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1 Einleitung

Lebensmittel legen während des Transports zwischen Produktionsort und Verzehrort unterschiedlich lange Strecken zurück; sie gehen dabei durch unterschiedlich viele Hände. In Wertschöpfungsketten mit zahlreichen Verarbeitungs- und Vermarktungsstufen können Akteurinnen und Akteure in unterschiedlichen Regionen, Ländern und mitunter auch Kontinenten involviert sein (Ermann et al. 2018). Dies führt häufig nicht nur zu einer geografischen, sondern auch zu einer sozialen Distanz entlang der Wertschöpfungsketten (Krausmann und Langthaler 2019). Alternative Lebensmittelnetzwerke (ALN) wirken dieser als unbefriedigend empfundenen Situation entgegen, indem sie versuchen, durch Kommunikation und Interaktion persönliche Beziehungen zwischen Akteurinnen und Akteuren der Lebensmittelproduktion, -verteilung und -konsumation herzustellen (Hinrichs 2000; Penker 2006). Sie zielen auch auf sozial, ökologisch und wirtschaftlich verträgliche Produktions-, Verarbeitungs-, Vertriebs- und Konsumweisen. Zu den ALN im traditionellen Sinn gehören Bäuerinnen und Bauern, die meist ökologische oder ganzheitliche Produktionsmethoden anwenden, sowie Orte der direkten Interaktion mit Konsumentinnen und Konsumenten (Jarosz 2008). Typische Beispiele sind Bauernmärkte, Hofläden, Ab-Hof-Verkauf aber auch solidarische Landwirtschaft (CSA, Community Supported Agriculture)Footnote 1 sowie Lebensmittelkooperativen (Foodcoops)Footnote 2. Aber auch längere Wertschöpfungsketten mit mehr Akteurinnen und Akteuren können als ALN betrachtet werden, wenn eine direkte Kommunikation und Interaktion zwischen allen Akteurinnen und Akteuren möglich ist (Renting et al. 2003).

In der wissenschaftlichen Forschung zu ALN etablierte sich in den letzten zwei Jahrzehnten das theoretische Konzept der Nähe. Es wurde aus der Innovationsliteratur abgeleitet, um die Auswirkungen von lokalen Kontexten auf Innovationsprozesse zu beschreiben (Boschma 2005; Torre und Gilly 2000; Torre und Rallet 2005). Die Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung griff dieses Konzept auf (Coenen et al. 2010). Ein aus Frankreich kommender Diskurs über Nähe in der Landwirtschaft fügte sich in der Folge langsam in die internationale ALN-Literatur ein (Aubry und Kebir 2013; Dubois 2018; Filippi et al. 2011; Kebir und Torre 2013). Dubois (2018) beschreibt erstmals ausführlich, wie geografische, kognitive, organisatorische, institutionelle und soziale Nähe in ALN entstehen und gefördert werden können.

Nach unserem Kenntnisstand fehlt bislang eine solide Konzeptionierung der Nähedimensionen, die nicht nur auf lokale, sondern auch auf transnationale ALN anwendbar ist. Dieser Beitrag stellt daher einen neuen Analyserahmen vor, der eine differenziertere Untersuchung von Nähe in ALN unabhängig von der Organisationsform ermöglicht. Zwei Fallbeispiele verdeutlichen seine Anwendung (siehe Abschn. 4 und 5).

2 Konzeptionierung von Nähe in alternativen Lebensmittelnetzwerken

Basierend auf einer Literaturrecherche zum theoretischen Konzept der Nähe sowie auf eigenen Forschungsergebnissen stellen wir hier der deutschsprachigen Leserschaft einen Analyserahmen vor, der eine differenzierte Untersuchung von Nähe in ALN sowie systematische Vergleiche unterschiedlich organisierter ALN ermöglicht. Anhand von zwei Fallbeispielen (Edelmann et al. 2020; Gugerell und Penker 2020) wird die Anwendbarkeit von Nähedimensionen erstmals in Bezug auf lokal sowie transkontinental organisierte ALN demonstriert. Der vorgeschlagene Analyserahmen (Abb. 1) schließt an die fünf Nähedimensionen von Dubois (2018) an, die im Folgenden näher beschrieben werden.

Abb. 1
figure 1

Basierend auf Edelmann et al. (2020) und Gugerell et al. (2021)

Dimensionen der Nähe in alternativen Lebensmittelnetzwerken.

Geografische Nähe

bezieht sich auf die räumliche Entfernung zwischen den Akteurinnen und Akteuren eines ALN (Boschma 2005; Coenen et al. 2010). Sie ermöglicht persönliche Kommunikation und Interaktion durch die physische Begegnung von Akteurinnen und Akteuren an einem Ort. Man unterscheidet zwischen dauerhafter und temporärer geografischer Nähe. Dauerhafte geografische Nähe ist typisch für Akteurinnen und Akteure lokaler ALN. Temporäre geografische Nähe kann für kurz- oder mittelfristige Zeiträume durch persönliche Besuche oder Treffen hergestellt werden. Inwieweit geografische Nähe eine notwendige Voraussetzung für das Entstehen relationaler Nähe darstellt, ist in der Literatur umstritten. Torre (2008) nimmt an, dass es zumindest temporäre geografische Nähe braucht. Edelmann et al. (2020), Hinrichs (2003), Kneafsey et al. (2013) und Renting et al. (2003) stellen hingegen fest, dass geografische Nähe das Entstehen von relationaler Nähe erleichtert, aber nicht zwingend erforderlich ist. Auch direkte, virtuelle Kontakte zwischen geografisch entfernten Akteurinnen und Akteuren können zum Aufbau von relationaler Nähe beitragen (Bos und Owen 2016).

Organisatorische Nähe

beschreibt jene Beziehungen von Akteurinnen und Akteuren, die in formalen Vereinbarungen organisiert sind (Boschma 2005; Coenen et al. 2010). Subdimensionen sind die Organisation der Kooperation, Preisverhandlung und Preissetzung, Gewinnverteilung und Risikoverteilung (Edelmann et al. 2020).

Institutionelle Nähe

definiert den Grad der Ähnlichkeit von Regeln, Normen und Werten (Institutionen) in ALN (Boschma 2005; Coenen et al. 2010). Sie gibt an, inwieweit die Institutionen der Akteurinnen und Akteure untereinander sowie mit jenen des ALN übereinstimmen (z. B. wie wichtig ihnen soziale und ökologische Verhältnisse im Lebensmittelsystem sind, wie sehr sie sich über den eigenen Nutzen hinaus am Gemeinwohl orientieren). Subdimensionen sind Regeln, Normen und Werte in Bezug auf Lebensmittelqualität, die Orientierung am Gemeinwohl sowie die institutionelle Ausrichtung des ALN verglichen mit jener traditioneller Lebensmittelwertschöpfungsketten (z. B. Stellenwert ökologischer Produktion, soziale Ziele wie Solidarität und Inklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen, Organisationsform, Führungsstil, Entscheidungsfindung).

Kognitive Nähe

entsteht durch die Annäherung der Wissensbasen von Akteurinnen und Akteuren. Der Austausch von Wissen und Erwartungen stärkt das gegenseitige Verständnis füreinander (Boschma 2005; Coenen et al. 2010). Diese Nähedimension ermöglicht eine Analyse der gemeinsamen fachlichen Wissensbasis sowie der Praktiken des Wissensaustauschs und des gegenseitigen Lernens (Edelmann et al. 2020).

Soziale Nähe

repräsentiert gegenseitiges Vertrauen, das auf Freundschaft, Verwandtschaft sowie gemeinsamen Erfahrungen und vertrauensbildenden Aktivitäten zwischen Akteurinnen und Akteuren beruht. Soziale Nähe ist eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit sowie den Austausch von Fachwissen und Ressourcen (Boschma 2005; Coenen et al. 2010). Potenziell opportunistische Praktiken können durch soziale Nähe reduziert werden (Boschma 2005). Wenn jedoch die soziale Nähe zwischen einzelnen Akteursgruppen variiert, kann sie auch zu Misstrauen und Konflikten führen (Coff et al. 2008). Subdimensionen sind gegenseitiges Vertrauen, Wissen der Akteurinnen und Akteure übereinander und der Grad der Bekanntschaft bzw. Verwandtschaft (Edelmann et al. 2020).

3 Methoden und Fälle zur Anwendung des Analyserahmens

Basierend auf den Charakteristika für ALN (siehe Abschn. 1) wurden zwei geografisch und organisatorisch sehr unterschiedliche Fallbeispiele ausgewählt: i) eine lokal organisierte CSA im Umland Wiens, Österreich sowie ii) ein peruanischer Kaffeedirekthandel mit Produktion in Peru und Rösterei, Vertrieb und Konsum in Deutschland. Ein auf Grundlage der Literatur zu Nähe und ALN erstellter Interviewleitfaden adressiert die Entwicklung der einzelnen ALN und die verschiedenen Nähedimensionen. Die 14 semistrukturierten InterviewsFootnote 3 mit Schlüsselakteurinnen und -akteuren der ALN (siehe Tab. 1) wurden mittels deduktiver und induktiver CodierungFootnote 4 analysiert.

Tab. 1 Interviewpartnerinnen und -partner. Eigene Darstellung

Die folgenden Abschnitte präsentieren die Fallbeispiele und deren Ausprägungen entlang der Nähedimensionen des Analyserahmens.

4 Fallbeispiel I: Solidarische Landwirtschaft Wiener Umland

Die als Verein organisierte CSA wurde 2011 gegründet und befindet sich am Stadtrand von Wien. Der CSA-Gründer hatte die landwirtschaftlichen Flächen bereits 2002 gekauft und gepachtet. Das auf etwa 11 ha Land biologisch angebaute Obst und Gemüse verkaufte er hauptsächlich am Markt. Als dies nicht mehr rentabel war, traf er gemeinsam mit seinen damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, beraten von einem internationalen CSA-Vorreiter, die Entscheidung, den Betrieb auf ein CSA-Modell umzustellen. Nach einigen Jahren landwirtschaftlicher Produktion für die CSA zog sich der CSA-Gründer 2017 aufgrund interner Konflikte zurück, verkaufte seine landwirtschaftlichen Flächen an die CSA und übergab dieser auch seinen Pachtvertrag. Derzeit hat die CSA ca. 300 Mitglieder, wovon etwa 10 Personen in der landwirtschaftlichen Produktion mit unterschiedlichem Stundenausmaß angestellt sind oder freiwillig mitarbeiten (z. B. in Form eines Praktikums). Die anderen CSA-Mitglieder sind Konsumentinnen und Konsumenten, die sich auf freiwilliger Basis unterschiedlich stark in die CSA einbringen und wöchentlich von der CSA mit Obst und Gemüse versorgt werden. Die CSA versucht, den gesamten Bedarf der CSA-Mitglieder an saisonalem Obst und Gemüse zu decken.

Geografische Nähe.

Da die meisten CSA-Mitglieder in Wien leben, hat sich die CSA im periurbanen Raum angesiedelt. Dort befindet sie sich noch in der Nähe der meisten Mitglieder, hat aber gleichzeitig besseren Zugang zu leistbarem Ackerland als in der Stadt selbst. Mehrere gut erreichbare Verteilstände und Abholstationen ermöglichen die Verteilung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse in der Nähe der Mitglieder.

Organisatorische Nähe.

Die CSA ist als Verein organisiert (zuständig für Verwaltung, interne und externe Kommunikation), der den landwirtschaftlichen Betrieb führt (zuständig für Lebensmittelproduktion und -verteilung). Alle CSA-Mitglieder gehören dem Verein an während die etwa 10 produktionsseitigen CSA-Mitglieder zusätzlich beim landwirtschaftlichen Betrieb beschäftigt sind. Ein Vereinsvorstand, bestehend aus produktionsseitigen und konsumseitigen CSA-Vertreterinnen und Vertretern, trifft interne Vereinbarungen und vermittelt zwischen den verschiedenen Bedürfnissen. Demnach gibt es also „nicht den einen Chef, der alles allein bestimmt, sondern Vertreter von Betrieb und Verein, die gemeinsam probieren, gute Entscheidungen für die CSA zu treffen“, so ein Mitglied der CSA. Grundlegende Entscheidungen, wie die Höhe des jährlichen Mitgliedsbeitrages, werden bei Jahresversammlungen aller CSA-Mitglieder diskutiert und abgestimmt. Er gilt als Orientierung. Die CSA-Mitglieder können je nach ihren Möglichkeiten auch mehr oder weniger bezahlen. Der Mitgliedsbeitrag soll eine wöchentliche Versorgung mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen der CSA garantieren. Seine Höhe wird so vorgeschlagen, dass die fixen und variablen Kosten der CSA gedeckt sind und am Betrieb arbeitende CSA-Mitglieder möglichst fair bezahlt werden können. Durch diese Art der Vorfinanzierung tragen alle CSA-Mitglieder das Risiko der landwirtschaftlichen Produktion (z. B. Ernteausfälle) mit. Gewinne werden in den Fortbestand und die Weiterentwicklung der CSA investiert.

Institutionelle Nähe.

Neben persönlichen Gründen (z. B. Zugang zu qualitativ hochwertigen Lebensmitteln) sind viele CSA-Mitglieder durch Nachhaltigkeitsaspekte motiviert, die über den eigenen Nutzen hinausgehen. Neben der ökologischen Bewirtschaftungsweise wollen sie eine sozial nachhaltigere Art des Miteinanders von Produzentinnen und Produzenten sowie Konsumentinnen und Konsumenten ermöglichen. Als „Gegenargument zu den vorherrschenden Konsumformen“ experimentieren CSA-Mitglieder mit Alternativen zu den auf dem konventionellen Lebensmittelmarkt bestehenden Regeln, Normen und Praktiken, z. B. solidarische Formen der Beziehungen zwischen Produzentinnen und Produzenten mit Konsumentinnen und Konsumenten, basisdemokratische Führungsstile sowie auf Freiwilligkeit basierende Organisationsstrukturen. Da sich das CSA-Modell radikal von den traditionellen Institutionen im Lebensmittelsystem unterscheiden will, sehen sich die Mitglieder mit einer herausfordernden rechtlichen Situation und einem Mangel an öffentlicher Unterstützung konfrontiert.

Kognitive Nähe.

Die Vorstandsmitglieder des Vereins kommunizieren die Vorhaben und Ziele der CSA in Informationsveranstaltungen und Newslettern an die Mitglieder und an CSA-Interessierte. Ergänzend können alle Mitglieder auch praktische Erfahrung im Obst- und Gemüseanbau sammeln, indem sie freiwillig auf dem landwirtschaftlichen Betrieb mithelfen (z. B. beim Anbau und der Ernte von Gemüse). Darüber hinaus stehen die CSA-Mitglieder in regelmäßigem Austausch mit anderen CSA-Gruppierungen und teilen so überregional Wissen und Erfahrungen.

Soziale Nähe.

CSA-Mitglieder können sich bei regelmäßigen Veranstaltungen (z. B. bei Mithilfetagen am CSA-Betrieb, Hoffesten, Mitgliederversammlungen) persönlich besser kennenlernen und so Vertrauen aufbauen. Mitglieder, die innerhalb der CSA besonders aktiv sind (z. B. durch regelmäßige Mitarbeit am landwirtschaftlichen Betrieb, organisatorische und administrative Tätigkeiten), kennen sich meist persönlich gut. Konflikte und Misstrauen entstehen jedoch durch persönliche Unstimmigkeiten innerhalb der CSA, z. B. durch mangelndes Verständnis für die jeweiligen Tätigkeiten, Ziele und Anforderungen produktionsseitiger versus konsumseitiger CSA-Mitglieder.

5 Fallbeispiel II: Kaffeedirekthandel Peru – Deutschland

Im Jahr 2013 gründeten 50 Kaffeeproduzentinnen und -produzenten in der Provinz Chanchamayo in Peru auf Initiative eines deutschen Auswanderers eine kleine Kooperative, die er gemeinsam mit einem aus dem Dorf stammenden Kaffeeproduzenten managt. Ein deutsches Pensionistenehepaar importiert den Kaffee und vertreibt ihn in Deutschland, u. a. an einen Qualitätsröster in Süddeutschland. Über die Webseiten des Rösters bzw. der Kooperative erhalten Konsumentinnen und Konsumenten Informationen über den Kaffee, das Anbaugebiet sowie die Produzentinnen und Produzenten. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme (Telefon, E-Mail), auch Besuche von Konsumentinnen und Konsumenten bei der Kooperative sind theoretisch denkbar.

Geografische Nähe.

Die beiden Manager der Kooperative pendeln zwischen der Hauptstadt Lima und den Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten. Das importierende Ehepaar besucht das Dorf jährlich. Der Röster war bisher zweimal in der Kooperative in Peru. Die persönlichen Treffen dienen dem gegenseitigen Austausch und wechselseitigem Lernen. Hierbei werden Kaffeequalität, Preis, Verträge und Allfälliges besprochen und neue gemeinsame Projekt überlegt.

Diese temporäre geografische Nähe intensiviert die soziale Nähe (besseres Kennenlernen, auch auf persönlicher Ebene), die institutionelle Nähe (Gespräche über Qualität, Werte, Ziele) und die kognitive Nähe (Wissensaustausch, wechselseitiges Lernen, Wissensaufbau).

Organisatorische Nähe.

Die Kooperative exportiert die grünen Kaffeebohnen nach Deutschland an das importierende Ehepaar, die sie an den Qualitätsröster weiterverkaufen. Dieser Prozess ist vertraglich geregelt. Während der jährlichen Besuche der Importeurin und des Importeurs in Peru verhandeln sie die Preise mit dem Management neu, wobei sie hauptsächlich die Verwaltungskosten der Transaktion abziehen und den Gewinn an die Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten weitergeben. Der Kaffeepreis wird basierend auf der sensorischen Kaffeequalität nach der Verkostung festgelegt, was in der Branche nur im Qualitätskaffeesegment üblich ist (Preisberechnung sonst auf Grundlage der physischen Qualität der grünen Bohnen). Aufgrund der hohen Qualität verdienen die Mitglieder der Kooperative mehr als andere Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten in der Region. Zudem bezahlt das importierende Ehepaar die Hälfte der Kosten im Voraus, was der Kooperative hilft, die laufenden Kosten zu decken.

Institutionelle Nähe.

Allen Akteurinnen und Akteuren ist die hohe sensorische Qualität des Kaffees wichtig. Das importierende Ehepaar erklärt dieses Anliegen so: „mit guter Qualität kommt alles andere nach“ oder „guter Kaffee für gutes Geld“. Die hohe Qualität des Kaffees wird somit als Mittel zur Steigerung des Einkommens und der Lebensqualität der Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten gesehen. Aufgrund der kontinuierlichen Qualitätssteigerung nehmen die Mitglieder der Kooperative mittlerweile sogar an internationalen Kaffeewettbewerben teil. Die beiden Manager der Kooperative, das importierende Ehepaar und der Röster betonen eine starke, über den Eigennutzen hinausgehende Motivation: Ihr Hauptanliegen sei das Wohlergehen der peruanischen Kaffeeproduzentinnen und -produzenten. Sie realisieren zudem ständig Projekte, um das Wissen und die Lebensqualität der Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten zu steigern sowie ihnen Zusatzeinkommen zu ermöglichen (z. B. Vermarktung von Kaffeenebenprodukten, wie aus getrockneten Kaffeekirschen hergestellter Tee).

Kognitive Nähe.

Zwischen den Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten, den Managern der Kooperative, dem importierenden Ehepaar und dem Röster herrscht ein reger Wissensaustausch. Regelmäßige Besuche der Deutschen in Peru sowie gemeinsame Trainings mit den Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten fördern (gegenseitiges) Lernen über Kaffeeproduktion, -handel und -verkostung, aber auch über die Lebensrealität des jeweiligen Gegenübers.

Soziale Nähe.

Die Akteurinnen und Akteure in diesem Fallbeispiel beschreiben sich gegenseitig als Freunde. Das durch regelmäßige persönliche Treffen kultivierte Vertrauen fördert den persönlichen Austausch zwischen den Kaffeeproduzentinnen und -produzenten und dem Pensionistenehepaar. Importeurin und Importeur formulieren das so: „Der Vorteil ist ja, dass wir vor Ort sind, mit denen was erleben, ein bisschen uns besser vorstellen und nachvollziehen können, was eigentlich notwendig ist, was sind die Schwächen, wo kann man was verbessern und wo kann man sie bestärken … Und dass man viel mehr wertschätzt, wenn man vor Ort ist, und man weiß, das erfordert viel Arbeit, die sie machen, und man lernt, glaub ich, das Produkt mehr zu schätzen.“ Das Vertrauen zwischen allen Akteurinnen und Akteuren wird durch kontinuierliche, verlässliche Zusammenarbeit gepflegt und vertieft.

6 Vergleich der Fallbeispiele, Diskussion und Schlussfolgerungen

Die Anwendung des konzeptionellen Analyserahmens auf zwei geografisch und organisatorisch verschiedene Fallbeispiele – eine lokale CSA und ein transkontinentaler Kaffeedirekthandel – veranschaulicht, wie die Dimensionen der Nähe in ALN analytisch differenziert werden können. Die unterschiedlichen Ausprägungen von geografischer, organisatorischer, institutioneller, kognitiver und sozialer Nähe können so systematisch verglichen werden.

Im Gegensatz zu den in traditionellen Lebensmittelwertschöpfungsketten üblichen Preisschwankungen für Produzentinnen und Produzenten (Bargawi und Newman 2013), versuchen die Akteurinnen und Akteure in beiden Fallbeispielen, Gewinne und Risiken gerecht unter sich zu verteilen. In beiden Beispielen sorgt das Modell der Vorfinanzierung für stabile Preise über das ganze Jahr hinweg. Die Akteurinnen und Akteure der beiden Fallbeispiele eint, dass sie durch organisatorische Nähe eine höhere Lebensqualität erreichen möchten, insbesondere für die Produzentinnen und Produzenten.

In Bezug auf die organisatorische Nähe zeigen beide Fallbeispiele, dass das System der (teilweisen) Vorfinanzierung den landwirtschaftlichen Produzentinnen und Produzenten größere Einkommenssicherheit bietet, was die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Literatur bestätigt (Bargawi und Newman 2013). Im Fall der CSA übernehmen die Konsumentinnen und Konsumenten einen Teil des Ertragsrisikos, da sie bei Entrichtung des Mitgliedsbeitrags zu Saisonbeginn nicht genau wissen, wie hoch ihr Ernteanteil an Obst und Gemüse ausfallen wird. Im Fall des Kaffeedirekthandels tragen die Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten einen größeren Teil des Risikos. Sie haben zwar eine Abnahmegarantie, die Erzeugerpreise werden aber erst auf Grundlage der sensorischen Kaffeequalität nach der Ernte festgelegt.

Gemeinsame Erfahrungen im Umgang mit Lebensmittelqualität können zu einer Annäherung von Werten (Dubois 2018) und damit zu mehr institutioneller Nähe führen, was sich in beiden Fallbeispielen zeigt. Hier gibt es große institutionelle Nähe zwischen den Akteurinnen und Akteuren, die in ihrer starken Orientierung an ökologischen Zielen und dem gemeinsamen Interesse an der Verbesserung der Lebensmittelqualität begründet ist. Zudem betonen sie, dass sich ihre Werte und Normen (in Bezug auf Produktqualität, Nachhaltigkeit, gegenseitiges Wohlergehen und Wertschätzung) von den vorherrschenden Praktiken in der Lebensmittelproduktion und -verteilung unterscheiden (Plank et al. 2020; Wohlmacher 2018). Institutionelle Nähe kann effektives Lernen und Koordinieren auf verschiedenen Ebenen fördern. Ein Zuviel davon behindert aber womöglich die Innovationskraft – das höchste Gut von ALN –, da divergierende Werte und Sichtweisen hier von Vorteil sind: So entstehen ganz neue Lösungsräume und innovative Ideen, die bei sehr ähnlichen Institutionen eher nicht angedacht werden (Coenen et al. 2010). Die Akteurinnen und Akteure in beiden Fallbeispielen betonen aber einhellig die Notwendigkeit institutioneller Distanz zu den vorherrschenden Regeln und Praktiken im Lebensmittelsystem, um im geschützten Rahmen des ALNs mit neuen Regeln und Werten experimentieren zu können.

Die beiden Fallbeispiele bestätigen, dass Lernprozesse kognitive Nähe erhöhen und sich fachliche Wissensbasen durch häufige Interaktionen im Laufe der Zeit angleichen können (Balland et al. 2015). In der CSA findet gegenseitiges Lernen durch regelmäßige Kontakte und Information statt, aber auch durch die praktische Mitarbeit in der Vereinsorganisation und in der landwirtschaftlichen Produktion, wobei die Mitglieder unterschiedlich stark eingebunden sind. Im Fallbeispiel des Kaffeedirekthandels wurde kognitive Nähe über Jahre durch Wissensaustausch und Zusammenarbeit zwischen der Kaffeekooperative in Peru mit den Akteurinnen und Akteuren in Deutschland aufgebaut. Die Akteurinnen und Akteure in beiden Fallbeispielen suchen aber auch gezielt den Austausch mit externen Expertinnen und Experten, um neues Wissen zu generieren und für sich nutzbar zu machen.

Beide Fallbeispiele zeigen, wie von Balland et al. (2015) und Coff et al. (2008) beschrieben, dass ein hohes Maß an persönlicher Bekanntschaft vertrauensvolle Beziehungen – also soziale Nähe – zwischen den Akteurinnen und Akteuren fördert. In der lokal organisierten CSA ist es relativ einfach, sich persönlich zu treffen. Ein hohes Maß an sozialer Nähe besteht vor allem zwischen den aktiveren CSA-Mitglieder (z. B. im Vereinsvorstand) während der Großteil der konsumseitigen CSA-Mitglieder eine eher geringe soziale Nähe aufweist. Diese Unterschiede in der sozialen Nähe haben in der Vergangenheit auch zu (existentiellen) Konflikten innerhalb der CSA geführt. Unsere Ergebnisse bestätigen damit, dass große soziale Nähe positive Auswirkungen hat. Wenn aber die Vertrautheit unter den Akteurinnen und Akteuren ungleich verteilt ist, kann dies auch zu Abhängigkeiten und Konflikten führen, die sich nachteilig auf die Zusammenarbeit auswirken können (Coenen et al. 2010).

Das Fallbeispiel des Kaffeedirekthandels ist unter dem Aspekt der sozialen Nähe besonders interessant, da keine dauerhafte geografische Nähe zwischen der Kaffeekooperative in Peru und den Akteurinnen und Akteuren in Deutschland vorhanden ist, aber dennoch ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen aufgebaut wurde. Neben temporärer geografischer Nähe durch regelmäßige persönliche Besuche der Deutschen in Peru spielt hier die direkte Kommunikation zwischen den Akteurinnen und Akteurinnen über Onlinemedien eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang übernehmen die beiden Manager der Kooperative eine wichtige Vermittlerfunktion zwischen Kaffeeproduzentinnen und Kaffeeproduzenten, dem importierenden Ehepaar und dem Röster. Hier bestätigt sich, dass dauerhafte geografische Nähe für den Aufbau von sozialer, kognitiver, institutioneller und organisatorischer Nähe nicht zwingend notwendig ist, sofern sie durch andere direkte Kommunikationsformen kompensiert wird (Bos und Owen 2016).

Die Relokalisierung des Lebensmittelsystems wird sowohl von Politikerinnen und Politikern als auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefordert (Hinrichs 2014; IPES-Food 2018; Janssens und Sezer 2013; Kneafsey et al. 2013; Peters 2012; SAPEA 2020). Sie bezieht sich vor allem auf die Herstellung geografischer Nähe zwischen den Akteurinnen und Akteuren im Lebensmittelsystem. Im Gegensatz dazu zeigt unser Fallbeispiel über den Kaffeedirekthandel, dass geografische Nähe nicht unbedingt eine Voraussetzung für relationale Nähe in ALN darstellt. Geografische Nähe kann zwar relationale – d. h. soziale, institutionelle, organisatorische und kognitive – Nähe begünstigen, führt aber nicht automatisch zu Vertrauen, Solidarität oder Transparenz. Vielmehr ist es so, dass sich alle fünf Nähedimensionen gegenseitig unterstützen, ergänzen oder zumindest teilweise ersetzen können (Breschi und Lissoni 2003; Broekel und Boschma 2012). Relationale Nähe kann zusammen mit mediengestützter direkter Kommunikation die Notwendigkeit dauerhafter geografischer Nähe als Voraussetzung für Innovationen und Lernen weitgehend ersetzen. Darüber hinaus kann soziale Nähe, ergänzt durch kognitive Nähe, die Übertragung von wertgeladenen Informationen zwischen Akteurinnen und Akteuren unterstützen (Dubois 2019). Coenen et al. (2010) betonten, dass sich die Literatur auf die Vorteile von Nähedimensionen konzentriert und dabei mögliche Nachteile außer Acht lässt. Ein Hinweis darauf, dass zu viel Nähe nachteilig sein kann, findet sich im Fallbeispiel der CSA, wo die ungleiche Verteilung von Nähe und die daraus resultierende Bildung von verschiedenen Gruppen mit großer sozialer Nähe bzw. geringer sozialer Nähe zu existentiellen Konflikten führen kann.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der konzeptionelle Analyserahmen seine Eignung zur Beschreibung und zum Vergleich der Nähedimensionen in unterschiedlichen ALN unter Beweis gestellt hat. In der zukünftigen Forschung können damit weitere Formen von ALN (z. B. Foodcoops, Bauernmärkte, Direktvermarktung oder Onlinevermarktungsplattformen) systematisch untersucht und identifiziert werden, um so die Beziehungen innerhalb der Wertschöpfungskette langfristig zum Vorteil aller Beteiligten gestalten zu können.