Zusammenfassung
In jüngerer Zeit ist das Interesse an der Ideengeschichte der Betriebswirtschaftslehre erneut erwacht. Der Beitrag trägt zu dieser Literatur bei. Wir richten die Lupe auf einen Autor, der heute bis auf wenige Ausnahmen (Dieter Schneider) nahezu vergessen ist: auf den russischen Betriebswirt Lev (später Léon) Gomberg, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem in deutscher und französischer Sprache veröffentlichte und in St. Gallen und Genf wirkte. Mit dem konzeptionellen Rahmen der Theorie der strategischen Handlungsfelder (Fligstein und McAdam) und Bourdieus Kapitalbegriff begreifen wir die Betriebswirtschaftslehre zu Gombergs Zeit als emergentes strategisches Handlungsfeld und Gomberg als Herausforderer in diesem Feld. Um frisches Licht auf diese Periode zu werfen, Gombergs Positionierungsstrategien und deren Scheitern zu erklären, greifen wir auf umfangreiches bisher nicht genutztes Material von und zu Gomberg und seiner Rezeption zurück. Folgende Ergebnisse unserer Untersuchung erscheinen bedeutsam: Gombergs reiches, in Russland und durch spätere Reisen erworbenes edukatives Kapital ermöglicht ihm eine außergewöhnliche Rezeption der internationalen Literatur, insbesondere der hoch entwickelten italienischen Ragioneria. Er setzt seit der Übersiedelung in die Schweiz nach anfänglichen Erfolgen in der Argumentation auf (konkurrierende) Nachbarfelder des emergenten Handlungsfeldes BWL, dabei häufig auf Außenseiter, in der Ragioneria auf Pisani, in der Nationalökonomie auf Menger oder Ehrenberg. Er setzt auf Theorie und Methode, verwendet auch in seinen deutschsprachigen Schriften einen ganz eigenen Code, gekennzeichnet durch viele Originalzitate aus der italienischen und französischen Literatur (oft ohne Übersetzung), eine Tatsache, die schon Schmalenbach aufregte. Die Theorie der strategischen Handlungsfelder prognostiziert, dass es nicht Methodenstreits, sondern unvorhergesehene externe Ereignisse sind, die (häufig) den entscheidenden Impuls für den Übergang eines emergenten Feldes in ein (vorübergehend) stabiles und autonomes Feld anstoßen. Genau dies geschah mit der Betriebswirtschaftslehre: nicht der Methodenstreit von 1912, sondern die Inflation war der entscheidende Anstoß, mit der sie in den Worten Gutenbergs zu sich selbst als Wissenschaft fand. Gomberg verpasste dies. Seine spätere Kritik an der Entwicklung erscheint auf Französisch, in den 1930er-Jahren sind es nur Schönpflug und Töndury, die sein theoretisches Anliegen würdigen. Auch die Umstände seines unrühmlichen Abgangs in St. Gallen, der ihn seines symbolischen Kapitals als Professor beraubt, vermitteln den Eindruck, dass es ihm an Kenntnis der Spielregeln mangelte, die für den Erfolg im wissenschaftlichen Feld notwendig ist. Schmalenbach lehnt Gomberg scharf ab, ebenso Nicklisch, trotz inhaltlicher Nähe. Beide entwickeln sich über ihre Publikationen und über ihr gesamtes Wirken zu institutionellen Unternehmern (und dann Etablierten) bei der Stabilisierung des Handlungsfeldes BWL.
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Notes
- 1.
Zu kontrafaktischen Analysen in der Geschichtswissenschaft empfehlenswert ist Spoerer und Streb (2013, S. 20 f.).
- 2.
Gomberg ist auch der Autor, der in den 1930er-Jahren in Italien von Paolo Cassandro (1933) als Herausforderer der sich gerade etablierenden Lehre Gino Zappas rezipiert wird, wie Santaniello, Coronella und Hermann in diesem Band zeigen.
- 3.
Das häufige Argument, Gombergs Werk sei zu früh gekommen, zielt auf den wichtigen Aspekt des Kairos (Καιρός), des richtigen Zeitpunkts ab, ohne allerdings näher zu fragen, was denn der Καιρός gewesen sei. Es vernachlässigt, dass Werke (und Autoren) auch Jahre nach ihrem Erscheinen entdeckt werden und einflussreich sein können.
- 4.
„Skilled social actors empathetically relate to the situations of other people and, in doing so, are able to provide those people with reasons to cooperate“ (Fligstein & McAdam, 2012, S. 46).
- 5.
„An emerging field is a socially constructed arena occupied by two or more groups whose actions are oriented to each other but who have yet to develop a stable order that effectively routinizes field relations. One can conceive of emerging fields as social space where rules do not yet exist but where actors, by virtue of emerging, dependent interests and worldviews, are being forced increasingly to take one another into account in their actions“ (Fligstein & McAdam, 2012, S. 86 f.).
- 6.
Die Theory of Strategic Action Fields wurde bisher noch nicht auf Deutsch übersetzt, dafür aber die Architektur der Märkte. Hier heißt es „etablierte Unternehmen“ und „etablierte Akteure“ sowie „Herausforderer“ (Lutter, 2012).
- 7.
Institutionelle Unternehmer sind „skilled social actors who can forge new identities, coalitions, and hierarchies …“ (Fligstein & McAdam, 2012, S. 84).
- 8.
Uns lag die von Hans Seischab posthum veröffentlichte zweite Auflage vor. Um deutlich zu machen, dass wir nur Aussagen von Schönpflug selbst zitieren, haben wir die Doppelbibliografie (1933/1954) gewählt.
- 9.
Den Namen Betriebswirtschaftslehre gab es damals noch nicht, es ging um Handelswissenschaften, Einzelwirtschaftslehre, Privatwirtschaftslehre. BWL konnte sich erst im stabilisierten Zustand durchsetzen, ja war Zeichen dieser Stabilisierung. Wir werden vereinfachend auch für das Vorgängerstadium, das emergente strategische Handlungsfeld, meist von Betriebswirtschaftslehre sprechen.
- 10.
Herausforderer im engeren Sinne ist man, wenn man Etablierte im Feld herausfordert. Wir verwenden dennoch häufig diesen (stärkeren) Begriff für Gomberg, da das Feld im Fluss war.
- 11.
Burr (2012, S. 122 f.) sieht (wie Brockhoff, 2017) die Institutionalisierung als Fachdisziplin als einen der konstituierenden Entwicklungstrends der BWL, stellt aber ausschließlich auf die Gründung von wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrinstitutionen ab, also nicht auf das gesamte kaufmännische Bildungswesen.
- 12.
Ehrenberg (1857–1921) war damals Sekretär des Königlichen Kommerz-Kollegiums in Altona.
- 13.
Unmittelbares Resultat war die Gründung der Handelshochschule Leipzig (Zipperlen, 1987, S. 193 f.).
- 14.
Sein Fazit: „Die Handelsbetriebslehre kann nur als Teil der Einzelwirtschaftslehre rationell ausgebaut und gelehrt werden und die nötige wissenschaftliche Bedeutung erhalten“ (Gomberg, 1903, S. 29).
- 15.
Der Betriebswirten vielleicht weniger bekannte Georg von Mayr (1841–1925) war langjähriger Leiter des statistischen Büros in Bayern und nach seiner Habilitation in Straßburg Professor für Nationalökonomie und Statistik in München (Brandt, 1993, S. 84).
- 16.
Nicklisch war damals noch Dozent an der Handelshochschule Leipzig, 1910 erfolgte dann seine Berufung als Professor für Einzelwirtschaftslehre an die Handelshochschule Mannheim (Hermann, 1987).
- 17.
Das Archiv von Duncker und Humblot ging in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges nahezu komplett verloren, sodass keine Dokumente zu einem evtl. Schriftwechsel zwischen Gomberg und dem Verlag bestehen (E-Mail-Auskunft des Verlagsdirektors Andreas Reckwerth vom 30.06.2020 auf Anfrage von Th. Hermann).
- 18.
Eine Google-Recherche führte uns zur Homepage von booklooker.de mit antiquarischen Ausgaben des Verlags.
- 19.
Mit Argumentum ad auctoritatem ist das in den Sozialwissenschaften übliche Verwenden des Zitierens von (bedeutenden) Autoren mit gleichen Erkenntnissen gemeint. Im Gegensatz dazu sind intertextuelle Antagonismen eine Form der Bezugnahme auf andere Autoren, die zeigen will, dass man selbst eine bessere oder zumindest alternative Erklärung hat (Bredenbach, 2018, S. 38). Argumentum ad auctoritatem und intertextueller Antagonismus sind die textlichen Indizien für die Strategien des Dissoziierens von und der Partizipation am Diskurs.
- 20.
Zur Bedeutung von Menger vgl. Yagi (1997).
- 21.
„Kurz gesagt, die Kontrolle muss all jene Handlungen umfassen, die jeden, der in der Wirtschaftsverwaltung tätig ist, in die Lage versetzt und dazu zwingt, seine Pflicht zu tun …“, (eigene Übers.).
- 22.
„Buchhaltung ist die Wissenschaft, die Verwaltungsfunktionen diszipliniert und leitet, um eine maximale wirtschaftliche Wirkung zu erzielen; diese drückt sich aus mithilfe der Zahlen der Arithmetik, geordnet mithilfe der Buchführung“ (eigene Übers.).
- 23.
Zu Thaer (1752–1828) siehe Schneider, 2001, S. 174.
- 24.
Zu Gottschalk (1824–1887) siehe Schneider, 2001, S. 188.
- 25.
Zu Rehm (1862–1917) siehe Schneider, 2001, S. 948.
- 26.
Dr. Abraham Adler war seit 1874/5 Vizedirektor der Öffentlichen Handelslehranstalt zu Leipzig (ÖHLA). Aufgrund seiner Verdienste um die ÖHLA wurde ihm im Jahre 1899 der Professorentitel verliehen.
- 27.
Die Preussen hatten nach den Napoleonischen Kriegen sehr zum Unwillen der Kölner entschieden, dass Köln mit C zu schreiben sei. So blieb es bis 1919, als Konrad Adenauer am 30. Januar verkündete, der Städtename sei wieder mit K zu schreiben (Rheindorf, 2019).
- 28.
Handelsschuldirektor, 1853–1931, Betriebswissenschaftler; Gründer einer Handelsschule in Hannover, s. www.deutsche-biographie.de.
- 29.
Diese „Äußerlichkeiten“ waren gerade Schmalenbach, wie wir gesehen haben, besonders aufgestoßen.
- 30.
Eine Anspielung auf das Werk „Der Weg aufwärts! Organisation“ von Nicklisch.
- 31.
Dass Nicklisch für die Organisation des Wissenschaftsbetriebs und die Entwicklung des VHB das größte Verdienst zukomme, hat Schneider (2012, S. 41) betont.
- 32.
Sie hatte aus dieser Sicht vielleicht doch mehr Bedeutung als den „erkennbar exemplarischen Charakter“, den ihr Brockhoff (2017, S. 179) zuschreibt.
- 33.
Auf Deutsch gibt es nur ausgesprochen rudimentäre Hinweise zur Biografie Gombergs. Am informativsten ist die französische Biografie, die Delaporte (1936) der posthum veröffentlichten Schrift Gomberg (1936) vorausschickt. Unsere Ausgabe entstammt dem Archivio Gianessi der Universität von Pisa. Auch die Aufsätze Cassandros (1933) enthalten biografische Details.
- 34.
Die Angaben zur russischen Periode Gombergs basieren auf Bychlova, Mattessich und Sokolov (2008).
- 35.
Sie lebte kurzzeitig von 1923–1930 wieder auf, unter anderer Herausgeberschaft.
- 36.
Es finden sich unterschiedliche Schreibweisen des Namens. Beim Vornamen ist das der damaligen Sitte geschuldet, sie zu nationalisieren, aus Adolf wird Adolfo in den italienischen und Adolphe in den französischen Quellen. Einige Quellen schreiben den Nachnamen mit zwei f.
- 37.
Zu ihr gehörten auch die renommierten russischen Rechnungswesenexperten Nikolay Ustinovich Popov und Evstaphiy Evstaphievich Sivers.
- 38.
Burmeister (1998, S. 40 f.) vermerkt, allerdings ohne Quellenbeleg, Gomberg sei auch in einem russischen Ministerium tätig gewesen.
- 39.
Unser Dank gilt dem Leiter des Archivs, Thomas Schwabach, der uns die Briefe und Schreiben zugesandt hat.
- 40.
Bei Burren (2010, S. 75) heißt es statt Kündigung euphemistisch: „Gomberg verließ St. Gallen und ließ sich in Genf als Bücherrevisor nieder“.
- 41.
Mail Dr. Thomas Schwabach, Leiter Universitätsarchiv Universität St. Gallen, an Thomas Hermann vom 29.06.2020. Das als PDF übersandte Personaldossier wird zitiert als Archiv Universität St. Gallen (o.J.) bzw. HSG 210/159.
- 42.
1915 entstand mit der Gründung dieser ersten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Schweiz auch ein „Institut des Hautes Études Commerciales“. Auf das Ordinariat für „Économie commerciale“ wurde der Zürcher Hans Töndury berufen. (Burren, 2010, S. 65).
- 43.
Töndury, geboren am 29.06.1883 Zürich, gestorben am 09.12.1938 Zürich. 1910–1915 Professor an der Handelshochschule St. Gallen, 1915–1928 an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Genf, 1928–1938 Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bern (Bundi, 2012).
- 44.
Und nicht Bern, wie es Burren (2010, S. 75) schreibt.
- 45.
Dies war nicht völlig korrekt, zurzeit, als Gomberg dort angestellt war, war St. Gallen noch Handelsakademie und nicht Hochschule.
- 46.
Für die Übersetzungen aus dem Französischen wurde der Editor von MS Word zu Hilfe genommen. „Il est incontestable que grâce à un travail et à des recherches sérieuses de toute une phalange de jeunes forces qui se sont vouées avec sale et entrain à l´étude de l´Economie Privée, un grand et réel progrès a été réalisé dans ce domaine en Allemagne depuis un quart de siècle. Il est regrettable que la théorie comptable n´ait pas subi le même sort et qu´elle soit souvent subordonnée aux différentes doctrines économiques.“
- 47.
„Le renversement des deux mots de ce terme, qui rend clairement et intelligiblement le vrai sens du sujet, paraît inutile et ne contribue nullement à donner une idée bien déterminée et bien circonscrite de la discipline, première condition d´un langage scientifique bien formulé.“
- 48.
„Il nous semble inutile de se servir de termes qui non seulement n´éclairent pas mais obscurcissent la matière. Au reste, l´application en comptabilité des termes statique et dynamique a déjà été faite bien avant Schmalenbach. En effet, nous les trouvons pour la première fois chez Pisani. Toutefois, Pisani emploie plus judicieusement ces termes : en effet, il appelle „statici“ les faits se rapportant à l´état, au statut patrimonial, et „dinamici“ ceux qui mettent en mouvement les éléments patrimoniaux et les transforment.“
- 49.
Erich Gutenberg verweist in seinen Rückblicken auf die Bedeutung der Kenntnis der Methode Thünens für die Konzeption seiner Habilitationsschrift (Albach, 1989). Thünen (und Ehrenberg) waren auch für Gomberg methodisch zentral gewesen, hier hätte es also mögliche Berührungspunkte gegeben, die sich aber konkret in Gutenberg (1929) nicht finden.
- 50.
Töndury stirbt 1938 bereits mit 55 Jahren. Der an der Handelshochschule Berlin promovierte Fritz Schönpflug (1900–1936), emigrierte 1933 mit seiner jüdisch-stämmigen Ehefrau aus Deutschland, habilitierte sich 1935 in Bern und „schied 1936 durch schleichenden Freitod aus dem Leben“ (Mantel, 2009, S. 13).
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Hermann, T., Coronella, S., Santaniello, L. (2022). Léon Gomberg, gescheiterter Herausforderer in der Gründungszeit der Betriebswirtschaftslehre. In: Matiaske, W., Sadowski, D. (eds) Ideengeschichte der BWL II. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35155-7_19
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