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1 Einleitung

Im Rahmen des Projektes „KuDeQua – Kultur- und demografiesensible Entwicklung bürgerschaftlich getragener Finanzierungs- und Organisationsmodelle für gesellschaftliche Dienstleistungen im Quartier“, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung in der Fördermaßnahme „Kommunen innovativ“, wurden unter anderem von Bürger*innen getragene (soziale) Dienstleistungen im Quartier untersucht. Hierzu sind zahlreiche Interviews mit Initiativen, Sozialunternehmen und Bürger*innen, die sich für das und im Quartier engagieren, geführt worden. Zentrale Fragestellung war, wie sich derartige Unternehmungen finanzieren, organisieren und ob bzw. welchen Hilfebedarf – insbesondere von kommunaler Seite – es gibt. Zudem fand eine ausführliche Analyse bestehender Studien statt, die vornehmlich mit Fallstudien arbeiten.

Die Untersuchung konnte zeigen, dass viele Initiativen und engagierte Bürger*innen ihre Vorhaben – insbesondere zu Beginn – unabhängig von anderen Institutionen aufbauen. Auch kommunale Akteur*innen werden selten in der Startphase einbezogen. Zugleich konnten ausgewertete Fallstudien belegen, und dies spiegelt auch die Erkenntnisse aus den Gesprächen im Rahmen des Projektes KuDeQua wider, dass eine frühzeitige Kontaktaufnahme und/oder Kooperation zwischen den zivilgesellschaftlich engagierten Personen und kommunalen Akteur*innen hilfreich für die Entwicklung des Vorhabens sein kann, was sich wiederum auf eine positive und aktive Stadtgestaltung auswirken kann: Denn hierdurch können die Expertise, sowohl von kommunaler Seite als auch die der lokalen Expert*innen, erhöht, Erwartungshaltungen und Zielsetzungen frühzeitig geklärt und mögliche Unterstützungsleistungen, die vor allem zu Beginn für Vorhaben wichtig sind (etwa im Hinblick auf Finanzierung, Organisation und Verwaltung), genutzt werden. Die Unterstützung von Vorhaben, die auf eine Stadtentwicklung abzielen und bottom-up entstanden sind, weisen – im Vergleich zu top-down initiierten Beteiligungsmaßnahmen – häufig größere Chancen auf, sich nachhaltig zu etablieren und Wirkung zu entfalten.

Der vorliegende Beitrag thematisiert nicht bürgerschaftliches Engagement im Allgemeinen, sondern fokussiert einen Typus von Engagierten, der sich unter dem Begriff der „Stadtaneigner*innen“ zusammenfassen lässt. Hierzu sind, neben den Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt, weitere Literaturanalysen vorgenommen worden, die in der wissenschaftlichen Betrachtung des Themas in diesem Beitrag Einzug fanden. Hintergrund der Auswahl der Engagierten ist, dass sich seit geraumer Zeit – unter vielfältigen Namen, wie etwa Raumpionier*innen, Stadtmacher*innen etc. – Formen der selbstbestimmten Aneignung von Stadträumen erkennen lassen. Diese Räume werden von Bürger*innen für Vorhaben und Projekte genutzt und in Wert gesetzt. Dieses Engagement unterscheidet sich insofern von herkömmlichem bürgerschaftlichem Engagement, als dass sich diese Gruppe unabhängig von Institutionen Stadtentwicklungsthemen widmet und dabei explizit die eigene lokale Community und die Mitbürger*innen im Blick hat. Eine Zusammenarbeit zwischen den Aneigner*innen und kommunalen Akteur*innen ist hierbei bisher eher die Ausnahme als die Regel. Vor dem Hintergrund zahlreicher Herausforderungen in den Quartieren sowie veränderter Bedarfslagen der Bewohner*innen stellt sich die Frage, wie womöglich bisher ungenutzte Potenziale im Hinblick auf eine Kooperation und/oder Koproduktion dieser beiden Akteursgruppen „Stadtaneigner*innen“ und „Kommune“ gehoben werden können.

Hierzu wird im vorliegenden Beitrag zunächst auf aktuelle Herausforderungen in Quartieren sowie ihre Bedeutung für die Bürger*innen eingegangen. Verschiedene Faktoren und neue Bedarfslagen der Bewohner*innen prägen die Anforderungen an Quartiere. Im Anschluss daran wird auf das heterogene Feld der Akteur*innen, die sich für und im Quartier engagieren, eingegangen. Im darauf folgenden Kapitel steht die Frage im Vordergrund, ob „Aneignung“ ein neues Phänomen darstellt und was darunter zu verstehen ist. Sowohl auf Basis der Erfahrungen im Zuge des Projektes „KuDeQua“, den darin geführten Expert*innengesprächen und weiterführender Literaturrecherche wird dann diskutiert, welche Potenziale sich aus einer Zusammenarbeit zwischen den Engagierten und kommunalen Akteur*innen ergeben und mit welchen Herausforderungen und Konflikten sie sich jeweils konfrontiert sehen. Ziel des Beitrages ist es, einen Überblick über eine Engagementform zu geben, die schon jetzt große Wirkungsmöglichkeiten im Sinne einer positiven Stadt- und Quartiersgestaltung birgt, aber gleichermaßen noch ungenutzte Potenziale mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen kommunalen und bürgerschaftlichen Akteur*innen aufzeigt. Es ist vorwegzunehmen, dass eine Zusammenarbeit zur Bewältigung von Herausforderungen – gleich mit welcher Form zivilgesellschaftlichen Engagements – neue Aufgabenprofile und Rollenzuschreibungen, insbesondere in der kommunalen Verwaltung, mit sich bringt. Wie diese ausgestaltet werden müssen, ist bisher nicht abschließend geklärt, auch wenn bereits viele Aspekte „neuer“ Aufgabenfelder im wissenschaftlichen Diskurs thematisiert werden (u. a. Reichwein und Trauth-Koschnick 2010).

2 Herausforderungen in der Quartiersentwicklung und die Bedeutung des Lokalen

Städte und Quartiere werden durch vielfältige externe Einflüsse geprägt. Diese wiederum haben Einfluss auf die Bedeutung des Quartiers für ihre Bewohner*innen. So lassen sich in der Diskussion um die Bedeutung von Quartieren unterschiedliche Trends erkennen, die in der Forschung und Diskussion im Bereich der Stadtentwicklung gleichermaßen viel Beachtung finden: Vor dem Hintergrund der Globalisierung, digitaler Kommunikationswege sowie einer höheren Mobilität verlieren Quartiere als Lebensmittelpunkt für die Bewohner*innen an Bedeutung. Zugleich jedoch nimmt der „nahräumliche soziale und physisch-räumliche Kontext“ (Schnur und Markus 2010, S. 182) an Bedeutung zu. Dieses Paradoxon, eine steigende Bedeutung des Lokalen bei gleichzeitiger Zunahme der globalen Zentrifugalkräfte, kommt in dem Begriff der „Glokalisierung“ zum Ausdruck (vgl. Robertson 1998; Schnur und Markus 2010; Schnur 2018) und birgt ein Spannungsfeld in Stadtentwicklungsprozessen (vgl. Reichwein und Trauth-Koschnick 2010, S. 250). Die lokalen Bezugspunkte, so der Argumentation folgend, nehmen zur Abwendung von Unsicherheiten, zur Reduzierung von Komplexität und zur Erzeugung von Kontinuität bei den Bewohner*innen eine größere Rolle ein (vgl. Brocchi 2019, S. 10). Neben den Globalisierungsprozessen spielen auch die sozio-demografischen Ausprägungen in Bezug auf eine wachsende Relevanz des unmittelbaren Umfeldes eine Rolle. Heterogenisierung, Singularisierung, Alterung und weitere Faktoren tragen dazu bei, dass die Angebote und Versorgungsmöglichkeiten, aber auch soziale Netzwerke und außerverwandtschaftliche Beziehungen im Quartier für Bürger*innen an Bedeutung gewinnen (vgl. ebd.).

Die Bedeutung des unmittelbaren Umfeldes und damit eine Hinwendung zum „Raum“ ist auch in der (Kommunal-)Politik erkennbar (vgl. Schnur und Markus 2010, S. 182; Selle et al. 2017, S. 29): So etablierte sich beispielsweise mit dem Programm „Soziale Stadt” seit dem Jahr 1999 ein Quartiersansatz, der die Entwicklungspotenziale der Räume – auch der benachteiligten Viertel – endogen verortet (vgl. ebd.). Das Städtebauförderprogramm hat seit seiner Einführung zum Ziel, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern und Gemeinschaft zu fördern (vgl. BMI 2019a). Im Jahr 2016 wurde weiterhin eine ressortübergreifende Strategie „Soziale Stadt – Nachbarschaften stärken, miteinander im Quartier“ beschlossen, mit der Nachbarschaft und sozialer Zusammenhalt in bisher fünf Modellquartieren gestärkt werden sollen. Damit wird auch politisch dem nahräumlichen Kontext eine große Bedeutung zugemessen.

Vor dem Hintergrund oben beschriebener Trends und Einflüsse sowie aktueller und zukünftiger Herausforderungen verändern sich die lange als stabil geltenden Qualitäten der Quartiere, es entstehen neue Bedarfslagen. Als Herausforderungen, die unmittelbaren Einfluss auf Quartiere und deren Qualitäten haben, sind z. B. ein verändertes Konsumverhalten, der zunehmende Online-Handel bei gleichzeitigem Festhalten an hohen Gewerbemietpreisen (vgl. Reink 2019) und die daraus resultierenden Herausforderungen für Einzelhandel und Handwerk, eine erhöhte Mobilität und eine erkennbare, sich verschärfende soziale Ungleichheit zu nennen. Die Funktion der Stadt, des Quartiers bzw. des unmittelbaren Umfeldes verändert sich für die Bewohner*innen, zugleich aber auch für die dort ansässigen Dienstleistenden und Einzelhändler*innen. Neben der Herausforderung, die (Nah-)Versorgung in den Quartieren sicherzustellen, kommt der Aufgabe, neuen Bedarfen gerecht zu werden und das Lebensumfeld zielgruppenspezifisch zu gestalten, eine wachsende Rolle zu. Zugleich sind viele Kommunen in Deutschland mit einer strukturellen Finanzschwäche konfrontiert, die die Handlungsspielräume der Verwaltungen zunehmend einschränkt (vgl. Siebel 2010, S. 34). Quartiere bilden die Orte, an denen sich kleinräumig die Lebenswelt der Bewohner*innen aktiv gestalten und den Herausforderungen begegnen lässt. Dabei bemisst sich die Qualität der Quartiere an Infrastruktur und seinen (Frei-)Räumen für ihre Bewohner*innen (vgl. Baumgart 2011, S. 64). Der Kommune kommt dabei die Aufgabe zu, angesichts der sich auflösenden kollektiven raumzeitlichen Muster, Möglichkeitsräume zu schaffen, zu sichern und zu entwickeln (vgl. Baumgart 2011, S. 65), um den genannten Herausforderungen Rechnung zu tragen.

Gute Stadtentwicklung benötigt jedoch vielfältige Impulse, sowohl von Seiten der öffentlichen Verwaltung als auch von Seiten der Zivilgesellschaft, welche am Gemeinwohl orientiert ist (vgl. BMI 2019b). Es werden Alternativen zu althergebrachten Strukturen in der Gestaltung von Städten benötigt, sei es in Bezug auf die Innenstädte, deren Herausforderungen – insbesondere im Bereich Einzelhandel und Gastronomie, die sich durch die aktuelle Situation mit dem Coronavirus noch verschärfend zeigen –, aber auch in Bezug auf die Nebenzentren und (Wohn-)Quartiere. Diese als attraktive Räume zu erhalten, Nahversorgung sicherzustellen, Leerstände zu beheben und die mit dem Verlust an Einzelhandel einhergehenden weggebrochenen Möglichkeiten der (sozialen) Teilhabe, Kommunikation und Integration zu kompensieren, bilden die dringenden Handlungsfelder in der Quartiersentwicklung.

Diese Entwicklungen gehen einher mit einer an vielen Orten sichtbaren Kultur der Stadtaneignung. Zunehmend ist erkennbar, dass die Gestaltung des unmittelbaren Raumes durch Bewohner*innen selbst geschieht, indem diese sich Räume „aneignen“. Das unmittelbare Wohnumfeld wird hier genutzt, um neue Wege zwischen Individualität und Gemeinschaft zu finden und dem eigenen Lebensstil Ausdruck zu verleihen, indem dieser „verortet“ wird. Dies geschieht unter anderem durch die Aneignung des nahräumlichen Kontextes (vgl. Brocchi 2019, S. 10). Viele Beispiele zeigen auf, wie mit aktuellen Herausforderungen in der Quartiersentwicklung und damit der Gestaltung des öffentlichen Raumes und der Lebenswelt der Bewohner*innen umgegangen werden kann, sowohl durch die Aneignung urbaner Räume von einer Vielzahl an Akteur*innen als auch durch spezifische Maßnahmen von kommunaler Seite. Besonders vielversprechend wirken dabei Kooperationen und Koproduktionen von Bürger*innen mit kommunalen Akteur*innen. Studien zeigen jedoch auf, dass diese Potenziale noch nicht ausgeschöpft werden und die jeweiligen Handlungslogiken der unterschiedlichen Akteur*innen, etwa bei Stadtplanungsprozessen, noch immer zu Herausforderungen und Dilemmata führen (vgl. u. a. Brocchi 2018; Spars und Overmeyer 2016; Willinger 2007). Ein zentrales Element, um diesen Herausforderungen und Dilemmata zu begegnen, welches sich auch aus den Ergebnissen des Projektes KuDeQua und den darin geführten Expert*innengesprächen ableiten lässt, liegt in der Kommunikation, dem Aushandeln und dem gegenseitigen Verständnis mit Blick auf die Motivation, Zielsetzungen und Erwartungshaltungen des jeweils anderen vor dem Hintergrund von dessen Vorstellungen von einem lebenswerten Quartier. Aus den Gesprächen mit den bürgerschaftlich organisierten Initiativen und engagierten Personen im Projekt KuDeQua hat sich zudem gezeigt, dass es eine Stärkung bürgerschaftlichen Engagements und (neuer) Unterstützungs- und Begleitstrukturen von Seiten der Kommunen bedarf, insbesondere dann, wenn aus informellen Vorhaben und Projekten formelle Strukturen etabliert werden (sollen).

Chancen für eine positive Quartiersentwicklung können sich ergeben, wenn Synergien genutzt werden – zwischen den von kommunaler Seite unabhängig entstandenen Initiativen, Vereinen, losen Zusammenschlüssen oder einzelnen Akteur*innen, die ihr Lebensumfeld aktiv selbst gestalten (wollen), und den Anstrengungen kommunaler Akteur*innen. Die Fragen, die sich in diesem Kontext stellen, sind, wie diese Synergien gehoben, mögliche Kooperationen und Koproduktionen ausgestaltet und welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Hierfür ist ein Verständnis darüber notwendig, wer sich hinter den Akteur*innen in der Quartiersentwicklung und der Stadtaneignungskultur verbirgt.

3 Akteurslandschaft in der Quartiersentwicklung – heterogen, vielfältig und intermediär

„Stadt ist nicht. Stadt wird.“ (Selle 2018, S. 8), so leitet Selle sein Buch „Stadt entwickeln: Arbeit an einer Gemeinschaftsaufgabe“ ein. Dies verdeutlicht, dass Städte in Bewegung und einem permanenten Wandel unterworfen sind (vgl. ebd.). Diese stetige Bewegung wird durch eine Vielzahl an Faktoren beeinflusst, wie etwa Kapitalströme, technologische Innovationen, Klimawandel, etc. Eine bedeutende Rolle nehmen aber auch die in ihr wirkenden Akteur*innen mit ihren unterschiedlichen Rollen ein (vgl. ebd.). Es lassen sich neben kommunalen Akteur*innen unter anderem Immobilieneigentümer*innen, Investor*innen, wirtschaftlich tätige Akteur*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft ausmachen, die die Entwicklung der Stadt und der Quartiere maßgeblich mitentwickeln und gestalten. So entwickelt sich das allgemeine Wohl in der Stadtentwicklung in einem Zusammenspiel dreier Engagementformen: dem staatlichen (öffentliche Verwaltung und Lokalpolitik), dem marktwirtschaftlichen (ökonomisch handelnde Akteur*innen) und dem zivilgesellschaftlichen (Gruppen, Initiativen, Vereinen) Engagement (vgl. BMI 2019b; Selle 2018, S. 20). Die Übergänge zwischen diesen Sphären sind dabei nicht statisch, sondern fließend. Beck und Schnur beschreiben dieses Verhältnis als ein Kräftedreieck zwischen Kommunalpolitik/-verwaltung, lokaler Wirtschaft und Bürger*innen, die durch Intermediäre im Mittelfeld ergänzt werden (vgl. Beck und Schnur 2016, S. 23) (Abb. 1). Intermediäre agieren dabei zwischen den drei Sektoren kommunaler (staatlicher) Institutionen, wirtschaftlicher Akteur*innen und organisierter Zivilgesellschaft sowie einzelnen Bürger*innen (vgl. Beck et al. 2017, S. 2).

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung nach Selle 2018; Beck und Schnur 2016)

Kräftedreieck in der Stadtentwicklung.

Intermediäre werden dabei definiert als „Vermittler zwischen Politik/Verwaltung, Wirtschaft und Bürgerinnen und Bürgern und/oder aktive Koproduzenten von Stadt in variierenden Akteursnetzwerken“ (Beck und Schnur 2016, S. 24). Beck und Schnur ordnen Intermediäre in drei Typen ein (ebd., S. 42 ff.):

  1. 1.

    Die klassischen Intermediäre: In dieser Logik sind die Intermediäre Teil des politischen Aushandlungssystems gesellschaftlicher Interessen, die sowohl bottom-up als auch top-down entstanden sein können. Hierunter fallen etwa Kirchengemeinden, Parteien (Ortsverbände), Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände oder auch Bürgervereine.

  2. 2.

    Neo-Intermediäre: Ein neues Mitwirkungsverständnis im Sinne von Koproduktion von Stadt hat den Typus des Neo-Intermediäres hervorgebracht. In den 1970er-Jahren begannen sie auf dem Feld neben dem klassisch-demokratischen Gebäude flache und flexible Strukturen zu entwickeln. Diese haben sich in den vergangenen Jahrzehnten ausdifferenziert und in komplexe Netzwerke verwoben. Die heutige Generation der Neo-Intermediären als Teil der Bürgergesellschaft, so Beck und Schnur, zeichnet sich durch ihre Stärke aus, neue Teilgruppen und Milieus der Stadtgesellschaft zu erreichen, Kommunikationswege zu kennen und ihren Fokus nicht auf die Gesellschaft, sondern ihre „Community“ sowie weniger auf die Bürger*innen als auf die „Mitbürger*innen“ zu richten. Als Beispiele sind soziale Bewegungen (z. B. Recht auf Stadt), Urban Gardening Initiativen, Anwohner*inneninitiativen, Sharing Economy, Non-Profit-Nachbarschaftsplattformen oder auch hyperlokale urbane Blogsphären zu nennen.

  3. 3.

    Para-Intermediäre: Hierunter fassen Schnur und Beck urbane Player ohne Bürgerbasis, etwa Lobbyverbände. Neben den klassischen Lobbyverbänden, z. B. Wirtschaftsverbänden, entstehen neue Intermediäre, die sich vermehrt mit der horizontalen Netzwerkebene im Kontext der Urban-Governance-Sphäre verknüpfen. Im städtischen Bereich verkörpern etwa Immobilienverbände, organisierte Einzelhändler*innen oder Entwicklungsgesellschaften diesen Typus.

Gleich ist den Typen der Intermediären, dass diese „in Vermittlungs-, Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen der Stadtentwicklung agieren und sich dabei an den Schnittstellen von reglementiertem, rechtlich gerahmtem Government und eher informellen Governance-Strukturen befinden“ (Beck et al. 2017, S. 1). Dies verdeutlicht, dass die schematische Abbildung der Akteur*innengruppen in der Realität vielfältiger ist: So gibt es Akteur*innen, die auf unterschiedlichen Ebenen agieren und sich keiner Sphäre fest zuordnen lassen (vgl. Selle 2018, S. 421 f.). In diesem Beitrag wird insbesondere auf Akteur*innen eingegangen, die sich dem Typus der zweiten Gruppe der Neo-Intermediären zuordnen lassen. Vergleichsweise unabhängig von institutionalisierten Entscheidungssystemen bilden sie mehr oder weniger organisierte Netzwerke, Interaktionen und Räume der Kommunikation, die die Stadt- und Quartiersentwicklung zunehmend prägen und mitgestalten (vgl. ebd.). Dabei interagieren sie zwischen Sphären und deren Handlungslogiken – politischen, verwaltungstechnischen, ökonomischen und sozialen (vgl. ebd.).

Alle an der Stadtentwicklung beteiligten Akteur*innen bringen hierbei unterschiedliche Ziele, Werte, Ressourcen, Mittel und Wege zur Zielerreichung in die Debatten ein (vgl. Selle 2018, S. 20). Von großer Bedeutung, sowohl im Hinblick auf die dargestellte Gruppe der Stadtaneigner*innen als auch auf das zivilgesellschaftliche Engagement ist hierbei das Wissen über das nahräumliche Umfeld: Sie sind Expert*innen des lokalen Wissens und Alltags. Vertreten werden dabei unterschiedliche Interessen: sowohl langfristiges Gemeinwohlinteresse, kurz- oder mittelfristige Belange aktiver Bürger*innen, aber auch privatwirtschaftliche Verwertungsziele (vgl. Beck und Schnur 2018, S. 24). Intermediäre Akteur*innen in Gestalt von selbstverwalteten und auf Gemeinwohl ausgerichteten Initiativen und Vereinen haben beispielsweise begonnen, Themen der Stadtentwicklung aufzugreifen und anzugehen, indem sie Orte sozialer und kultureller Infrastruktur übernehmen, sanieren und erhalten (vgl. Faller et al. 2019).

Stadtentwicklung findet somit zunehmend auch außerhalb des klassisch demokratischen Systems statt: in sozialen Medien, an runden Tischen, in Hinterzimmern (vgl. Beck und Schnur 2016, S. 20). Informelle, flexiblere Konzepte haben dabei auch in der Planung und Stadtentwicklung an Bedeutung gewonnen (vgl. Baumgart 2011, S. 66). Das war nicht immer so, bestand über viele Jahrzehnte die Haltung, „Nicht-Fachleute“ seien eine vernachlässigbare Größe in der Stadt- und Quartiersentwicklung (vgl. Selle 2018, S. 398). Die asymmetrischen Rollenverteilungen mündeten in einem Widerstandspotenzial, einem „… konfrontativen Bild, dass über viele Jahre prägend blieb: »Staat« gegen »Bürger« oder »die da oben«, »wir hier unten«“ (Selle 2018, S. 399). Die Widerstände schlugen sich jedoch nicht nur bei den Bürger*innen nieder, sondern aufgrund vielfältiger Faktoren auch in Politik und Gesetzgebung: Der Blick auf Bürger*innen begann, sich zu ändern, hin zu Akteur*innen, die aus eigener Kraft handeln und viel bewegen können (vgl. ebd., S. 400). Heute wird das Engagement der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklung als Effektivitätsfaktor, zugleich aber auch als legitimierende Instanz angesehen (vgl. Gualini 2010, S. 3), das zivilgesellschaftliche Engagement nimmt, neben dem staatlichen und marktwirtschaftlichen, eine größere Rolle in der Stadtentwicklung ein.

4 Stadtaneignung – ein neues Phänomen?

4.1 Aneignung von (Frei-)Räumen in der Stadt

Um sich den Akteur*innen und dem Thema der Stadtaneignung zu nähern, wird folgend auf die Frage eingegangen, ob dies ein neues oder ein seit Langem bestehendes Handeln darstellt. Dem Thema Stadtaneignung lässt sich am besten nähern, wenn die Initiativen, Einzelpersonen und Organisationen, die diese Kultur selbst betreiben, in den Blick genommen werden. So sind zahlreiche Studien entstanden, die mithilfe von Fallstudien derartiges Engagement im Quartier darstellen (vgl. u. a. BMVBS 2008a, 2008b; Beck und Schnur 2016). Aber auch ein Blick in die urbanen Räume zeigt mitunter, was Stadtaneignung bedeutet: So lassen sich auf Brachflächen urbane Gärten finden – von Bewohner*innen im unmittelbaren Lebensumfeld angelegt und auf weitere Stadtviertel erweitert (vgl. Anstiftung 2020; Biedermann und Ripperger 2017), Kunst im öffentlichen Raum als kulturelle Ausdrucksweise oder auch die Umnutzung von Immobilien und Brachflächen mit ehemals anderer, eindeutiger Funktion (vgl. Flögel und Gärtner 2012).

Aneignung meint dabei die Unterlaufung bestehender verräumlichter Ordnungen, indem sich neue Praxis- und Bedeutungszusammenhänge Raum verschaffen (vgl. Färber 2010, S. 100). So kann bei der Aneignung von Freiräumen zwischen der Aneignung durch die Nutzung des öffentlichen Raumes und der Aneignung eines öffentlichen Raumes durch dessen Mit- bzw. Umgestaltung unterschieden werden (vgl. Benze und Kutz 2017, S. 77). Die Akteur*innen schaffen sich temporär und situativ Zusammenhänge für die eigenen Bedeutungen durch subversives Handeln (vgl. Färber 2010, S. 100). Sie schaffen aus wahrgenommenen Problemen kreative Lösungen. Aneignung ist zudem nicht (allein) als widerständige Praxis zu verstehen, denn auch etablierte Nutzungsformen beinhalten die Aneignung, sowohl von Gegenständen als auch von Räumen (vgl. Ostermeyer 2017, S. 265). Nachfolgend wird insbesondere auf gemeinwohlorientierte Stadtaneignung eingegangen.

4.2 Stadtaneigner*innen

Bei einem genaueren Blick lässt sich feststellen, dass Stadtaneignung ein seit Langem bekanntes Phänomen ist. Stadtaneignungsprozesse können mit herkömmlichen Traditionen des Engagements brechen, und doch reichen ihre Wurzeln weit zurück und sind eng mit der Stadtentwicklung verknüpft (vgl. BMI 2019b, S. 6). Als Beispiel sei hier auf den Diskurs der 1960/1970er-Jahre verwiesen, geführt unter Schlagworten wie etwa Emanzipation, Sozialisierung und Selbstverwirklichung, welche in der Planung zunächst durchgesetzt werden mussten (vgl. Hauck et al. 2017, S. 7 f.). In diesen historischen Kontext von zivilgesellschaftlicher Stadt- und Quartiersentwicklung sowie -aneignung lässt sich weiterhin, wenn auch mit einigen Unterschieden zur heutigen Zeit, die Forderung „Recht auf Stadt“ einordnen, welche im Jahr 1968 von Henri Lefebvre formuliert wurde (vgl. Mullis 2017, S. 351) und heute eine Renaissance erfährt. Der französische Soziologe beschrieb die sozioökonomische Segregation der 1960er-Jahre in der Stadt. Angesichts der stark benachteiligten Bevölkerungsgruppen forderte er ein Recht auf Stadt als kollektive Wiederaneignung (vgl. ebd.). Dabei ging er über eine Forderung, städtische Räume zu nutzen, hinaus. Vielmehr forderte er einen Zugang zu politischen Debatten im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des städtischen Raums (vgl. ebd.).

Ebenfalls in die Debatte einschließen lässt sich der Diskurs um den Begriff „Placemaking“, der seinen Ursprung in den 1970er-Jahren fand. Gemeint waren die Schaffung sozialräumlicher Qualitäten und gesellschaftliche Aneignung von Stadtraum (vgl. Herkommer und Bormann 2017, S. 62). Placemaking lässt sich als übergreifende Idee und praktischer Ansatz verstehen, Stadtviertel, Städte oder Regionen zu verbessern, indem ihre Bewohner*innen dazu ermutigt werden, den öffentlichen Raum als das Zentrum der Gemeinschaft neu zu definieren und zu erfinden (vgl. Project for Public Spaces 2018). Besondere Bedeutung erhält im Placemaking die physische, kulturelle und soziale Identität, die einen Ort definiert und dessen Weiterentwicklung vorantreibt. Placemaking selbst bezieht sich dabei auf den kollaborativen Prozess, Stadträume zu gestalten, um den Wert für die Bewohner*innen zu maximieren (vgl. ebd.).

Ziehl et al. sprechen von „second hand spaces“, Orte, die sich vor dem Hintergrund sich verändernder Ansprüche an Stadträume herausbilden und ihren Nutzer*innen bei geringen Mieten Platz für Interaktion, Partizipation und Unternehmensgründung bieten (vgl. Ziehl et al. 2012, S. 16). Gemein haben derartige Stadtaneignungsprozesse die Verfügbarkeit und die selbstbestimmte Nutzung von städtischem Raum und persönlicher Lebenszeit im Alltag (vgl. Hauck et al. 2017, S. 7).

In den heutigen Diskursen zu den zum Teil außergewöhnlichen Engagementformen lassen sich unterschiedliche Begriffe für die handelnden Personen finden. Akteur*innen, die sich Stadt – im speziellen Freiräume, gleich ob Immobilien, Flächen etc. – zu eigen machen, werden unter Begriffen wie Raumunternehmer*innen, Raumpioniere, Raumagent*innen, Citymaker, Stadtmacher usw. subsumiert. Eingeschlossen sind hier Initiativen, lose Zusammenschlüsse oder auch einzelne Personen, die weder durch staatliche noch durch nichtstaatliche Institutionen initiiert oder aktiviert worden sind (vgl. BMI 2019b, S. 5). Dabei handeln die Akteur*innen neben-, mit- und gegeneinander, verfolgen eigene Ziele und Interessen und bedienen sich dabei unterschiedlichster Handlungs-, Koordinations- und Kooperationsformen (vgl. Selle 2018, S. 32).

So sind beispielsweise unter Raumunternehmen „Projekte und Initiativen zu verstehen, die häufig keine Fachleute der Stadtentwicklung und der Immobilienwirtschaft sind und doch als Do-it-yourself-Projektentwickler auftreten“ (Spars und Overmeyer 2016, S. 160). Bei den Akteur*innen hinter den Raumunternehmen handelt es sich um Personen aus der Zivilgesellschaft, die intermediär an der Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft, Stadt- und Projektentwicklung agieren und dabei einen konkreten Raumbezug für ihr Vorhaben wählen (vgl. Buttenberg et al. 2017). Sie verfolgen das Ziel, diese Räume selbstbestimmt weiterzuentwickeln und mit Leben zu füllen, wodurch neue Formen öffentlicher Orte entstehen, die in dieser Form nicht durch staatliche Organisationen oder privatwirtschaftliche Unternehmen hätten geschaffen werden können (vgl. ebd.). Ihre Rollen können sich dabei im Verlauf der Unternehmung ändern: von Nutzer*innen und Mieter*innen zu Organisator*innen und Eigentümer*innen (vgl. Spars und Overmeyer 2016, S. 160). Die Realisierung ihrer Visionen und Vorstellungen einer lebenswerten Stadt, Gemeinschaft und Nachhaltigkeit bilden bei Raumunternehmer*innen prioritäre Ziele, im Handeln bedienen sie sich multipler Ressourcen (vgl. ebd.). Raumunternehmen lassen sich vielerorts durch ihre ausgeprägten Netzwerkaktivitäten, welche sich auch unmittelbar vor Ort abbilden, kennzeichnen (vgl. Flögel und Gärtner 2011, S. 5). Mit ihren Unternehmungen schaffen sie sowohl für sich selbst als auch für andere eine direkte Teilhabe an Stadtentwicklung (vgl. Humann und Overmeyer 2017, S. 151). Die Raumunternehmer*innen beginnen häufig als informelle Zusammenschlüsse, als Raumpioniere (vgl. Buttenberg et al. 2017). Raumpioniere, so Christmann (2013, S. 154), denken und nutzen Räume neu. Zu Anfang folgen sie dabei zumeist eigenen Lebensentwürfen und nutzen Gelegenheitsstrukturen, entwickeln Visionen, regen andere Bewohner*innen zur Kommunikation an und beeinflussen so die Raumdeutung (vgl. ebd.).

Stadtmacher*innen, ebenso wie Citymaker, verstehen sich als „Menschen, die sich dafür einsetzen, dass ihre Stadt ein bisschen lebenswerter wird“ (vgl. Schwittek 2019). Sie möchten eine neue Kultur der Stadtentwicklung schaffen, die geprägt ist von einem do-it-yourself oder do-it-together-Gedanken. Es geht ihnen darum, Dinge auszuprobieren, Veränderungen erlebbar zu machen und gemeinsam zu gestalten (ebd.). Ihre Projekte finden sich in kulturellen und sozialen Bereichen wieder, essentiell sind ihnen dabei die gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung und die temporäre Nutzung von Stadträumen. Das Stadtmachertum zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht parteipolitisch geprägt ist, meist die Digitalisierung nutzt, um Sichtbarkeit zu erhöhen, und den Wunsch verfolgt, sich gegen Polarisierung und für Gemeinschaft einzusetzen (vgl. Schwittek 2019).

Die Akteur*innen, die hier beispielhaft und sicherlich nicht vollständig dargestellt sind, eignen sich (Frei-)Räume an, gehen vielfältige Kooperationen und Zusammenschlüsse zur Realisierung ihrer Visionen und Ideen ein, gehen unkonventionelle Wege und bedienen sich eigener Ressourcen. Kooperation wird dabei nicht mehr nur zur Bewältigung von Konflikten, sondern als gestaltendes Element angesehen (vgl. Selle 2018, S. 48). Es handelt sich bei Stadtaneignung in der Regel um informelle, „selbstgebaute“ und provisorische Projekte. Sie kreieren neue soziale Räume und können so einen Mehrwert für das Zusammenleben und die Atmosphäre in der Stadt oder im Stadtviertel schaffen (vgl. Bruns 2014, S. 7 ff.). In der Stadtplanung wird dieses Potenzial bisher noch nicht ausgeschöpft (vgl. Willinger 2007, S. 731). Vor den dargestellten Herausforderungen erscheint es sinnvoll – und vor dem Hintergrund der allein durch die Kommune nicht mehr zu begegnenden Herausforderungen auch notwendig –, sich dieser Art der informellen Stadtgestaltung zuzuwenden und mit Blick auf die Kommunalverwaltungen (aber auch auf die Zivilgesellschaft) auszuloten, welche Möglichkeiten sich durch Kooperation und Koproduktion ergeben. Diese Zusammenarbeit birgt Potenziale, zugleich erfordert sie aber auch die Überwindung von Konflikten, die, zumindest teilweise, auch durch strukturelle Gegebenheiten und eigene Rollenzuschreibungen aufseiten der öffentlichen Verwaltung und zivilgesellschaftlicher Akteur*innen sowie den daraus resultierenden unterschiedlichen Handlungslogiken entstehen.

5 Potenziale und Herausforderungen in der Kooperation und Koproduktion zwischen Stadtaneigner*innen und kommunalen Akteur*innen

5.1 Raumordnung und Raumnutzung – ungenutzte Potenziale

Die Handlungsmöglichkeiten der Kommune beim Aufbau aktiver Stadtteile liegen in dem Ausbau lokaler Ressourcen, der Kooperation, einer verbesserten Kommunikation und einer Zusammenführung der Akteur*innen (vgl. Habermann-Nieße 2006, S. 102). Raumordnung und durch die öffentliche Hand initiierte geplante Raumnutzungen können Antrieb hierfür sein. Es ist jedoch zu erkennen, dass eine geplante Raumnutzung und -ordnung nicht immer der späteren realen Nutzung entspricht und die Nutzer*innen kommunale Raumvorstellungen unterlaufen (vgl. Ostermeyer 2017, S. 268 f.) (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung, nach Ostermeyer 2017, S. 266ff.)

Geplante und ungeplante (Raum-)Ordnungen und Nutzungen.

Wird in den Blick genommen, dass die (emotionale) Identifikation mit dem Raum durch ihre Bewohner*innen essentiell für die Mitwirkung und Zusammenarbeit in Form von Kooperation und Koproduktion ist (vgl. Brocchi 2019, S. 13), ergibt sich, dass vor allem in den Bereichen.

  • ungeplanter Raumordnung und ungeplanter Raumnutzung, aber auch

  • ungeplanter Raumordnung und geplanter Raumnutzung

Potenziale liegen, die durch Kooperation und Koproduktion zwischen Kommunalverwaltung und Zivilgesellschaft zu heben und zu nutzen sind. So lassen sich beispielsweise Raumpioniere und Zwischennutzer*innen durch die Aneignung von Räumen in zwar taktisch geplante, aber nicht den zugewiesenen Raumordnungen entsprechende Nutzungen einsortieren. Die Aneignung von Flächen ohne Nutzungsbestimmung, etwa Brachflächen oder Resträume, sind sowohl in der Nutzung des Raumes als auch in ihrer Ordnung ungeplant, ungenutzte Potenziale werden erschlossen. Zwischennutzungen bieten engagierten Akteur*innen Möglichkeitsräume, ihre Ideen zu erproben und weiter zu entwickeln. Die Verfügbarkeit physischer Räume kann sie zudem zu neutralen Orten für Aushandlungsprozesse und Kommunikation zwischen den Akteur*innen machen und gleichsam einen niedrigschwelligen Zugang für weitere Interessierte bieten (vgl. Dahlbeck und Schlieter 2019). Erfahrungen aus dem Projekt KuDeQua sowie aus Gesprächen mit kommunalen Akteur*innen jedoch haben aufzeigen können, dass insbesondere Zwischennutzungen flexible Konzepte in engen Zeiträumen erfordern, die mit kommunalem Verwaltungshandeln, etwa im Bereich der Nutzungsänderung, häufig nicht gut harmonieren. Hier bedarf es eines Bürokratieabbaus, einer stärkeren Zusammenarbeit der Fachressorts in den Kommunen sowie eines vorausschauenden Denkens der potenziellen Zwischennutzer*innen.

5.2 Potenziale der Stadtaneignung – Freiräume fördern, Aufgaben erschließen

Die Stärken von intermediären Akteur*innen, die sich ihr nahräumliches Lebensumfeld erschließen, liegen unter anderem in der Bildung von lokalem Sozialkapital und der Erschließung ungenutzter Potenziale, die durch die öffentliche Hand oder wirtschaftliche Akteur*innen in der Form nicht selbst geschaffen und/oder gehoben werden können. Akteur*innen, die diese Art der Stadtaneignungskultur leben, können unerkannte Potenziale nutzen, Sozialkapital aufbauen, die Resilienz von Quartieren gegenüber Krisen erhöhen und sollten deshalb zugelassen, sogar möglichst gefördert werden (vgl. Brocchi 2019, S. 12). Dem Lokalen kommt dabei eine bedeutende Rolle zu: Da die Stadtaneigner*innen im unmittelbaren, nahräumlichen Lebensumfeld eine hohe Wirkkraft entfalten (können), bleiben sie auch bei hoher Komplexität und begrenzten Ressourcen handlungsfähig (vgl. ebd.). Besonders in Krisensituationen werden Nischeninitiativen so zu Vorbildern im Hinblick auf Überlebensstrategien (vgl. ebd.).

Das Verständnis darüber, wie derartige (Frei-)Räume in den Quartieren geschaffen und entwickelt werden, befindet sich im Wandel: Die Räume werden von vielen Akteur*innen aus der Bürgerschaft in kleinen Schritten angeeignet, bespielt, in der Nutzung immer wieder verändert und transformiert (vgl. BMVBS 2008b, S. 1). Die Beteiligung der Akteur*innen in und an der Planung durchläuft ebenfalls einen Wandel, von reinen Befragungen und Informationsweitergaben hin zu einem dialogorientierten Prozess des Verhandelns in komplexen Akteursstrukturen (vgl. ebd.). Dabei muss zwischen den Begriffen Partizipation, Beteiligung, Teilhabe, Kooperation und Koproduktion differenziert werden, denn nicht immer werden hierunter von den Akteur*innen gleichwertige Ansätze verstanden (vgl. Brocchi 2019, S. 18). Dies erscheint umso wichtiger, geht es um Aushandlungsprozesse mit Akteur*innen, die selbstorganisiert und selbstverwaltet handeln. So handelt es sich nach Brocchi bei der Initiierung von Bürger*innenbeteiligungsverfahren von Seiten kommunaler Institutionen häufig weniger um die Anreicherung der Macht der Bürger*innen im Sinne von „Empowerment“ als vielmehr um Informationsweitergabe oder Konsultation, womit die Teilhabe auf eine „inszenierte Mitwirkung“ reduziert wird (vgl. Brocchi 2019, S. 18).

Brocchi fordert daher, die Akteur*innen im Quartier von Seiten der Kommunen ernsthaft in Prozesse einzubeziehen. Die gestaltungswilligen Akteur*innen entstehen und bestehen in vielfältigen Netzwerken, die sich durch verschiedene, teilweise unkonventionelle Ansätze, heterogene Gruppenzugehörigkeiten, verschiedene Interessenlagen, Organisationsstrukturen und -kulturen sowie unterschiedlich intensive Präsenz vor Ort auszeichnen. Durch diese Komplexität wird wiederholte Kommunikation und persönliche Interaktion aller zu Beteiligenden zu einer zentralen Anforderung an eine bottom-up-Entwicklung, die Koproduktion und Kooperation erfolgreich fördert(vgl. ebd.). Dabei kann die Kommunikation und Interaktion sowohl laut als auch leise, dynamisch oder ausgewogen sein, denn auch wenn in derartigen Aushandlungsprozessen – insbesondere auf Seiten der Aneigner*innen – eine immer wieder zu findende „Dagegen-Haltung“ zu erkennen ist, zeigt diese Haltung zugleich immer auch ein „Dafür“ (vgl. Selle 2018, S. 24 f.). Dieses „Dafür“ kann Gegenstand des Gemeinwohls und damit Gegenstand der Kooperation und Koproduktion zwischen Aneigner*innen und kommunalen Akteur*innen in der Quartiersentwicklung werden. Hierfür bedarf es Konzepte des Ver- und Aushandelns von gemeinsamen Interessen- und Zielvorstellungen. Diese Interessenlagen können sich voneinander stark unterscheiden, in ihren Anliegen jedoch sind sie zumeist gleich. In einer Zeit mit zunehmender Vernetzungsdichte und vielen Berührungs- und Konfliktpunkten geht gleichzeitig die Verpflichtung aller Beteiligten einher, Konflikte konstruktiv und für alle Parteien gewinnbringend zu lösen (vgl. Luksch 2015, S. 10). Reine Diskussions- und Gesprächsrunden reichen an dieser Stelle häufig nicht aus. Erfahrungen mit Methoden der Moderation, insbesondere aufseiten der kommunalen Akteure*innen, können helfen, Konflikte zu schlichten oder diese gar nicht erst aufkommen zu lassen, festgefahrene Situationen und Problemlagen zu klären und gemeinsam vertretene Positionen herauszuarbeiten.

Viele Initiativen, lose Zusammenschlüsse, aber auch einzelne Personen haben sich unabhängig von öffentlichen Einrichtungen und staatlichen Instanzen auf den Weg gemacht, ihre Ziele für und im Quartier umzusetzen. Stadtaneignungsprozesse nutzen freiliegende Potenziale, was wiederum dem Gemeinwohl zugutekommen kann. So lässt sich in manchen Quartieren durch die Bildung von Bürger*inneninitiativen eine Kompensation rückläufiger Institutionen, aber auch eine Vermittlung zwischen ökonomischen und sozialen oder ökologischen Interessen erkennen (vgl. Brocchi 2019, S. 13). Freiräume für derartige Stadtaneignungsprozesse zuzulassen, Nischen in Kooperation und Koproduktion zu besetzen sowie Unterstützungsstrukturen, insbesondere im Hinblick auf Empowerment, zu bieten und geeignete Rahmenbedingungen aufzusetzen, kann und sollte vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen in der Quartiersentwicklung verstärkt in das Aufgabenfeld kommunaler Akteur*innen gelegt werden. Die Fragen, inwiefern eine Kooperation oder Koproduktion angeregt und umgesetzt wird, wer welche Ressourcen einbringt und welche übergeordneten Ziele dabei verfolgt werden, erhalten insofern eine hohe Bedeutung, als dass sie zu einem Um- und auch Neudenken im Rollenverständnis der Akteur*innen und einer Neujustierung von Aufgaben und Zuständigkeiten führen können – insbesondere auf kommunaler Seite.

5.3 Quartiersentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe

Ein Ansatzpunkt, der essentiell für die Gestaltung von Quartieren als Gemeinschaftsaufgabe ist – wie sie bereits vielfach gefordert wurde (vgl. u. a. BMVBW/BBR 2005; BMUB 2007) –, ist die Hinzuziehung unterrepräsentierter Akteur*innengruppen in Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse. Bedeutung erlangt dies auch vor dem Hintergrund der nicht unberechtigten Kritik, dass das dargestellte Engagement auf den Visionen und Zielen weniger beruht und – auch wenn es den Zielen nach dem Gemeinwohl zugutekommt – Partikularinteressen vertritt. Dabei „[spricht] nichts (…) gegen die Analyse und Förderung individueller Potenziale, solange dabei die strukturellen Rahmenbedingungen der Chancengleichheit (…) berücksichtigt und kritisch reflektiert werden“ (Thiesen 2011, S. 14). Das heißt, die Ungleichheit der potenziellen Kooperationspartner*innen und die Selektivität in den einzelnen Prozessen bedarf eines Ausgleichs und des Eröffnens von Mitgestaltungsmöglichkeiten für die, die wenig Einfluss ausüben können (vgl. Selle 2018, S. 35). Ziel muss es sein, Partizipationsprozesse attraktiv zu gestalten, differenziert auf die Interessen und Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen einzugehen und einen niedrigschwelligen Zugang zur Beteiligung zu ermöglichen (vgl. ebd.). Dabei ist es notwendig, sich die soziostrukturellen Grenzen zivilgesellschaftlicher Potenziale bewusst zu machen, um eine Verschärfung sozialer Ungleichheiten zu vermeiden (vgl. Siebel 2010, S. 36). Die aktive Teilnahme an Beteiligungsprozessen beginnt mit dem Wissen darüber, dass Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben sind und wann entsprechende Prozesse stattfinden (vgl. Friesecke 2017, S. 121). Um diese auf eine möglichst breite Grundlage zu stellen und auch diejenigen Gruppen zu erreichen, die in der Regel nicht für Beteiligungsprozesse gewonnen werden können, bildet die richtige Ansprache gleich zu Beginn einen entscheidenden Erfolgsfaktor (vgl. Allianz vielfältige Demokratie und Bertelsmann Stiftung 2018, S. 16). Eine Zufallsauswahl der angesprochenen Personen, möglichst quotiert, kann im Vergleich zu anderen Methoden, wie etwa der direkten Einladung per Selbstselektion, die Heterogenität der Gruppe und in diesem Zuge auch die Chancengleichheit erhöhen sowie Partikularinteressen reduzieren (vgl. ebd.). Weiterhin sind der Abbau von Zugangs- und Sprachbarrieren, die Auswahl von Methoden, die einen zwanglosen Austausch ermöglichen, sowie Beteiligungsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Zeiten und an gut erreichbaren Orten notwendig, um attraktive Beteiligungsangebote, niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten und eine differenzierte Ansprache verschiedener Personengruppen zu erreichen.

Kommunen können Stadtaneignungsprozesse, sofern gemeinwohlorientiert, als Ausgangsbasis für die Aktivierung bisher nicht erreichter Bevölkerungsgruppen verorten und Unterstützungsleistungen im oben beschriebenen Bereich leisten. Die top-down-Aktivierung von Bürger*innen durch Kommunen stoßen, auch aufgrund politischer-administrativer Logik, vielerorts an Grenzen (vgl. Gualini 2010, S. 3). Der Ausbau bereits vorhandener Strukturen und die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, in denen Bürger*innen situativ und mithilfe kreativer Problemlösungsstrategien agieren können, kann zu einer Nachhaltigkeit und Verstetigung beitragen. Bottom-up-Initiativen können zudem dazu beitragen, dass der lokale Raum zu einem „Identifikationsraum“ für die Bewohner*innen wird.

5.4 Handlungslogiken, Motive und Konflikte in der Zusammenarbeit

Die Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen und kommunalen Akteur*innen, ob als Austausch, Kooperation oder Koproduktion, wird durch vielfältige Faktoren geprägt, nicht selten auch durch Hindernisse (vgl. Koop und Walter 2018). So ist die Qualität der Zusammenarbeit von bürgerschaftlichen Initiativen und kommunalen Partner*innen gleichermaßen abhängig von den persönlichen Erfahrungen und Qualifikationen der handelnden Personen, einer gegenseitigen Sympathie füreinander sowie von dem Vermögen, die Handlungslogiken des jeweils anderen verstehen zu können (vgl. BMI 2019b, S. 36). Diese können in unterschiedlich starker Ausprägung dazu führen, dass Schwierigkeiten im Umgang miteinander auftreten. Zu beobachten ist dies vor allem in der Anfangsphase der Zusammenarbeit oder in einzelnen Teilbereichen von Projekten. Begründen lässt sich das unter anderem damit, dass Vertreter*innen der bürgerschaftlichen Initiativen wenig Verständnis für die langwierigen Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Verwaltung und das Ausbleiben von eigenständiger Verantwortungsübernahme einzelner Personen haben (vgl. ebd., S. 37). Hier können die Bündelung von Kompetenzen, die persönliche Interaktion und Kommunikation und insbesondere eine transparente Darstellung von Prozessen in der Verwaltung helfen, Handlungslogiken für die engagierten Bürger*innen nachvollziehbar zu machen. Dies kann notwendig sein, da der hierarchische Aufbau der öffentlichen Verwaltung zumeist konträr gegenüber den dezentralen Strukturen innerhalb der Initiativen, Vereine und Netzwerke ist, die Stadt gestalten wollen. Die Transparenz über und die Sensibilisierung für verwaltungsinterne Prozesse können hier zu einem besseren Verständnis, etwa mit Blick auf o.g. längere Entscheidungs- oder Abstimmungsprozesse, führen.

Auf der anderen Seite fällt es den kommunalen Partner*innen mitunter schwer, sich auf die Strukturen der Initiativen einzulassen, etwa aufgrund häufig wechselnder Ansprechpartner*innen sowie unklarer Zuständigkeiten innerhalb der Gruppen (vgl. ebd.). Pläne und Strategien zivilgesellschaftlicher Vorhaben entwickeln sich oft erst im Prozess selbst und sind sehr dynamisch. Das Fehlen standardisierter Vorgaben, wie derartige Vorhaben in Genehmigungsverfahren im Baurecht oder in Stadtplanungsprozesse zu integrieren sind, kommt erschwerend hinzu. Durch den Aufbau von Vertrauen, welches durch Kommunikation und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Verbindlichkeiten zu geben, geschaffen werden kann, lassen sich diese Herausforderungen begegnen. Es bedarf eines Verständnisses aufseiten der Kommunen darüber, wie Stadtaneignung und zivilgesellschaftliche Vorhaben agieren, auch um zukünftig verstärkt Ermessenspielräume zu nutzen (z. B. im Bereich der Moratorien, der aktiven Duldung oder der Teilgenehmigungen).

Diese Forderungen gehen konträr mit der Erkenntnis, dass die Beteiligung der Bewohner*innen aufgrund fehlender Bereitschaft von Seiten der Politik und Verwaltung, Verantwortung abzugeben, an Grenzen stößt (vgl. Habermann-Nieße 2006, S. 102). Ziel muss es sein, über die „inszenierte Mitwirkung“ hinweg zur partnerschaftlichen Kooperation zu gelangen. Notwendig hierfür sind eine gemeinsame Zielvorstellung und die Bereitschaft, Verantwortung zu teilen oder abzugeben.

Weitere Herausforderungen in der Zusammenarbeit finden sich aus Sicht der Engagierten in undurchsichtigen Kommunikationsstrukturen innerhalb der Verwaltung sowie darin, dass sie sich von der Verwaltung nicht ernst genommen fühlen. Die Anerkennung von Seiten der Kommunen, dass Bürger*innen Partner*innen bei der Gestaltung und Entwicklung von Quartieren sind, und deren transparente Kommunikation nach außen hin sind wesentlich für eine Zusammenarbeit: Quartiersentwicklung funktioniert nur gesamtgesellschaftlich. Des Weiteren können konkurrierende Ziele, beispielhaft im Zuge der Nutzung einer Immobilie, zu Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Zivilgesellschaft führen (vgl. BMI 2019b, S. 37). Ebenso können sich bei der Betrachtung der heterogenen Raumansprüche und der Vielfalt der Akteur*innen mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen, Funktionsbereichen, Kompetenzen und Potenzialen auch das Gemeinwohl und die Individualinteressen entgegenstehen (vgl. Baumgart 2011, S. 65). Ziel muss es sein, Interessenlagen abzuwägen, in einen kommunikativen Aushandlungsprozess zu gehen und die Ressourcen zu bündeln.

Die Organisation des Prozesses ist eine arbeitsintensive Herausforderung eigener Art für alle beteiligten Akteur*innen. Dabei bilden förderliche Rahmenbedingungen, Moderations- und Kommunikationsstrategien, die Verdeutlichung von Zielen und Erwartungen sowie transparente Strukturen und Entscheidungsprozesse nur einen ersten Schritt, Kooperation und Koproduktion auf den Weg zu bringen. Diese Prozesse – also die der Interdependenzgestaltung – sind zu großen Teilen als kommunikative Tätigkeit zu verstehen. Sich die Bedeutung kommunikativer Tätigkeiten zu verdeutlichen, kann helfen, sie zu strukturieren und zu organisieren (vgl. Selle 2018, S. 33).

6 Fazit und Ausblick

Aktuellen Prognosen (u. a. Mensing et al. 2020; BBSR 2017) zufolge werden sich die Problemlagen in den Quartieren, wie etwa das Wegbrechen von Einzelhandel und Dienstleistungen oder dessen Zentrierung in den Innenstädten, verbunden mit dem Wegbrechen einer zentralen sozialen Funktion, weiter verschärfen. Mit einem „Weiter so“ bisheriger Strategien kann dem nicht oder nur unzureichend begegnet werden. Die Einbindung weiterer Akteur*innen in Stadt- und Quartiersentwicklungsprozesse von Seiten kommunaler Akteur*innen, die Bildung von Akteurskonstellationen im Kooperations- und Koproduktionsgefüge zwischen kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und die damit einhergehende Verantwortungsteilung und eine Neuausrichtung von Rollenprofilen müssen in einem Prozess ausgehandelt werden. Dies gestaltet sich umso schwieriger, je heterogener die Akteur*innen in ihren Vorstellungen, Ideen und Ansätzen sind. Derartige Verhandlungsprozesse, wie sie vielerorts mit Beteiligung und Partizipationsangeboten begonnen werden, sind – im Vergleich zu herkömmlichen Strategien (z. B. der Wirtschaftsförderung im Bereich der Unternehmensansiedlung) – zumeist ressourcen- und arbeitsintensiver, und nicht immer sind diese zur Zufriedenheit aller Akteur*innen mit gutem Ausgang zu bewältigen. Dennoch sollte das „Einmischen“ von außen, sprich durch die Bewohner*innen, in kommunale Prozesse der Stadt- und Quartiersgestaltung nicht als Zumutung empfunden, sondern als Chance für eine aktive, belebte Entwicklung wahrgenommen werden. An dieser Stelle soll betont werden, dass die zentralen Probleme in den Quartieren, von Segregation, sozialer Ungleichheit, fehlenden Angeboten vor Ort, vermehrtem Leerstand bis hin zu Trading-Down-Effekten, nicht allein durch bürgerschaftliches Engagement, gleich in welcher Form, gelöst werden können. Auch dürfen Kooperation und Koproduktion nicht mit dem Anspruch hierauf eingegangen werden.

Ein bisher von der öffentlichen Verwaltung kaum als Potenzial für eine positive Quartiersentwicklung wahrgenommene Akteur*innengruppe stellen Stadtaneigner*innen dar. Eine Vielzahl von Fallstudien legt die Themenvielfalt und Wirkungskreise dieser offen (u. a. BMVBS 2008a; Beck und Schnur 2016; BMI 2019b). Zu differenzieren ist zwischen der im Fokus des Beitrages stehenden gemeinwohlorientierten Stadtaneignung und Partikularinteressen. Gemeinwohlorientierte Stadtaneignung, die daraus resultierende Nutzbarmachung von (Frei-)Räumen und die positiven Auswirkungen auf das Quartier bergen große Potenziale für eine positive lokale Entwicklung. Sowohl die Historie partizipativer Prozesse, vorhandene Studien als auch Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt KuDeQua haben aufzeigen können, dass jedoch noch Gestaltungsspielraum im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen besteht. Diesen zu nutzen, setzt die Erkenntnis voraus, dass Planung von öffentlicher Seite und Aneignung von zivilgesellschaftlicher Seite eng miteinander verwoben sind und so einen Handlungsraum aufspannen.

Vor dem Hintergrund der Privatisierung ehemals kommunal beeinflussbarer Akteure und einer in vielen Kommunen zu findenden finanzschwachen Haushaltslage, die die Spielräume der Verwaltung – auch in der Stadt- und Quartiersentwicklung – zunehmend einschränkt (vgl. Siebel 2010, S. 34), müssen Wege und Prozesse gefunden werden, Stadt gemeinsam zu entwickeln und den in den Quartieren vorherrschenden Herausforderungen zu begegnen. Die Bildung von Akteur*innennetzwerken, deren aufeinander bezogenes Handeln es ermöglicht, Herausforderungen angehen zu können, ist dabei als wesentlicher Schritt zu sehen. Zentrale Aspekte in der gemeinsamen Entwicklung von Quartieren bilden Kommunikation, Aushandlungen, das Verstehen der unterschiedlichen Handlungslogiken und der Aufbau von Vertrauen untereinander. Ressourcen und Kompetenzen im Bereich der Moderation und Vermittlung sowie die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Entstehung, Weiterentwicklung und Ermöglichung von Engagement verschiedenster Akteursgruppen stellen hierbei den ersten Schritt dar. Förderlich sind hierbei vor allem physische Orte. An Orten, an denen Menschen agieren können, kann sich Sozialkapital bilden, welches wiederum zu einem resilienteren und flexibleren System beiträgt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass

  • Stadtaneigner*innen häufig nicht erschlossene Potenziale heben,

  • die dahinterliegenden Visionen der Stadtaneignung zumeist dem Gemeinwohl dienen,

  • die Stadtaneigner*innen über gefestigte Netzwerkstrukturen, (Experten-)Wissen über ihren lokalen Wirkungsraum und die Bereitschaft zu einem Ressourceneinsatz, seien es Zeit, Wissen oder auch Finanzmittel, verfügen, die im Bereich der lokalen Entwicklung von großer Bedeutung sind und in Zusammenarbeit mit der Kommune gestärkt werden können,

  • Stadtaneignung neue soziale Räume schaffen und positive Entwicklungsimpulse für das Quartier mit sich bringen kann.

Städte und Quartiere sind Orte, an denen sich Wissen, Kreativität und Vielfalt konzentrieren. Dies gilt es zu nutzen, offenliegende Potenziale zu heben und Quartiersentwicklung damit gesamtgesellschaftlich anzugehen. Dies erfordert

  • eine Neujustierung von Rollenzuschreibungen der beteiligten Akteur*innen,

  • eine Rahmensetzung, die Bottom-up-Prozesse nicht nur als ressourcen- und arbeitsintensiv sieht, sondern die Rendite vor Augen hat, die daraus erwachsen kann, sowohl finanzieller, insbesondere aber sozialer Natur,

  • die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen und Unterstützungsstrukturen von kommunaler Seite,

  • das Abstrahieren zwischen Möglichkeiten der Zielerreichung in einem Aushandlungsprozess und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Verfahrensarten und eine

  • regelmäßige Kommunikation als Schlüssel für Verhandlungsprozesse zwischen den Akteur*innen.

Unter Berücksichtigung von bereits bestehenden Freiraumorganisationen, Stadtaneignungen und weiterem Engagement können dabei vor allem eine hilfeleistende Rahmensetzung erfolgen und eine Unterstützungsstruktur im Sinne der „Hilfe zur Selbsthilfe“ von Seiten der kommunalen Akteur*innen gebildet werden. Jedoch dürfen auch die Gefahren, etwa die Durchsetzung von Partikularinteressen oder die Überforderung der Menschen vor Ort sowie eine Verschärfung sozialer Ungleichheiten, nicht unbeachtet bleiben. Als weiteres Ziel ist somit die Öffnung für weitere, auch vulnerable Akteur*innen zu sehen, um Quartiersentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe anzugehen, welche – neben der Schaffung von Rahmenbedingungen – zugleich auch Aktivierungsstrategien vorsehen muss.