Zusammenfassung
Gerade der Sozialpolitik kommt es zu, die wesentlichen Voraussetzungen für politische Großprojekte wie die sozial-ökologische Transformation zu schaffen. Wenn Sozialpolitik in demokratisch verfassten Gesellschaften das Bedürfnis relevanter Gruppen nach sozialer Sicherheit nicht adäquat erfüllt, hat dies für Individuen wie auch für Politik negative Effekte, die in politischem Immobilismus zu enden drohen. Daher trägt die sozialstaatliche Erzeugung sozialer Sicherheit, einschließlich einer zukunftsbezogenen Erwartungssicherheit, wesentlich dazu bei, die durch große Transformationsprozesse entstehenden sozialen und individuellen Kosten zu überbrücken, bis ein gesellschaftlicher Umbau längerfristig soziale, politische und ökonomische Erträge erzielen kann. Im Gegensatz zu neoliberalen Annahmen wirkt soziale Sicherheit demnach nicht bremsend, sondern ermöglichend auf gesellschaftliche Innovationen.
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Notes
- 1.
Der Satz bezieht sich auf den Beginn von Vobruba (1991, S. 7). Ich komprimiere hier den damals entwickelten Theorieansatz und bringe ihn auf den gegenwärtigen Stand der Dinge.
- 2.
Weltweit ging Armut in den 25 Jahren bis 2019 zurück. Infolge der COVID-19-Pandemie erwartet die Weltbank 2021 einen massiven Wiederanstieg der Zahl extrem Armer (The World Bank 2020a).
- 3.
Das ist auch ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung der Entwicklung staatlicher Sozialpolitik in vier Schwellenländern (Leisering 2021).
- 4.
In der angelsächsischen Sozialpolitikforschung ist die direkte Parteinahme für Sozialpolitik weitgehend selbstverständlich, in der deutschsprachigen weniger.
- 5.
- 6.
Der anspruchsvollste Versuch einer grundlegenden Neuorientierung des Marxismus zur Sozialpolitik stammt von Eduard Heimann (1929/1980).
- 7.
- 8.
Dieses Problem war schon in der Verrechtlichungsdiskussion Thema. Der damals vorherrschende rechtsskeptische Tenor beruhte im Wesentlichen darauf, dass zwischen Rechtsansprüchen, die Erwartungssicherheit vermitteln, und Handlungsspielräume einschränkenden rechtlichen Regulierungen sowie bürokratischen Ermessensspielräumen nicht trennscharf unterschieden wurde (Voigt, 1980; Habermas, 1981 II, S. 522 ff.; Voigt, 1983; Vobruba, 1997).
- 9.
- 10.
Daran schließt die lange Debatte um eine negative Einkommensteuer an.
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Vobruba, G. (2022). Jenseits der sozialen Fragen. In: Betzelt, S., Fehmel, T. (eds) Deformation oder Transformation?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35210-3_12
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