Zusammenfassung
In einem Text von 1972 hat Jacques Donzelot die Theorien von Gilles Deleuze und Felix Guattari als eine Anti-Soziologie charakterisiert. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ist das Denken von Deleuze in den zurückliegenden Jahrzehnten zur entscheidenden Inspirationsquelle für eine Reihe von innovativen Strömungen der Sozialwissenschaften geworden. Akteur-Netzwerk-Theorie, assemblage-Theorien, Affekttheorie und neuer Materialismus wären ohne den Deleuze-Effekt ebenso wenig denkbar, wie eine Vielzahl von kritischen Analysen zur Kontrollgesellschaft der Gegenwart. Gerade das, was in den 1970er Jahren noch als Anti-Soziologie erscheinen musste, ist zwar immer noch kein mainstream, aber lässt sich getrost als integraler Bestandteil zeitgenössischen soziologischen Denkens verstehen. Wir haben es weniger mit einer Anti-Soziologie, sondern mit einer Alter-Soziologie zu tun: eine Soziologie, die das Denken in Organismen und Ganzheiten hinter sich gelassen hat und den Blick stattdessen auf Ströme und Gefüge richtet. Der Text vollzieht nach, welche Theorieelemente von Deleuze Eingang in zeitgenössische soziologische Theorien gefunden haben und lotet aus, welche noch ungehobenen Potentiale sein Denken beinhaltet.
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Notes
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Latour verwischt bekanntlich immer wieder die Spuren seiner Beeinflussung und bezieht sich nur selten explizit auf Deleuze. Dennoch ist es offensichtlich, dass sein Netzwerkdenken von der Deleuz‘schen Gefügeontologie beeinflusst ist.
- 2.
Ich verzichte hier auf die in diesem Zusammenhang wohl eher verwirrenden Unterscheidungen zwischen Schichten, Diagrammen, ‚abstrakter‘ Maschine und ‚konkretem‘ Gefüge (siehe aber Deleuze und Guattari 1997: 696–710).
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Deleuze und Guattari (1977: 368) geht es hier nicht um eine Kritik jeglichen Vitalismus bzw. jeglichen Bezug auf die Logik des Lebendigen. „(D)ie wirkliche Differenz liegt nicht zwischen Maschine und dem Lebendigen (…), sondern zwischen zwei Zuständen der Maschine, die gleichermaßen Zustände des Lebendigen sind.“ Es lässt sich bei ihnen sogar ein gewissermaßen machinistischer Vitalismus finden. Siehe dazu Folkers (2017). Sie grenzen sich gleichwohl von einem teleologischen Vitalismus ab, der von organischen Totalitäten ausgeht.
- 4.
Diesen Irreduktionismus teilt die Assemblage-Theorie mit Latours (1988) Version der Akteur-Netzwerk-Theorie.
- 5.
So können Deleuze und Guattari (1997: 545) bemerken: „Die Affekte der nomadischen Existenz sind die Waffen einer Kriegsmaschine.“ Dieser Satz ergibt Sinn, wenn man sich klar macht, dass sich das nomadische Gefüge eben nur durch eine Versammlung von unterschiedlichen Entitäten – Pferd, Reiter_in, Waffen etc. – ergibt.
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- 7.
So besteht der Anspruch von Deleuze und Guattari (1997:. 64) darin zu zeigen, dass schon das scheinbar rohe Ausgangsmaterial der Gefüge eine Versammlung von „submolekulare(n) und subatomare(n) Partikel(n), reinen Intensitäten, präphysische(n) und prävitale(n) freie(n) Singularitäte(n)“ ist.
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- 9.
Darin folgen sie in gewisser Weise Claude Lévi-Strauss’ (1968) ebenso provokanter Rede vom ‚Wilden Denken‘ und Pierre Clastres’ Rede von ‚primitiven‘ Gesellschaften, die jeweils dazu dienen sollten, klassische gesellschaftsevolutionistische Annahmen in Frage zu stellen.
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Tatsächlich hat der Anti-Ödipus bei all seiner Radikalität versäumt ausreichend zu betonen, dass die „deterritorialisierten“ Arbeits- und Geldströme, aus deren Konjunktur der Kapitalismus hervorgeht, auf gewaltsame Prozesse im Rahmen der „ursprünglichen Akkumulation“ (Marx 1968) in Europa, der imperialistischen Landnahme in den Kolonien und der Sklaverei zurückgehen.
- 11.
Bruno Latour (2018) hat in seinem Terrestrischen Manifest in einem Kommentar auf die gegenwärtige politische Situation zwischen ökologischen Krisen und dem Vormarsch nationalistischer Bewegungen argumentiert, dass die Polarisierung zwischen Befürworter_innen einer deterritorialisierenden Modernisierung einerseits und den regressiv, reterritorialisierenden Bewegungen andererseits, die „Erde“, verstanden als ökologisches Erdsystem Gaia, als neuen „Boden“ des Politischen übersieht. Tatsächlich lässt sich Deleuzes und insbesondere Guattaris (1994) Versuch, über alternative Formen der Territorialisierung nachzudenken, als Vorwegnahme dieser Position verstehen.
- 12.
Gleichwohl hat Foucault mit den Konzepten des Sicherheitsdispositivs und der Gouvernementalität ebenfalls Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre an einer Fortentwicklung seiner Machtanalytik gearbeitet, die eine Vielzahl interessanter Parallelen zum Konzept der Kontrolle aufweist.
- 13.
Der Postoperaismus ist eine Weiterentwicklung des in der italienischen Autonomiebewegung der 1970er Jahre entstandenen Operaismus, bei der stark auf poststrukturalistische Theorien (insb. Deleuze und Foucault) rekurriert wurde. Damit ist der Postoperaismus zu einem der zentralen Kontexte der sozialwissenschaftlichen Deleuzerezeption geworden. Vgl. dazu (Hardt 1995; Lazzarato 2006; Raunig 2016; Pasquinelli 2015).
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Folkers, A. (2022). Das Soziale als Gefüge. Der Deleuze-Effekt in der Soziologie. In: Delitz, H. (eds) Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36949-1_14
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