Zusammenfassung
Angemessenes Verhalten, das Erwartungen, Gewohnheiten, Rangordnungen, aber auch konkreten Situationen entspricht, hat in der Philosophie seit der Antike eine große Rolle gespielt. Seit der Aufklärung werden soziale Verhaltensweisen in Philosophie und Recht primär daran gemessen, ob sie den gleichen Rechten aller Menschen entsprechen. Dieser Forderung halten manche Konventionen des Angemessenen, vor allem in hierarchischen Gesellschaften, nicht stand. Um die Bedeutung und das Verhältnis beider Normen zueinander zu klären, wird die begriffliche Struktur, die historische Entwicklung und die gegenwärtige Rolle in der praktischen Philosophie erörtert.
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Notes
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Vgl. etwa Bellon et al. 2022.
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Vgl. den Versuch einer Ideengeschichte bei Honneth (2018). Das 18. Jahrhundert ist auch bei den meisten Historikern und Soziologen die Epochenschwelle von Vormoderne zu Moderne – vgl. etwa Koselleck (1972). Zu den Epochenbegriffen vgl. auch Willems et al. (2013; vor allem S. 9–23), zum Eurozentrismus-Problem vgl. Schmidt (2013).
- 3.
Vgl. dazu jetzt Siep, Ikäheimo, Quante (2021).
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Vgl. dazu den Beitrag Vogt in diesem Band.
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Vor allem zum angemessenen Verhalten können auch „passende“, dem sozialen Status und der Gelegenheit entsprechende Gegenstände und Symbole gehören (Kleidung, Fahrzeuge, Architektur etc.). Davon wird im Folgenden abgesehen.
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Oder eine andere Person im Rahmen einer bestimmten Institution. Vgl. dazu in Bezug auf Anerkennung Halbig (2021).
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Zur Rolle in der Gegenwartsphilosophie vgl. das Vorwort der Herausgeber in Siep et al. (2021).
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Die Kritik an entfremdenden und diskriminierenden Konventionen des Angemessenen beginnt in der Philosophie vor allem mit Rousseau (zu Vorformen im 17. Jh. vgl. Luhmann, 1997, S. 946), in der Literatur etwa mit Lessings und Schillers ‚gesellschaftskritischen‘ Dramen. In der christlichen Theologie gibt es immer wieder Schübe der Kritik an äußerlichen Konventionen angemessener Frömmigkeit (‚devotio moderna‘, protestantische Dissidenten etc.).
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Vgl. zu dieser grundsätzlichen Wende im Selbstverständnis der europäischen Neuzeit (mit kritischen Untertönen) (Taylor 2009, S. 285–295).
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„Manners makyth man“ steht über dem schmiedeeisernen Gartentor des New College in Oxford. Hegel (2009) greift diese Vorstellung in seiner Kritik am romantischen Individualismus auf und bezeichnet den Berufsstand und seine Standesehre als die „Wirklichkeit“, die sich das Individuum selber gibt (Rechtsphilosophie § 207).
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Vgl. Kant (1968), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (AA VI, S. 223).
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Bei beiden geht es in erster Linie um Begründung ethischer Normen, aber auch um die Ersetzung konventionellen Handelns durch grundsatzorientiertes im Sinne der Theorien individueller und historischer Moralentwicklung (Lawrence Kohlberg).
- 18.
Zur Kritik an einer zu schematischen Gegenüberstellung von ‚vormoderner‘ Konventionalität und moderner Rationalität vgl. aber Althoff und Siep (2001).
- 19.
Vgl. dazu aus philosophischer Sicht Taylor (1996, S. 639–679).
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- 21.
Zur gegenwärtigen Diskussion über die Tugendethik vgl. Halbig (2013), zur Bedeutung für die Berufsethik Pellegrino (2019). Im Bereich der Rechtsordnung entspricht dem Bedürfnis nach situationsangemessener Abwägung und Billigkeit die Einrichtung ethischer Beratungsgremien oder außergerichtlicher Mediation – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu Gesetzen und formalisierten Verfahren.
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Man kann die Komplementarität auch durch die Unterscheidung strikter und ‚reicherer‘, über das rechtlich Erzwingbare hinausgehende Formen von Anerkennung zu erfassen suchen (vgl. Siep 2021).
- 23.
D. h. von der Deklaration von 1948 bis zum völkerrechtlichen Pakt von 1976, der den Streit um das Verhältnis von individuellen Freiheitsrechten zu sozialen und kulturellen Rechten beilegte. Nach Angelika Nußberger (2009) kann man seitdem von einer „Magna Carta des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes“ sprechen (S. 93).
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- 25.
- 26.
Zur Verteidigung einer philosophischen Irreversibilitäts-These vgl. Siep (2020).
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