kommunikation ist vorwiegend nonverbal. Auf Facebook werden Konzertmitschnitte genutzt, um Botschaften an die Adressaten zu übermitteln. Diese werden dann mitunter tausendfach gelikt, kommentiert sowie mit Freunden geteilt und erzielen eine hohe Reichweite.

„Zum einen sind auf Facebook natürlich die Musik und das Bild extrem im Fokus, nicht so sehr die Sprache. Generell ist Sprache für uns eine Herausforderung, weil es schwierig ist, etwas Persönliches über eine Institution zu sagen, ohne anbiedernd zu sein und ohne die Distanz, die auch zur Institution gehört, aufzugeben.“ (Director of Cooperations and Social Media, Berlin Phil Media GmbH, 2015).

Die Adressaten des digitalen Marketings sind auf der ganzen Welt verteilt. Lediglich 20 % der DCH-Nutzer kommen aus Deutschland, 15 % der Nutzer verteilen sich jeweils auf Japan und die USA, 50 % auf den Rest der Welt (185 Länder). Aufgrund von kulturellen Unterschieden können Nachrichten, die über soziale Netzwerke verbreitet werden, in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Die Neutralität in der Kommunikation hilft dabei, mit dem selben Kommunikationsinhalt, unabhängig vom kulturellen Hintergrund des Adressaten, die selbe Botschaft zu übermitteln.

Um Fans auf der gesamten Welt miteinander in Kontakt zu bringen, betreibt die Berlin Phil Media GmbH lediglich ein internationales Facebook- und Twitter-Profil. Den Social-Media-Kanälen gemeinsam ist die Sprache Englisch. Einzige Ausnahmen bilden der japanische Facebook- und Twitter-Account, die vor allem aufgrund der Unterschiede in den Schriftzeichen aufgebaut wurden.

Jeder neue Marketingkanal wird einem kritischen Prüfprozess unterzogen, bevor der Kanal bedient wird. Die Langfristigkeit, mit welcher die Berliner Philharmoniker in ihrer Geschichte stets agiert haben, wird auch hier deutlich. Zum Markenbild zählt ein langfristiges Commitment, das kurzfristige Testläufe in Kanälen wie etwa Snapchat untersagt. Dies hat den Vorteil, dass sich das dreiköpfige Social-Media-Team auf wenige Kanäle konzentrieren und dort Expertise aufbauen kann. Die oben beschriebene eigene Form der Kundenansprache etwa konnte nur dadurch entwickelt werden, dass man die wenigen Ressourcen effizient auf wenige Kanäle verteilt hat. Denn auch Anzeigen, Kooperationen, Kinoübertragungen und Reisen mit dem Orchester werden neben den Social-Media-Aktivitäten von diesem Team beworben. Ein ständiger Wechsel zwischen Kanälen oder eine unprofessionelle Nutzung dieser könnte das Vertrauensverhältnis zu den Kunden gefährden und die Marke Berliner Philharmoniker beschädigen.

Neben der Frage, welche Kanäle genutzt werden, um die Kundenbindung nicht zu gefährden, geht es auch um die Frage, wie ein vertrauensvoller Umgang mit Kunden innerhalb der Kanäle erreicht werden kann. Sämtliche Aktivitäten in den sozialen Medien werden sehr transparent gestaltet. Datenschutzbestimmungen werden kontinuierlich überarbeitet, um die Aktivitäten für alle verständlich und nachvollziehbar zu machen. Die Integrität wird vom gesamten Team gelebt, indem es nicht um die Frage geht, was technisch möglich ist, bspw. Kunden über Browser-Fingerprinting zu verfolgen oder mit Remarketing und Retargeting gezielt auf anderen Webseiten zu identifizieren und anzusprechen. Es geht darum, abzuwägen, wie der Vertrauensvorschuss und die Identität der Berliner Philharmoniker auch in den sozialen Medien gelebt werden kann. Viele der Kunden suchen gezielt den persönlichen Kontakt über die Marketingkanäle zur Organisation. Mit einem Identitätsverlust wäre gerade dieses Vertrauensverhältnis gefährdet.

Der erfolgreiche Aufbau einer aktiven Fan-Community rund um die Berliner Philharmoniker belegt den Erfolg des digitalen Marketings. Seit 2009 wird aktiv auf soziale Medien gesetzt. Inzwischen sind die Berliner Philharmoniker in der klassischen Musik die am stärksten vertretene Institution. Tab. 1 zeigt, dass Facebook die wichtigste Social-Media-Plattform der Berliner Philharmoniker ist. Die Seite erreicht über 800.000 Abonnenten mit etwa 4 Mio. Impressionen pro Monat. Die meisten Nutzer befinden sich in den USA und Südamerika. Dabei bildet die Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren mit 22 % die stärkste Nutzergruppe. Vor allem kurze Videoausschnitte mit indirekter Werbung für die DCH mit der Möglichkeit das volle Angebot auf der DCH zu betrachten werden auf Facebook verbreitet. Viele YouTube-Videos werden auf Facebook geteilt, wodurch Traffic von Facebook auf YouTube übertragen wird. Twitter und Facebook teilen weitestgehend denselben Content. Die Wortlimitation auf Twitter bedingt eine angepasste Ansprache. Mit über 100.000 Abonnenten ist Twitter ein weiterer wichtiger Social-Media-Kanal mit etwa 1,2 Mio. Impressionen pro Monat. Auf YouTube werden die Videos in verschiedene Kategorien unterteilt. Neben Hintergrundinformationen zu Komponisten und der DCH finden sich Konzertausschnitte unterteilt nach Solisten, Dirigenten, Komponisten und Saisons wieder. Diese Mitschnitte erreichen mehrere Hunderttausend Aufrufe, was jedoch der Möglichkeit, explizit nach Videos suchen zu können, geschuldet ist. Mit mehr als 120.000 Abonnenten ist YouTube der zweitstärkste Social-Media-Kanal und bildet damit einen wichtigen Einstiegspunkt zur DCH. Auch Nutzer, die nicht explizit nach den Berliner Philharmonikern suchen, werden so auf das Angebot aufmerksam gemacht.

Tab. 1 Übersicht genutzter Social-Media-Kanäle

Der Berlin Phil Media GmbH ist es gelungen über kulturelle Grenzen hinweg eine weltweite Community von Orchesterfreunden aufzubauen. Durch den Austausch wächst die Identifikation mit der Marke und somit die Bindung zu den Kunden.

7 Berliner Philharmoniker Recordings

Im Jahr 2014 erfolgte mit der Berliner Philharmoniker Recordings die Gründung eines eigenen Labels. Damit begeben sich die Berliner Philharmoniker auf einen Weg, den bereits das London Symphony Orchestra im Jahr 2000 mit der Gründung eines CD-Labels beschritten hat. Motiviert wurde dieser Schritt zur vertikalen Integration insbesondere durch den Wunsch einer höheren Kontrolle und damit der Fähigkeit, autonom die Wahl des Repertoires, der Produktausstattung der Vermarktung zu gestalten. Nach der Audio-Visuellen Autonomie, welche mit der DCH erlangt werden konnte, erscheint dies als eine logische Weiterführung des Strebens nach einer hohen Unabhängigkeit.

Die Gründung des eigenen Labels wurde insbesondere durch drei Aspekte ermöglicht und attraktiv, welche im Folgenden aufgezeigt werden. Zunächst ist die veränderte Vertragssituation zu nennen, welche sich aus dem Auslaufen der Exklusivverträge von Sir Simon Rattle bei der EMI (verkauft an Warner International) ergab. Hiermit wurde die Veröffentlichung neuer Produkte über ein eigenes Label erst rechtlich ermöglicht.

Weiterhin hatte sich die Marktsituation geändert. Zu Zeiten von Karajan nahm man über Labels wie „Grammophon“ auf. Damals besaß man ein hohes Mitspracherecht; Platten wurden fast im Wochenrhythmus eingespielt und der traditionelle CD-Markt war die treibende Kraft. In der Zeit danach ist der CD-Markt für klassische Musik jedoch stark geschrumpft und zunehmend unattraktiver für die Major Labels geworden. Die damit verbundene sinkende Bereitschaft, eine hohe Menge an klassischem, symphonischem Repertoire aufzunehmen, führte dazu, dass beispielsweise traditionelle Zyklen von Beethoven, Brahms oder Schumann oft nicht mehr veröffentlicht wurden. Dadurch kann das künstlerische Werk eines Dirigenten jedoch nur noch unzureichend abgebildet werden (Clark 2014), worin sich eine Fremdbestimmung zeigte, welche dem für die Berliner Philharmoniker charakteristischen Drang nach Unabhängigkeit widersprach.

Nicht zuletzt ist die Umsetzung der DCH als Grundlage für die Label-Gründung zu nennen. So ermöglicht jene technologische Infrastruktur, welche für die In-House-Aufnahmen geschaffen wurde, auch die Produktion für das eigene Label. Die neuen Social-Media-Kanäle wiederum erlauben es erstmals, direkt mit dem Endkunden in Kontakt zu treten. Dabei konnte man einen Freundeskreis bzw. eine Internetgemeinde aufbauen, welche global vertreten ist, wodurch ein direkter Kundenkontakt ermöglicht wird. Aus diesen Aspekten lässt sich die Zielsetzung des eigenen Labels ableiten. So möchte man eine klanglich große Linie zeigen, mit Fokus auf dem symphonischen und rein orchestralen Programm. Damit bewegt man sich weg von der Begleit- und Arienorchester-Darbietung, welche von den Major-Labels präferiert werden. Die Aufnahmelücke die man damit füllt, entspricht dem Kernrepertoire des Orchesters. Somit arbeitet man komplementär zu dem Produktangebot der großen Labels. Der Anspruch ist, den künstlerischen Weg mit dem wirtschaftlich Machbaren zu verbinden.

Das neue Konzept ist die Produktion eines Premium-Produktes. Man geht über das Angebot klassischer CD-Editionen hinaus und versucht ein Gesamterlebnis anzubieten indem man das Audiolabel mit dem Audiovisuellen verbindet. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass traditionelle Plastik-CD-Verpackungen ausgedient haben. Um den Kunden für ein analoges Produkt zu gewinnen, muss man eine Begeisterung erzeugen sowie durch eine hohe handwerkliche Qualität überzeugen. Die Produktbox mit aufwendig gestaltetem Cover-Design beinhaltet neben dem Tonträger, welcher optional als Vinyl angeboten wird, zudem hochaufgelöstes Audio- und Video-Material auf einer Blu-ray Disc an, ein Booklet mit Zusatzinformation und Interviews, die Möglichkeit eines Downloads in Studioqualität und einen Testzugang zur DCH. Hierin zeigen sich auch Synergieeffekte zwischen Label und DCH. Damit schafft man ein Produkt, welches insbesondere für Sammler attraktiv ist, während der reine Hörer auf das digitale Produkt zurückgreifen kann.

Die Zielgruppe sind „Feinschmecker“ der klassischen Musik, welche man dank eines nun weltweiten Netzwerkes in großer Anzahl erreichen kann. Für den traditionellen CD-Markt müsste das Produkt günstiger und öfter verkauft werden. Das neue Produkt hingegen wird für einen Preis zwischen 70 und 80 € angeboten. Man schafft es im ersten Jahr 5000 Stück und über die Lebenszeit hinweg 7000 bis 10.000 Stück des neuen Produktes abzusetzen. Die Philharmoniker profitieren von einem Netzwerk an Kontakten, welche über einen Direktvertrieb beliefert werden können. Die Bestellung erfolgt über den eigenen Onlineshop und wird über eine externe Vertriebslogistik abgewickelt. Dabei nutzt man auch Plattformen wie Amazon Market Place oder beliefert Einzelhändler direkt. Für die Erschließung einzelner Märkte, wie Japan und USA, greift man jedoch weiterhin auf externe Distributionsdienstleister zurück. Durch die vertikale Integration durchbricht man die starr herausgebildete Drittelung im CD-Markt für Produzent-Händler-Vertrieb und erhält somit einen höheren Wertschöpfungsanteil. Dies entspricht der Strategie einer Disintermediation.

Neben der neuen, analogen Box werden die Produktionen zudem über digitale Portale wie iTunes angeboten. Man verzichtet jedoch bewusst auf Streaming-Portale wie Spotify. Dies liegt zum einen am Hörerverhalten des Publikums der klassischen Musik, welches sich nicht für eine Vergütung per Aufruf anbietet, zum anderen an der Ablehnung des Orchesters, ein Premiumprodukt in einer freien bzw. werbefinanzierten Form anzubieten, da dies die Wertschätzung für dieses Produkt vermindern könnte.

8 Lessons Learned

Mit ihrem digitalen Transformationsprozess sind die Berliner Philharmoniker neue Wege gegangen und haben mit der DCH erfolgreich eine Plattform für die digitale Verwertung und Vermarktung ihrer Konzerte entwickelt und etabliert. Die Herausforderungen auf die die Philharmoniker während der Initiierung und Durchführung der Transformation gestoßen sind, stehen exemplarisch für die Herausforderungen, mit denen sich Unternehmen anderer Branchen konfrontiert sehen.

Aus den Ergebnissen der Fallstudienanalyse lassen sich die im Folgenden dargestellten vier Schlüsselerkenntnisse ableiten, die als Grundlage für die erfolgreiche Durchführung digitaler Transformationsprojekte dienen können.

8.1 Entwicklung einer digitalen Vision

Sinkende Absatzzahlen für ein Produkt, geringer werdende Gewinnmargen oder der Verlust von Marktanteilen lassen schnell die Erkenntnis entstehen, dass sich ein Unternehmen verändern muss. Diese Erkenntnis ist jedoch kein Garant dafür, dass Veränderungen auch durchgeführt werden. Die Wirkung von Ereignissen wie das der Live-Übertragung eines Konzertes der Berliner Philharmoniker auf der Taiwan-Tournee in den Außenbereich des Konzerthauses zeigt, wie wichtig eine klare Vision für den Erfolg eines Transformationsprojektes ist. Die Konfrontation des Orchesters mit zehntausenden euphorischen Musikinteressierten, die sich die Live-Übertragung des Konzertes angesehen haben, hat die bisher ungenutzten Marktpotentiale für jedes Mitglied des Orchesters greifbar gemacht. Gleichzeitig ergab sich aus der Situation unmittelbar die einfach nachvollziehbare Vision einer regelmäßigen und weltweiten Live-Übertragung von Konzerten der Berliner Philharmoniker. Leicht können Veränderungsvorhaben aufgrund der für deren Umsetzung notwendigen Eingriffe in Organisationsstrukturen, Prozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten auf erhebliche innere Widerstände stoßen. Eine klare Vision kann dabei helfen, diese Widerstände zu reduzieren, indem die von den Veränderungen betroffenen Mitarbeiter gleiche oder ähnliche Vorstellungen über die für die Umsetzung der Vision notwendigen Veränderungsschritte entwickeln (Rafferty et al. 2012).

8.2 Struktureller und kultureller Wandel

Erfolgreiche digitale Transformation erfordert einen tief greifenden strukturellen und kulturellen Wandel. Dabei muss eine Organisation eine Gratwanderung meistern. Es gilt: so geringe Eingriffe wie möglich, so viele und tief greifende wie nötig. Der Aufbau der DCH zeigt, dass Brüche an manchen Stellen wichtig sein können, um die für Veränderungen notwendigen Freiräume zu schaffen. An anderer Stelle waren Brüche zu vermeiden, um Akzeptanz für das Projekt zu gewährleisten.

Die Gründung eines eigenständigen Tochterunternehmens war wichtig, um Entscheidungsspielräume im Personalmanagement, der Budgetverwaltung und den administrativen und operativen Prozessen zu schaffen. Auf diese Weise konnte eine eigene, Startup-ähnliche Unternehmenskultur mit kurzen Entscheidungswegen und flexiblen Arbeitsmodellen entwickelt werden. Darüber hinaus bündelt eine juristisch eigenständige Tochter, wie in diesem Beispiel eine GmbH, das Haftungsrisiko. Eine solche Eingrenzung des Haftungsrisikos kann zu einem „Buy-in“-Effekt bei Kontrollgremien oder dem Management führen. Gleichermaßen ermöglicht es die Bildung eines eigenen Handlungsansatzes.

Im Gegensatz zu den organisatorischen und rechtlichen Brüchen, die mit der Gründung der Berlin Phil Media GmbH gewagt wurden, wurden Brüche in der Außendarstellung vermieden. Durch gezielte Maßnahmen wurde verhindert, dass die DCH bei Fans und Musikinteressierten als eine eigenständige Marke wahrgenommen wird. Die DCH dient lediglich als ein zusätzlicher Kanal, über den Musikinteressierte mit den Berliner Philharmonikern in Kontakt treten können. Auf diese Weise konnte das Identifikationspotential, das mit dem Namen Berliner Philharmoniker verbunden ist, erfolgreich auf das Onlineangebot übertragen werden. Darüber hinaus bleibt das gesamte Produkt- und Serviceangebot der Philharmoniker damit weiterhin auf das musikalische Kernprodukt fokussiert. Dieses Vorgehen war wichtig, um eine hohe Akzeptanz der DCH bei den Orchestermitgliedern zu gewährleisten.

8.3 Partnerschaften suchen und nutzen

Sofern externes Know-how und Entwicklungsleistungen eingekauft werden, ist bei einer Single-Sourcing-Strategie darauf zu achten, dass keine einseitige Abhängigkeit vom Dienstleister entsteht. Die Entwicklung der DCH zeigt, dass sich Unternehmen, die mit einer innovativen Digitalisierungsinitiative technisches Neuland betreten, ein hohes Maß an Flexibilität sowohl in der technischen Realisierung als auch in den Kooperationsbeziehungen anstreben sollten. Anforderungen an die technische Umsetzung eines Digitalisierungsprojektes lassen sich aufgrund der Schnelligkeit und Unsicherheit in der technologischen Entwicklung nicht vollständig vorab spezifizieren. Leicht können veränderte technische Anforderungen technische Kompetenzen erforderlich machen, über die weder das Unternehmen selbst noch einer der externen Kooperationspartner verfügt. Entsprechend müssen neue Umsetzungspartner, die über die gesuchten Kompetenzen verfügen, flexibel in das bestehende Partnernetzwerk eingebunden werden können.

Die Berlin Phil Media GmbH zeigt, wie das Management eines solchen Partnernetzwerks funktionieren kann. Software- und Systementwicklungen müssen von den Partnern kontinuierlich dokumentiert und über ein zentrales IT-Projektmanagement betreut und kontrolliert werden. Eine gemeinsame Plattform zur Ideen- und Entscheidungsfindung ist sinnvoll. Wissen ist somit zentral zugänglich und verschiedene externe Partner können direkt miteinander kommunizieren, wobei die Kommunikation für das Projektmanagement einsehbar ist. Weiterhin besteht die Möglichkeit über „Pair-Programming“ und „Code-Reviews“ Wissen weiterzugeben.

8.4 Digitale Kompetenzen aufbauen

Digitalen Vorreitern liegt die Digitalisierung nicht zwangsläufig in den Genen. Kompetenzen, die kritisch für die Entwicklung und Bereitstellung des digitalen Produkt- oder Serviceangebotes sind, müssen sich viele Unternehmen erst aneignen. Dies kann durch Übernahme von organisatorischer Verantwortung, wie in diesem Fall des IT-Projektmanagements, interne Lernprozesse oder An- oder Abwerbung von Mitarbeitern erfolgen. Der Fall der Berlin Phil Media GmbH zeigt, dass sich digitale Kompetenzen erfolgreich in einem Learning-by-Doing Ansatz entwickeln lassen. Im Zuge der Neugründung und der damit verbundenen personellen Neuaufstellung erlangten die Mitarbeiter der Berlin Phil Media GmbH früh sehr verantwortungsvolle Aufgaben. Entsprechend steil verliefen die Lernkurven dieser Mitarbeiter. Gleichzeitig ermöglichte der intensive Austausch mit externen Partnern einen Wissenstransfer, der dabei half, den durch den Weggang von Kompetenzträgern drohenden Verlust kritischer Kompetenzen aufzufangen.

9 Zusammenfassung

Der Fall der Berliner Philharmoniker hat gezeigt, wie eine traditionsreiche Marke Zukunftstrends erkannt und sich erfolgreich zunutze gemacht hat, indem das analoge Konzerterlebnis digitalisiert und über einen Online-Kanal einem weltweiten Publikum zugänglich gemacht worden ist. Das Vorgehen sollte nicht nur als Anregung für Kulturbetriebe dienen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, sondern auch Unternehmen anderer Branchen als Beispiel dienen, wie sich die Herausforderungen der Digitalisierung meistern lassen. Insbesondere zeigt die Fallstudie, wie eine Ausgliederung aus dem Mutterkonzern jene Freiräume schaffen kann, die für die Umsetzung innovativer Projekte notwendig sind.