Zusammenfassung
Der Beitrag stellt zentrale Diskursstränge im Kontext des interaktiven Storytellings vor. Ein erzähltheoretischer Analyseansatz dient in einem zweiten Schritt dazu, Ausprägungen des Forschungsfeldes zu systematisieren. Abschließend wird mit dem Ziel einer transmedialen Schärfung und Erweiterung von Gegenständen und Konzepten der Serialitätsforschung ein Ausblick auf serielle Formate in der digitalen Spielkultur gegeben.
Notes
- 1.
Diese Potenzialität gilt für die einzelnen Formen seriellen Erzählens in unterschiedlichem Maße, zum Beispiel weniger für auf Wiederholungsstrukturen und eine episodische Schließung angelegte Sitcoms (die gleichwohl in der Regel irgendeine Art von ‚Ende‘ im Serienfinale erreichen), als für weitestgehend linear erzählte serielle Narrationen wie Breaking Bad (Vince Gilligan, USA, 2008–2013). Vgl. zu den Formen des seriellen Erzählens Krah (2010).
- 2.
Im Sinne von Chatman (1978) entwickelt sich durch Kardinalpunkte die Handlung. Von Kardinalpunkten gehen Zustandsveränderungen aus, aufgrund derer sich die erzählte Geschichte konstituiert und entfaltet.
- 3.
Im Folgenden wird im Kontext interaktiver Mediendispositive von Nutzer:innen (statt Zuschauer:innen) gesprochen.
- 4.
Entsprechendes offerierte beispielsweise im Kontext der Batman-Superheldengeschichten des Comicverlags DC im Jahr 1988 die Storyline A Death in the Family. Hier durften Leser:innen entscheiden, ob Batmans Sidekick Robin sterben sollte, nachdem er vom Antagonisten Joker schwer verletzt wurde. Es konnte per Anruf abgestimmt werden, die Leser:innen entschieden sich für den Tod der Nebenfigur (https://batmanprojekt.com/2020/07/30/a-death-in-the-family-wird-zum-interaktiven-film/. Zugegriffen: 03. 09. 2022).
- 5.
Diese rudimentäre Geschichte – Hugo rettet seine Familie aus den Fängen einer Hexe – orientierte sich an populären generischen Minimalerzählungen des Video- und Computerspiels, etwa Prinzessin Peach als Damsel in Distress innerhalb der Super Mario-Reihe (Nintendo/Nintendo, seit 1983), und inszenierte damit implizit noch eine Grenze zwischen der (simplen) Dramaturgie interaktiver Erzählungen und traditionellen seriellen Narrativen.
- 6.
Demgegenüber ist Publikumseinbindung beim Kinodispositiv auf Präsenzformate angewiesen. So wurde der Kinofilm Der unheimliche Mr. Sardonicus (William Castle, USA 1961) vom „godfather of gimmicks“ William Castle mit dem besonderen Feature beworben, das Schicksal des titelgebenden Antagonisten direkt im Kinosaal über eine Abstimmung per Handkarten zu beeinflussen. Tatsächlich existierte vom Film jedoch nur ein Ende, in dem Sardonicus final sanktioniert wird, was stets unabhängig von dem tatsächlichen Abstimmungsergebnis gezeigt wurde (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_unheimliche_Mr._Sardonicus. Zugegriffen: 03. 09. 2022).
- 7.
Lotman bezieht sich vornehmlich auf literarische Texte, doch im Sinne eines weiten Textbegriffs sind auch audiovisuelle Texte wie Filme analog beschreibbar. Eine Applikation des Lotman’schen Modells auf serielle Erzählzusammenhänge leistet Krah (2010).
- 8.
Eine Übersicht interaktiver Webserien findet sich bei Kuhn (o.J.).
- 9.
Eine Auflistung der Videos gibt es unter: https://www.youtube.com/playlist?list=PL6F730F85FA7C34C2. Zugegriffen: 03. 09. 2022.
- 10.
Auch rein dokumentarische Formate im Internet integrieren bisweilen eine interaktive Nutzungskomponente. So wird in der Web-Dokumentation Einfach gut leben (Margaux Missika/Yuval Orr, BRD, 2018. https://www.earn-a-living.com/de/. Zugegriffen: 03. 09. 2022) zum Thema bedingungsloses Grundeinkommen mithilfe eines interaktiven Quiz auf die Thematik eingestimmt. Noch weiter geht die Webserie Do Not Track (Brett Gaylor, CA/F/D, 2015. https://donottrack-doc.com/de/about/. Zugegriffen: 03. 09. 2022). Hier wurden passend zur Überwachungsthematik der Serie interaktive Elemente zur Auswertung der eigenen Digital-Präsenz integriert. Jede Folge beinhaltet dabei Möglichkeiten zur Eingabe eigener Daten, hinzu kommen nach der Registrierung Mailumfragen sowie Ergebnisse des Trackings der Do Not Track-Webseite. Damit werden die einzelnen Episoden laut Website ‚personalisiert‘, d. h. „auf Ihre Interessen und Ihren persönlichen Hintergrund“ zugeschnitten, um zu zeigen „wie Ihre personenbezogenen Daten gesammelt werden, während Sie im Internet surfen, und vor allem auf welche Art und Weise sie weiterverwendet werden“ (vgl. weiterführend zur Serie Frank 2020).
- 11.
http://www.netwars-project.com/de/ Zugegriffen: 03. 09. 2022.
- 12.
Das Finale von 2020 ist als Sequel zu verstehen, insofern die Serie bereits 2019 mit dem ‚regulären‘ Ende der vierten Staffel ihren Handlungsbogen schließt.
- 13.
Die Paratexte und das Interface des Anbieters Netflix weisen die interaktiven Formate dezidiert als eigenständig aus, insofern diese nicht über die Übersichtsseite der Ursprungsserien abrufbar sind, sondern nur über einen eigenen Menüpunkt. Zusätzlich werden sie über ein spezifisches Netflix-Logo für interaktive Angebote als ‚anders‘ markiert.
- 14.
So bittet Stefan in einem Monolog nach einem Zeichen der ihn fremdbestimmenden höheren Macht, woraufhin es möglich ist, das Netflix-Logo auf Stefans Computerbildschirm einzublenden.
- 15.
Vgl. zum anthologischen Erzählen Hauptmann et al. (2022).
- 16.
Entsprechend beginnen die einzelnen Episoden analog zu medialen Traditionen des digitalen Spiels mit einer kurzen Zusammenfassung des jeweiligen Missionsauftrags, der stets nur eine knappe Zielvorgabe beinhaltet (z. B. müssen Medikamente für ein Dorf beschafft werden), die durch eine referenzfreie Karte der Umgebung sowie eine Visualisierung der notwendigen Wegstrecke ergänzt wird.
- 17.
Diesbezüglich diskutiert Peter Podrez den Loop als Grundform von Games, die sich sowohl in konkreten Levelarchitekturen und Bewegungsmustern von Spieler:innen findet, als auch abstraktere Schleifenmuster im Spielvorgang (speichern, scheitern, laden etc.) beschreiben kann (vgl. Podrez 2018).
- 18.
Ein Beispiel: In der Serie Prison Break (Paul Scheuring, USA, 2005–2017) gelingt es den inhaftierten Protagonisten in den letzten Minuten der ersten Staffel endlich, den handlungsbestimmenden und titelgebenden Gefängnisausbruch zu vollziehen. Wenn sie dabei nur wenige Meter entfernt von ihren Verfolgern über ein freies Feld flüchten, sich jedoch in der ersten Szene der zweiten Staffel bereits in sicherem räumlichem Abstand zu den Suchtruppen befinden, fungiert allein die durch die Staffelpause erzeugte Zäsur als Äquivalent einer potenziell kohärenzstiftenden und durch die Fantasie des Publikums zu füllenden, handlungstechnischen Leerstelle.
- 19.
Beispielsweise ist es in Episode 3 der interaktiven Spieleserie Game of Thrones (Telltale Games, Diverse, 2014–2015) möglich, gegen eine feindliche Besetzung der eigenen Burg aufzubegehren oder die fremde Machtübernahme devot hinzunehmen. Unabhängig von dieser Entscheidung durch die Spieler:innen leistet der Protagonist in der Folgeepisode offen Widerstand. Dies stellt allerdings selbst im Falle einer vorherigen Fügung nicht zwangsläufig eine Inkonsistenz dar, weil die Entscheidungen der Spieler:innen in der Spielnarration stets in eine Wahl der gespielten Figuren übersetzt werden und die Motivationen dieser Figuren in der Darstellung ‚ihrer‘ Entscheidungen eine erzählerische Leerstelle bilden. Im Beispiel sind in den Entscheidungssequenzen für oder gegen den Widerstand Sanktionen für die Widersetzung antizipierbar, sodass auch ein devotes Verhalten der gespielten Figur als strategisch motiviert interpretierbar ist. Diese Ambivalenz (tatsächliche vs. vorgetäuschte Fügung) wird dann erst in der Folgeepisode im Sinne der zweiten Option aufgelöst – mit der zeitlichen Zäsur zwischen Episode 3 und 4 sind dann entweder ein veränderter situativer Kontext oder eine Charakterwandlung assoziierbar, die nun einen offenen Widerstand ermöglichen (vgl. hierzu ausführlich Hennig 2017b).
- 20.
Aufgrund dieser Anlehnung an andere Medienformate bilden diese Beispiele gleichzeitig eine Form paraludischer Serialität (siehe Abschn. 4.3).
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Hennig, M. (2023). Interaktives Storytelling. In: Grampp, S., Moskatova, O. (eds) Handbuch Televisuelle Serialität. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35305-6_18-1
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