1 Einleitung

In der Zeit von Januar 2017 bis Ende 2019 fand das Forschungsprojekt MARGE statt. Gegenstand des Projektes war die Entwicklung von Quartieren und die Frage, wie soziale Innovation evoziert werden kann. Gerade an der Schnittstelle zwischen lokalen Akteur*innen im Quartier, gemeinsam mit Fachkräften aus der Sozialen Arbeit und der öffentlichen Verwaltung. Dabei war die Kernfrage: „Wie beeinflusst grenzüberschreitender Austausch soziale Innovation in Quartieren“ (Becker et al., 2019, S. 44)? Um diese Frage zu beantworten, wurde im Rahmen eines transnationalen Austauschs und einer grenzüberschreitenden Kooperation eine Vielzahl von Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven systematisch organisiert und choreografiert.

Der Autor dieses Beitrags war als Vertreter der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl sowohl Teil der Forschungsgruppe als auch der Fokusgruppe im Quartier Freiburg-Weingarten. In der Abschlussveranstaltung wurde ein Input gegeben, wie das Forschungsprojekt selbst unter Innovationsaspekten betrachtet werden kann. Dieser Beitrag soll an dieser Stelle, etwas vertieft, wiedergegeben werden. Hierzu wird in einem ersten Schritt dargelegt, was Innovation ist (Abschn. 2) und was wichtige Innovationsvoraussetzungen sind (Abschn. 3). Dabei wird, abgeleitet aus der aktuellen Innovationsforschung, ein eigener Innovationsrahmen entfaltet, der anschließend „gefüllt“ wird. Fakt ist, dass es gerade im öffentlichen Bereich eine Vielzahl von Innovationsbarrieren gibt. In Abschn. 4 werden diese auf den Punkt gebracht, um dann in Abschn. 5 abschließend die Innovationsmuster für das MARGE-Projekt herauszuarbeiten. Denn gerade in dem Forschungsprojekt MARGE, das an der Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft gearbeitet und geforscht hat, gilt es, die Innovationsbarrieren kreativ zu überwinden.

Dies geschieht im „Zwischen-Raum“, wie abschließend gezeigt werden soll.

2 Was ist Innovation?

In der einschlägigen Literatur gibt es zahlreiche Definitionen für Innovation. Nach Vehs und Brehm ist unter dem Begriff „Innovation“ im Allgemeinen „die zielgerichtete Durchsetzung von neuen technischen, wirtschaftlichen, organisatorischen und sozialen Problemlösungen [zu verstehen] […], die darauf gerichtet sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige Weise zu erreichen“ (Vahs & Brem, 2013, S. 1). Dabei beinhaltet bereits diese Definition ein Spannungsfeld. Denn wenn Innovationen geplant und kontrolliert werden können, darf man zu Recht fragen, ob es sich dann überhaupt um etwas Neues handeln kann. Denn das Neue ist per se das Unbekannte, nicht Geplante und damit auch nur das begrenzt Steuerbare. Es verhält sich wie mit dem „Sei-spontan“-Paradoxon. In dem Moment, in dem Spontanität verlangt wird, ist es zumeist unmöglich, spontan zu sein. Und in dem Augenblick, in dem Kreativität und Innovationsfreude eingefordert werden, sind sie oft nicht leistbar. Das „Neue“ verlangt Freiräume, Atypisches jenseits der Routinen und Gewohnheiten, Querdenken und Experimentieren. Organisationen und Institutionen sind häufig von diesem klassischen Innovationsdilemma geprägt.

Das Normale in einer Organisation ist die Routine, die Effizienz erzeugt (vgl. Brentel et al., 2006, S. 19). Das Unnormale hingegen sind Kreativität und Innovation, denn sie stehen im Gegensatz zu Standards, Zuständigkeiten, Regeln und Effizienz. Innovationen sind stets an die Art des Lernens – und damit an die Lernbereitschaft – gebunden. Der Organisationsforscher Chris Argyris beschreibt drei Ebenen des Lernens, die eng mit Innovationsprozessen zusammenhängen, sehr interessant (vgl. Argyris & Schön, 1978). Auf der Ebene des Single-Loop-Lernens werden bestehende Praktiken verbessert und optimiert. Beim Double-Loop-Lernen findet eine Veränderung der handlungsleitenden Vorstellungen, Zielsetzungen und Grundüberzeugungen statt. Deutero-Learning hingegen sammelt und kommuniziert Wissen über vergangene Lernprozesse und wird als Lernen des Lernens aufgefasst.Footnote 1 Jede der drei Lernformen führt unter Innovationsgesichtspunkten zu unterschiedlichen Tiefen: Die erste Ebene der Innovation betrifft die Optimierung bestehender Praktiken oder Produkte. Die zweite Ebene fokussiert Innovationen auf der Werteebene beziehungsweise normativen Ebene. Die letzte Ebene schließlich betrifft Veränderungen auf der Metaebene und hinterfragt die Grundannahmen der Produktions-, Prozess- und Organisationsstrukturen. Während erstere Innovationen als inkrementalistisch bezeichnet werden können, bei denen Optimierungen und Reformen zurückhaltend und in kleinen Schritten erfolgen, sind Innovationen auf der letztgenannten Ebene grundlegender und disruptiv, das heißt, sie führen in aller Regel zu einem Paradigmenwechsel. Es ist eine Kernfrage der Innovationsforschung, wann individuelle Verhaltensinnovationen zu kollektiv neuen Praktiken in einem System, zu systemisch-organisatorischem Lernen führen. Damit folgen die drei Ebenen des Lernens nach Argyris und Schön (1978) der Beschreibung der Organisationskultur nach Edgar Schein. Dieser unterscheidet drei Ebenen der Organisationskultur (vgl. Schein, 1995, S. 29 ff.):

  1. a)

    die Ebene des Verhaltens und der sichtbaren Artefakte

  2. b)

    die Ebene der Werte und Normen

  3. c)

    die Ebene der fundamentalen Annahmen und mentalen Paradigmen.

Ist die erste Ebene sichtbar, aber interpretationsbedürftig, so ist die zweite und vor allem die dritte Ebene oft unsichtbar und unbewusst. Gerade auf der Ebene der mentalen Paradigmen geht es um grundlegende Menschen-, Natur-, Organisations- und Weltbilder, die zwar latent vorhanden sind, aber sich selten bewusst gemacht werden. Nach Argyris und Schön, aber auch nach Schein ist es gerade diese Bewusstwerdung des Unbewussten, die oft einen nachhaltigen Wandel und Innovationsschub mit sich bringt.

3 Was braucht Innovation? Zum Stand der Innovationsforschung

Innovation bedarf mehrerer Voraussetzungen. Im Rahmen einer umfangreichen Studie zu sozialen Innovationen wurden verschiedene Voraussetzungen für Innovationen festgestellt, die ihrerseits wiederum in einem engen Zusammenhang stehen (vgl. Zetzsche und Albert, 2017; Meyer, 2014). Diese einzelnen Faktoren können innovationsfördernd oder -hemmend sein (vgl. umfassend für klein und mittelständische Unternehmen Brentel et al. 2006). Im Folgenden sollen in Anlehnung an die genannte Studie zentrale Innovationsdimensionen diskutiert und entwickelt werden.

Innovationen gedeihen in einem Kontext, der Innovationen fördert, erleichtert und unterstützt (vgl. Mai, 2014, S. 236). So ist in einem dynamischen und konkurrenzorientierten Marktklima der Innovationsdruck aufgrund des Wettbewerbs generell größer als im staatlichen Bereich. Aber auch im staatlich-kommunalen Bereich wächst der Innovationsdruck. Komplexe gesellschaftliche Fragestellungen verlangen neue Antworten, weshalb die Anforderungen an Politik und Verwaltung steigen.Footnote 2 Wächst der Druck von außen, wird die Frage nach den internen Innovationsvoraussetzungen zentral. Gibt es eine Strategie, eine „Mission“ für Innovation und organisatorische Erneuerung? Oder sind Effizienz, Standardisierung und das Alltagsgeschäft der Kernfokus der Organisation? Während es in privatwirtschaftlichen Unternehmen eigenständige Innovations- und Entwicklungsabteilungen gibt, ist das Thema Innovation in öffentlichen Verwaltungen strukturell und inhaltlich nicht verankert. Dies bedeutet nicht, dass Innovation überhaupt nicht stattfindet. Innovationen hängen jedoch stark von einzelnen Innovationsakteur*innen ab. Es braucht Führungskräfte, die neuen Ideen offen gegenüberstehen und sie unterstützen, die Räume und Zeit schaffen für kreative Prozesse. Und es braucht Mitarbeiter*innen, die „unternehmerisch“ über den Tellerrand blicken und das eigene Tun und Handeln immer wieder kritisch hinterfragen und Lernende bleiben. Es ist eine Frage der Fehlerkultur und des Muts zum Experiment, die von Führungskräften und Mitarbeiter*innen gelebt oder eben nicht gelebt werden. Dies wird an organisationsinternen Anreizen deutlich, die entweder innovationsfördernd oder hinderlich sein können. Es ist evident, dass gerade die Kommunikation mit Querdenkenden, die Perspektivenvielfalt und der Austausch auf Augenhöhe zentrale Voraussetzungen sind. Dies wiederum ist abhängig von Strukturen, die sich tendenziell durch flache, ressortübergreifende Team- und Netzwerkstrukturen auszeichnen, die nah am Kunden sind und resonanzfähig auf das soziale Umfeld reagieren. Gerade Netzwerke sind es, die Innovationsimpulse setzen können. Ebenso können innovative Prozesse und Methoden förderlich sein, indem beispielsweise kreative Methoden (z. B. Workshops, Zukunftswerkstätten) unter breiter Beteiligung interner, aber auch externer Akteur*innen angewandt werden. Die dargestellten Innovationsdimensionen schaffen in der Summe eine Innovationskultur, die zu entsprechend innovativen Outputs (Produkten) und nachhaltigen Outcomes (Wirkungen) führt.

Damit sind die zentralen Innovationsdimensionen (vgl. Kegelmann, 2018b, S. 113 ff.):

  • der Innovationskontext, die Innovationsumwelt,

  • die inhaltliche Innovationsorientierung auf normativer, strategischer und operativer Ebene (Wird Innovation in der Organisation als eigenständige Aufgabe wahrgenommen?),

  • die Innovationsstrukturen (Unterstützen die organisationalen Strukturen Innovation?),

  • die Innovationsprozesse und

  • die Akteur*innen (Gibt es Innovationsmotivation und -kompetenz aufseiten der Führungskräfte und Mitarbeiter*innen?)

Die nachfolgende Abb. 1 stellt den Innovationsrahmen noch einmal übersichtlich dar.

Abb. 1
figure 1

Der Innovationsrahmen

Verknüpft man die Dimensionen mit den Erkenntnissen aus der Innovationsforschung, so können Thesen formuliert werden, wie in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Innovationsthesen

Hinter dieser verhaltensbezogenen (1. Kulturebene) Thesenorientierung können auf der normativen und mentalen Ebene Prinzipien, Werte und Grundannahmen beschrieben werden, die viel mit Freiheit, Pluralität, Perspektivenvielfalt, Neugierde etc. zu tun haben (Tab. 2).

Tab. 2 Innovationsthesen (Ebene 2 und 3)

Was braucht Innovation? Es braucht auf einer operativen Ebene engagierte Menschen, Strukturen und geeignete Prozesse, auf einer normativen Ebene erfordert es eine „Haltung der Innovation“, die sich dann durch die Gestaltung der entsprechenden Rahmen manifestiert. Fakt ist jedoch, dass diese Voraussetzungen nicht in der DNS der öffentlichen Verwaltungs- und Zusammenarbeitskultur angelegt sind. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Innovationsbarrieren, die ebenfalls operativ und normativ systemisch angelegt sind. Darum geht es im Folgenden.

4 Innovationsbarrieren in der öffentlichen Verwaltung

Fragt man nach den grundlegenden Strukturmerkmalen der Verwaltung, so liegt deren Kernfokus auf Stabilität und Effizienz. Nach Max Weber (1980 [1921]) zeichnet sich jeder „bureaukratische Verwaltungsstab“ durch fünf Hauptmerkmale aus. Diese sind:

  • Regelorientierung, d. h. Orientierung des Verwaltungshandelns an Recht und Gesetz;

  • funktionale Arbeitsteilung und Spezialisierung;

  • Hierarchie;

  • Schriftlichkeit bzw. Aktenmäßigkeit;

  • Neutralität und Professionalität durch das Berufsbeamtentum.

Wie lassen sich diese fünf Hauptmerkmale charakterisieren? Erstens: Regelorientierung bedeutet, dass das Handeln der Verwaltung nicht willkürlich erfolgen darf, sondern nur auf der Grundlage schriftlicher Regelungen. Damit wird die Bindung an Recht und Gesetz zur Grundlage der Verwaltung. Die Entwicklung einer starken juristischen Tradition entspringt diesem Grundsatz. Zweitens: Funktionale Arbeitsteilung bedeutet, dass die Verwaltung nur auf der Grundlage zugeordneter Funktionen und Kompetenzen handeln kann. Die Funktionen werden innerhalb der Verwaltung auf verschiedene Stellen verteilt, und jede*r Funktionsträger*in darf nur innerhalb seiner*ihrer Zuständigkeit agieren. Drittens: Gebündelt werden die verschiedenen Teilfunktionen durch eine starke Hierarchie, letztlich durch den „Kopf“ der Verwaltung. In den Kommunalverwaltungen ist dies der*die Bürgermeister*in als Chef*in der Verwaltung, der*die seine*ihre Mitarbeiter*innen zentralistisch und gegebenenfalls dirigistisch (im Sinne von Einzelweisungen) führen darf. Viertens: Auch der Grundsatz der Aktenmäßigkeit ist ein zentrales Merkmal. Alle Verwaltungsvorgänge, beispielsweise die Erteilung einer Baugenehmigung, müssen aktenkundig, das heißt transparent gemacht werden. Die Folge der Schriftlichkeit ist, dass Verwaltungsvorgänge nachvollziehbar und leichter kontrollierbar werden. Fünftens: Im Rahmen der vier „Verwaltungspfeiler“ – Regelorientierung, funktionale Arbeitsteilung, Hierarchie und Aktenmäßigkeit – soll der Berufsbeamte als neutraler und professioneller Sachwalter unabhängig und der Sache verpflichtet seiner Arbeit nachgehen.

Alle diese Merkmale garantieren, dass die Verwaltung ohne Ansehen der Person auf der Grundlage klarer formaler Regeln mit hoher Kompetenz ihre Pflicht erfüllt und somit zur Effizienz wie auch zur Legitimität des Staates beiträgt. Diese Merkmale sind bis heute ein zentraler Erfolgsgarant für die öffentliche Verwaltung, und die entsprechenden Ausbildungsstätten – die Hochschulen für öffentliche Verwaltung in Kehl und Ludwigsburg – sichern die Qualität und Professionalität der kommunalen Mitarbeiter*innen. Seit es die Bürokratie gibt, sind aber auch deren Defizite evident: So wird ihr oft mangelnde Flexibilität und Innovationskraft, unzureichende Kunden- und Bürgerorientierung, fehlende Mitarbeiterorientierung und geringe Effizienz und Qualität vorgeworfen, verbunden mit organisierter Unverantwortlichkeit sowie strategischer Unter- und operativer Übersteuerung im Rahmen rigider, funktional verteilter Aufgabenverantwortung und starker hierarchischer Strukturen. Auf der inhaltlichen Ebene ist die Verwaltung auf Ordnung und Effizienz fokussiert, auf der strukturellen Ebene durch eine starke Hierarchie gekennzeichnet und auf der Prozessebene sind funktional differenzierte und damit spezialisierte Prozesse standardisiert. Auch die Führungskultur und das Personal zeichnen sich weniger durch eine starke Innovationsorientierung als vielmehr durch Regel-, Ordnungs- und Zuständigkeitsorientierung aus. Damit sind ideale Voraussetzungen für Innovationen nicht gegeben. Der Widerspruch zwischen klassischer Verwaltungs- und Innovationslogik zeitigt Hemmschuhe in Form von Innovationsbarrieren (vgl. Kegelmann, 2019, S. 135; vgl. Brentel et al., 2006, S. 26 ff. für den Bereich von kleinen und mittleren Unternehmen).

Damit wird deutlich (Tab. 3), dass es ein Spannungsfeld gibt zwischen der bürokratischen Verwaltungslogik, die Berechenbarkeit, Verlässlichkeit und Routine anstrebt, und einer Innovationslogik, deren Ziel der Wandel und die Veränderung ist. Dies zeigt auch die Abb. 2.

Tab. 3 Innovationsbarrieren
Abb. 2
figure 2

Verwaltung vs. Innovationslogik

Es gilt also einen „Zwischen-Raum“ zu organisieren, der die Spannungsfelder gut integriert.

Wie dies im Projekt MARGE gelungen ist, wird abschließend gezeigt. Hierbei soll das Wort „Inter“ im Sinne von „dazwischen“ die zentrale Rolle spielen. Auch werden die bereits dargestellten Innovationsdimensionen eine Leitidee sein. Selbstreferenziell soll gefragt werden: War das Projekt MARGE, dessen thematischer Schwerpunkt das Thema „Innovation“ war, selbst ein innovatives Projekt und hat es seinerseits den Grunddimensionen erfolgreicher Innovation, wie dargestellt, entsprochen?

5 Innovationsmuster im Projekt MARGE

Das Projekte MARGE war angelegt auf …

  1. 1.

    … eine Umwelt, die sich durch räumliche Inter-Nationalität auszeichnet.

  2. 2.

    … die Repräsentation der Umwelt der Quartiere durch Teilnehmer*innen aus Staat, Politik und Zivilgesellschaft in dem Projekt (Verzahnung der Sektoren/Inter-Sektoralität)

  3. 3.

    … ein Thema, das die Fachgrenzen überschritt und inter-disziplinär unter sozialpädagogischen, soziologischen, verwaltungswissenschaftlichen Perspektiven betrachtet wurde.

  4. 4.

    … die prozessuale Verzahnung von Theorie und Praxis, Reflektion und Aktion, Erkennen und Gestalten unter Anwendung inter-aktiver, d. h. stark partizipativer und explorativer Methoden.

  5. 5.

    … die Verbindung von „Stabilität“ und „Flexibilität“ sowie „Offenheit“ und „Geschlossenheit“ durch dynamische Projektstrukturen.

  6. 6.

    … Akteur*innen, die sich durch eine starke Inter-Kulturalität, hohe Kommunikationskompetenz, Neugierde und Offenheit, d. h. hohe Lernbereitschaft auszeichneten.

Dieser positive Befund leugnet nicht, dass es in allen Dimensionen auch konfliktäre Spannungsfelder gab, die immer wieder auch Anlass zu Irritation, Konflikt, Widersprüchen und Ambiguitäten gaben. Aber genau in diesem „Zwischen-Raum“, also auf, über und jenseits der

  • nationalen,

  • fachbezogenen,

  • strukturellen und

  • kulturellen

Grenzen und Befremdungen, lag und liegt das Geheimnis der Innovation.

Umso wichtiger war es, das gemeinsam Erlebte immer wieder in einem gemeinsamen Reflexionsraum durch die je unterschiedlichen Brillen und Perspektiven zu betrachten und neben der operativen Ebene die dahinterliegenden normativen Werte und Grundparadigmen zu betrachten. Erst dieses „Bewusstwerden“ der je eigenen und fremden Muster, das Erkennen von Gemeinsamem und Trennendem ermöglichte innovative Einsichten und das Erkennen möglicher, neuer Handlungspraktiken.

Zu 1: räumliche Inter-Nationalität

Mit Frankreich, Schweiz und Deutschland waren Länder vertreten, die einen stark unterschiedlichen institutionellen Rahmen aufweisen. Dies betrifft strukturelle Aspekte, wie die des zentralen bzw. föderalen Aufbaus. Aber auch die Art und Weise der inter- und intraorganisatorischen Steuerung, die Einbindung der Bürger*innen und Betroffenen wie auch das professionelle Sachverständnis, angefangen von den unterschiedlichen Ausbildungssystemen, führten zu der Erkenntnis und dem Erleben, dass jede*r in seiner*ihrer eigenen „Welt“ lebt. Gleichzeitig war Aufgabe aller Beteiligten, die soziale Quartierentwicklung, die Vermeidung und Verringerung von Benachteiligung wie auch die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Verwaltung, freien Trägern und der Bevölkerung. Insofern gab es ein gemeinsames Thema, das allerdings stark durch die nationalen Rahmenbedingungen geprägt ist. Insofern war es immer wieder notwendig, in den Quartieren auf die nationalen Rahmenbedingungen einzugehen, also das nationale System mit den jeweiligen Gestaltungsparametern zu erläutern. Und so war es diese räumliche Grenz-Erfahrung, die zu einer Bewusstwerdung der anderen, aber auch der eigenen Identität führten. So haben viele Teilnehmer*innen erwähnt, dass ihnen das „Eigene“ wieder stärker bewusst wurde, gerade durch das Wahrnehmen der „Anderen“. Die Befremdung führte zu einer erweiterten Beheimatung.

Zu 2: die Verzahnung der Sektoren – Inter-Sektoralität

Sehr innovationsförderlich, da ebenfalls „befremdend“ und bereichernd war die Verknüpfung und Verzahnung der Sektoren. So nahmen Teilnehmer*innen aus der Verwaltung, der Politik und der Zivilgesellschaft teil. Alle Teilnehmer*innen hatten und haben ihre je eigenen Interessen, ihre eigenen Handlungspotenziale und Instrumente und ihre eigenen Steuerungslogiken. Auch diese waren wieder stark beeinflusst vom nationalen Bezugs- und Handlungsrahmen. So waren die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus Frankreich stark beeindruckt von den direktdemokratischen Elementen im Rahmen einer Bürgerversammlung in der Schweiz, die deutschen Vertreter*innen waren beeindruckt von den institutionellen staatlichen Vorgaben der sozialen Wohnraumbelegung in Frankreich. Durch die Feldbesuche vor Ort wurde diese Verzahnung nicht nur kognitiv vermittelt, sondern konkret erlebbar. Durch den gemeinsamen Austausch wurden die Rollen der jeweiligen Sektoren und ihrer Vertreter*innen klarer und nachvollziehbarer.

Zu 3: fachliche Inter-Disziplinarität

Gerade Verwaltung und Sozialarbeit sind oft wie „Feuer und Wasser“. Ist das sozialpädagogische Handeln stark partizipativ, personen- und ressourcenorientiert, ist das Verwaltungshandeln oft hierarchisch und regelorientiert. Die Steuerungsmodi sind sehr unterschiedlich (vgl. Langer, S. 62) wie auch die jeweiligen Zielsetzungen und der entsprechende „Berufsethos“. Im konkreten Alltag führt dies oft zu Spannungen, gegenseitigem Nichtverstehen und Vorbehalten. Mit dem Format der Fokusgruppen wurden auf räumlicher Ebene „vor Ort“ Strukturen geschaffen, die gerade diesen interdisziplinären und intersektoralen Austausch verstetigten, um so eine gemeinsame Vertrauens- und Interaktionsgrundlage zu schaffen. Denn gerade in der Quartiersarbeit zeigt sich, dass der „Raum“ die sektoralen und disziplinären Trennungen relativiert, da „vor Ort“ ganzheitlich-integrativ gedacht und gehandelt werden sollte.

Zu 4: Zwischen Theorie und Praxis

Feldforschung, Reallabore, Aktionsforschung leben von der Praxis. Wirft man der Wissenschaft oft vor, im Elfenbeinturm zu sitzen und theoretische Konzepte ohne Handlungsrelevanz zu diskutieren, kritisiert man die Praxis dahin gehend, dass sie zu wenig reflektiert. Bereits Kant hat gesagt: „Handeln ohne Denken ist blind, Denken ohne Handeln leer.“ Es geht um das Verhältnis von Abstraktion i. S. v. Denken und Konkretion i. S. v. Handeln. Das Zentrale der Feldforschung ist, dass sie Theorie und Praxis, Abstraktion und Konkretion verknüpft. Dadurch erkennt sie „vor Ort“ in der Praxis gemeinsame Muster und Patterns und kann so Hinweise auf einer „mittleren“ Ebene geben, wie sich Reflexion und Praxis sinnvoll verzahnen lassen. Im Projekt wurde diese Form der Vermittlung von Theorie und Praxis und der darauf aufbauenden Mustererkennung in vielfältiger Weise organisiert. „Vor Ort“ in den Felderkundungen, aber auch in den Fokusgruppen in den Quartieren wurden die Praxisprojekte und -erfahrungen gesammelt und diskutiert. In den Felderkundungsberichten wurden diese dokumentiert und auf der Grundlage gemeinsamer Beobachtungs- und Analyseraster strukturiert und in den gemeinsamen Projektgruppensitzungen diskutiert. Auf diese Weise wurden gemeinsame (und trennende) Wahrnehmungs- und Handlungsmuster erkannt und herausgearbeitet; und zwar in Koproduktion auf der Grundlage praktischer Erfahrungen und Kenntnisse, verknüpft mit wissenschaftlichen Hintergründen und Diskussionen, eingebracht von den teilnehmenden Forscher*innen. Die erfolgversprechenden „Muster“ können so weitergegeben und multipliziert werden. Hierzu dient auch das gemeinsam erarbeitete Toolkit, das als Handlungsempfehlungen die gemeinsamen Erkenntnisse und Lernerfahrungen auf den Punkt bringt.

Zu 5: strukturelle Flexibilität und Stabilität – Zwischen Offenheit und Geschlossenheit

Zentral für den Projekterfolg war die durchdachte und innovative Organisationsstruktur. „Structure follows strategy.“ Strukturen begrenzen, indem sie Rollen, Aufgaben und Kompetenzen definieren, aber sie ermöglichen auch, indem sie stabile und verlässliche Räume anbieten. Zentral für effiziente Strukturen ist eine gute Verzahnung einzelner Strukturelemente. So gab es vier zentrale Strukturelemente (Tab. 4).

Tab. 4 Strukturelemente im Projekt

Mit dieser Projektarchitektur war das „strukturelle Bindeglied“ geschaffen, das einerseits strukturelle Klarheit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit schaffte, innerhalb des Rahmens aber dann durch offene, partizipative und kreative Prozesse intensive Entfaltungs- und Kreativitätsräume bot. Der Steuerkreis entwickelte hierbei den Prozessrahmen, während die Forschungsgruppe wichtige Reflexions- und Theoriefragen einspeiste. Insgesamt verknüpfte die Projektarchitektur auf intelligente Weise die bereits dargelegten produktiven Spannungsfelder.

Zu 6: Lern- und Innovationsbereitschaft aufseiten der inter-kulturellen Akteure

Eine Vielzahl unterschiedlicher Teilnehmer*innen aus den diversen Sektoren, Ländern und Quartieren nahmen an dem Forschungsprojekt teil. Umso wichtiger war es, Räume der Begegnung zu schaffen. Und zwar in mehrfacher Hinsicht: als Handlungsräume, in denen die Kompetenzen und Erfahrungen der Teilnehmer*innen einfließen konnten und in Aktivität umgesetzt werden konnten. Dies geschah beispielsweise durch die Gestaltung der eigenen Projektsteckbriefe zur Darstellung der innovativen Projekte in den Quartieren, aber auch durch die Organisation der Feldbesuche vor Ort. Hier konnten beispielsweise die Fokusgruppen ihr „Feld“ zeigen, um anschließend in einen produktiven Dialog mit den Feldbesuchern einzusteigen. Gerade für die Teilnehmenden aus der Zivilgesellschaft waren diese Treffen auch ein Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung.

Neben Handlungsräumen wurden Reflexionsräume organisiert, insb. durch die Treffen in den Forschungs- und Projektgruppensitzungen. Hierbei wurden die gemachten und diskutierten Erfahrungen vor Ort auf der Grundlage eines gemeinsamen Bezugsrahmens diskutiert und systematisiert. Auch wurde bewusst nach gemeinsamen Lern- und Innovationserfahrungen gefragt, um im Austausch neue Spiel-Räume und Anregungen für die Arbeit zu erhalten. Neben dem professionell-fachlichen Aspekt kamen dabei auch zwischenmenschliche Aspekte nicht zu kurz. Es entstanden neue Netzwerke, über bestehende Grenzen hinweg, bis hin zu Freundschaften, die das befristet angelegte Projekt bei Weitem überdauern werden. Als Voraussetzung hatte dies, dass die Beteiligten ein hohes Maß an Lust auf Begegnung, Austausch und gemeinsames Lernen hatten. Da aber in der Projektkonfiguration das Prinzip „Freiwilligkeit“ zentral war, waren sowohl die teilnehmenden Quartiere wie auch die teilnehmenden Personen großteils intrinsisch motiviert. Entsprechend groß war die grundsätzliche Bereitschaft, sich dem Thema „Innovation“ innovativ zu nähern.

6 Fazit

Inwieweit das Projekt langfristig und nachhaltig wirkt, bleibt abzuwarten und bedarf weiterer Fortsetzungsaktivitäten. Das Projekt hat aber eindeutig gezeigt, wie Innovation im Zwischen-Raum gelingen kann, wenn sie intelligent gestaltet wird. Im Kern bedeutet es die Organisation von produktiven Spannungsfeldern und die Meta-Reflexion über die normativen Ursachen dieser Spannungsfelder. Gerade hierin liegt der Schatz von raumüberschreitenden Reallaboren. Sie machen die normativen und mentalen Paradigmen bewusst, die normalerweise im Verborgenen liegen. Damit wird ein tiefergehendes Lernen im Sinne von Single- und Double-Loop-Learning möglich. In diesem Sinne war MARGE aus Sicht des Verfassers ein beispielgebendes Projekt.