Dieses Kapitel soll eine solide Basis für die folgenden Ausführungen in diesem Band schaffen, indem wichtige Grundlagen dargestellt und die relevantesten Begriffe für unseren Kontext erklärt werden. Es handelt sich hier um Hintergrundwissen, auf das im Laufe des Buches an unterschiedlichen Stellen immer wieder verwiesen wird. Um für ein entsprechendes Verständnis und Möglichkeit der Einordnung zu sorgen, sollen hier die zentralsten Konzepte, Begrifflichkeiten und Krankheitsbilder vorgestellt und erläutert werden. Um zugleich die Lesbarkeit zu erhöhen, wird hier auf eine umfangreiche Diskussion und Erläuterung unterschiedlicher Verwendungsweisen der Terminologie in der Forschung verzichtet. Dafür möchte ich auf die entsprechenden einschlägigen Arbeiten in den jeweiligen Disziplinen verweisen. Dieses Kapitel dient ausschließlich der Offenlegung der von uns in diesem Band gewählten Terminologie und ihrer Erläuterung zwecks besserer Verständlichkeit der Ausführungen. Es ist nicht als Herleitung und wissenschaftliche Begründung für diese Wahl zu verstehen.

Mehrsprachigkeit

Unter Mehrsprachigkeit kann je nach Forschungsausrichtung sehr viel und zugleich auch sehr wenig verstanden werden. Einige meinen, mehrsprachig ist man dann, wenn man mehr als eine Sprache in dem Ausmaß beherrscht wie ein Einsprachiger eine Sprache (= kompetenzorientierter Ansatz), andere meinen, es reichen einige Kenntnisse in einer weiteren Sprache, wie z. B. einer in der Schule erlernten Fremdsprache aus. Dieser einmal sehr eng und gegensätzlich sehr weit aufgefasste Begriff umspannt die möglichen Dimensionen der Definition von Mehrsprachigkeit. Es handelt sich um einen sehr schillernden, mehrdeutigen und damit zugleich uneindeutigen Terminus, der von vielen Disziplinen verwendet wird. Dabei unterscheiden sich nicht bloß die einzelnen Disziplinen in der Deutung des Begriffes, sondern auch die einzelnen Wissenschaftler/innen innerhalb gleicher Disziplinen. Insofern sei hier dringlichst darauf hingewiesen, dass es nicht das eine Verständnis von Mehrsprachigkeit gibt! Für eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gepflogenheiten sei auf entsprechende Einführungen in die Mehrsprachigkeitsforschung oder auch auf Monografien in den unterschiedlichen Disziplinen verwiesen. Dort finden sich jeweils Diskussionen zur Terminologie.

Hier soll ausgeführt werden, was wir zum Zwecke dieser Ausführungen und für die weitere Verwendung in diesem Sammelband verstehen, wenn von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigen im Kontext von Alter, Pflegebedürftigkeit und Demenz die Rede ist.

Als mehrsprachig verstehen wir einen Menschen dann, wenn er in seinem Lebensalltag mehr als einer Sprache regelmäßig und in für ihn relevanten Situationen ausgesetzt ist. Dieser Lebensalltag schließt dabei das innere Seelenleben als relevanten Teil mit ein. Dabei ist es nicht relevant, in welcher Weise sich diese Person in den jeweiligen Sprachen ausdrücken kann oder sie auch nur annähernd gleich beherrscht werden. Es zählt als ausschlaggebendes Kriterium das Auftreten von mehr als einer Sprache im Alltag und damit – um es mit Weinreich (1953/1976) auszudrücken – das Aufeinandertreffen von Sprachen im Kopf des Sprechers. Bei ihm treffen die Sprachen zusammen und er agiert damit in einer für ihn mehrsprachigen Lebenswirklichkeit. Dabei kann es sein, dass von außen betrachtet diese Lebenswirklichkeit monolingual erscheint, da die Person sich in einer einsprachigen Umgebung befindet. Bringt sie jedoch durch ihre Biografie eine weitere Sprache mit und ist diese in ihr entsprechend aktiv, handelt es sich nach unserer Definition dennoch um einen mehrsprachigen Menschen. Dies trifft z. B. zu, wenn eine Person ihr Leben lang eine Sprache gesprochen hat (diese kann dabei im Sinne der Erwerbsreihenfolge Erst- oder auch Zweitsprache sein) und diese auf einem recht guten Niveau beherrscht und nun, durch Wechsel der Lebensumstände, die Sprache nicht mehr in ihrem Umfeld gesprochen wird. Ein solches Szenario ist anzutreffen, wenn russisch- oder auch polnischsprachige Menschen im Lauf ihres Lebens in Deutschland Russisch bzw. Polnisch aktiv verwendet haben und aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit in ein deutschsprachiges Pflegeheim ziehen. Dort befinden sie sich in einer häufig monolingual deutschsprachigen Umgebung, tragen aber ihre Herkunftssprache in sich. Die in unserem Projekt häufigste Konstellation ist, dass die Pflegebedürftigen in einem russischsprachigen Land bzw. in Polen geboren sind, im Laufe ihres Lebens nach Deutschland gekommen und dort in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Mehrsprachigkeit gelebt haben. Für sie ist das Russische bzw. Polnische jeweils die Erstsprache und die dominante Sprache, die sie Zeit ihres Lebens begleitet hat. Mit dem Umzug ins Pflegeheim verlassen diese Menschen ihre mehr oder weniger mehrsprachige Umgebung (es differieren dabei z. T. die Anteile des Deutschen recht stark) und ziehen in ein einsprachig deutsches Setting. Erschwerend kommt in diesen Fällen häufig dazu, dass durch Alterungsprozesse bzw. vorrangig demenzielle Erkrankungen sprachliche Kompetenzen abgebaut werden. Diese Attritionserscheinungen betreffen dabei häufig in einem stärkeren Ausmaß die nicht dominante bzw. nicht ersterworbene Sprache, in unseren typischen Fällen also das Deutsche. So kann es durchaus dazu kommen, dass eine konkrete betroffene Person krankheitsbedingt die eine Sprache verliert, die andere jedoch im Kopf erhalten bleibt, sie zugleich jedoch in einer Umgebung lebt, die die verlorengegangene Sprache verwendet. Damit tritt der Fall ein, dass die Umgebung monolingual in der einen Sprache ist, während die Person als wieder quasi monolingual in einer anderen angesehen werden muss. Auch in solchen Konstellationen sprechen wir dennoch von mehrsprachigen Pflegebedürftigen, da auch sie in ihrem Lebensalltag mehr als einer Sprache ausgesetzt sind. Gerade für sie ist diese Definition sehr relevant, da sie genötigt werden, in einer Sprache dennoch kommunizieren zu müssen, die ihnen eigentlich nicht mehr aktiv zur Verfügung steht. Sie stehen in einer äußerlich unsichtbaren Mehrsprachigkeitssituation und müssen in irgendeiner Weise mit ihr umgehen.

Damit handelt es sich um eine sehr pragmatische Definition, die sich an der Perspektive des Sprechers und seinen konkreten Kommunikationssituationen im Alltag orientiert. Sie ist unabhängig von den sprachlichen Kompetenzen oder auch der Sprachbiografie (im Sinne der Erwerbsreihenfolge wie Erst- oder Zweitsprache) und auch der Dominanz der Sprachen zu sehen. Sie lässt viele Aspekte außen vor, ist jedoch in diesem Fall so weit und bewusst heterogen zu fassen, damit eine große Anzahl unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten subsumiert werden kann. Dies trägt in unseren Augen der tatsächlichen Heterogenität Rechnung: Kein Mensch beherrscht irgendeine Sprache so wie ein anderer und auch keine Sprache so wie eine andere. Jede Biografie ist einzigartig und speziell am Lebensende so divers wie die Menschen selbst. Hinzu kommen unzählige Krankheiten mit unterschiedlichsten Symptomen, die sich auf die Sprachkompetenzen auswirken können. Wollte man all diesen Merkmalen Aufmerksamkeit schenken und sie bei der Definition berücksichtigen, hätte man im Sinne einer Klassifizierung nichts gewonnen.

Somit verwenden wir die Begriffe mehrsprachig, Mehrsprachiger, Mehrsprachigkeit in einem sehr weit gefassten Umfang und konzentrieren uns auf die entsprechende Lebenswirklichkeit der einzelnen Person. Zusätzlich umfassen diese Termini auch die jeweilige Konstellation, dass es sich „nur“ um zwei involvierte Sprachen handelt. In den meisten unserer Fallbeispiele wurden im Laufe des Lebens vorrangig zwei Sprachen aktiv verwendet, in einigen jedoch auch mehr als zwei. Um hier kleinteilige Unterscheidungen zu vermeiden, die zugleich auf die Ausprägung der momentanen Sprachsituation keine nennenswerten Auswirkungen haben, wird auf eine Differenzierung zwischen ein, zwei und mehr Sprachen verzichtet und nur die einsprachige Situation einer mehr als einsprachigen (= damit mehrsprachigen) Situation gegenübergestellt.

Wichtig ist dabei zu beachten, dass dieses Verständnis nicht auf den Bereich außerhalb der Pflege und dieser konkreten Lebenssituation im Pflegeheim anzuwenden ist, er ist vielmehr für genau diesen Fall angepasst und damit nicht verallgemeinerbar!

Erstsprache, Zweitsprache, dominante Sprache und Umgebungssprache

In der MehrsprachigkeitsforschungFootnote 1 werden nach unterschiedlichen Kriterien die jeweils beteiligten Sprachen benannt. Dabei ist ein Kriterium jenes der Reihenfolge des Erwerbs der Sprachen im Laufe der individuellen Sprachbiografie. Die Sprache, die im Laufe des Lebens als erste erworben wird, wird als Erstsprache bezeichnet und mit der gängigen Abkürzung L1 (L für language) dargestellt. Eine Sprache, die später erworben wird, ist die sog. Zweitsprache (= L2). Dabei wird je nach Alter des Beginns des Erwerbs dieser Sprache unterschieden zwischen kindlicher L2 (= cL2) und erwachsener L2 (= aL2). Die jeweiligen Altersgrenzen zur Differenzierung variieren hier zwischen den Forschungsausrichtungen. Im Fall eines zeitgleichen Erwerbs mehr als einer Sprache setzt man eine doppelte L1 an (2 L1).

Ein zweites Kriterium, um die involvierten Sprachen zu charakterisieren, ist jenes nach dem Grad der Beherrschung der Sprache. Hier wird klassischerweise zwischen einer dominanten und einer nicht dominanten Sprache unterschieden, wobei auch der Fall einer ausgeglichenen Dominanz zwischen Sprachen möglich ist. Die dominante Sprache ist die in der Regel besser und in mehr Facetten beherrschte Sprache, die nicht dominante ist häufig auf einzelne Lebensbereiche (sog. Domänen) beschränkt, wie z. B. den familiären Alltag.

Die beiden Begrifflichkeiten – also die nach der Erwerbsreihenfolge und die nach der Dominanz der Sprachen – überschneiden sich dabei nicht zwangsläufig! Es muss keinesfalls die Erstsprache immer die dominante Sprache sein. Gerade in der Konstellation von sog. Herkunftssprachen (vgl. hierzu Brehmer & Mehlhorn, 2018) kommt es oft zu einem Wechsel der dominanten Sprache im Laufe der Sprachbiografie: Zunächst wird die Sprache der Eltern als Erstsprache erworben und im Rahmen des kindlichen Spracherwerbs als dominante Sprache entwickelt. Entspricht jedoch die Sprache der Eltern (meist als Familiensprache bezeichnet) nicht der Sprache der Umgebung (= Umgebungssprache), kommt es irgendwann im Laufe des Spracherwerbs zu einer mehrsprachigen Situation. Das Kind erwirbt entweder parallel eine zweite Erstsprache (= simultaner Spracherwerb) oder aber versetzt (= sukzessiver Spracherwerb) die Sprache der Umgebung (dann meist cL2). Zu Beginn ist es dabei oft so, dass die Familiensprache diejenige ist, die am häufigsten gehört und verwendet und damit auch dominanter ist als die Umgebungssprache. Allerdings ändert sich dies häufig (vgl. ebd. oder auch diverse Studien von Anstatt, wie bspw. 2011 zu diesem Thema) mit dem Eintritt des Kindes in den Kindergarten oder in die Schule bzw. spätestens mit der Pubertät. Hier wächst die Relevanz und der Einfluss der Umgebungssprache immer mehr, und in der Konsequenz kommt es häufig zu einem Wechsel in der Dominanz der beteiligten Sprachen: Die Umgebungssprache wird zur dominanten Sprache, die Familiensprache wird häufig auf den familiären Kontext beschränkt. Auch diese Konstellation kann sich im Lauf des Lebens in Abhängigkeit von den sprachlichen Lebensumgebungen und -gepflogenheiten wieder ändern. Sprache und sprachliche Fähigkeiten sind keine unveränderlichen Gegebenheiten, sondern unterliegen vielfältigem Wandel und Einfluss. Daher ist es in diesem Bereich besonders wichtig, die jeweiligen individuellen Ausprägungen und Sprachbiografien ins Kalkül zu ziehen.

Bezogen auf die hier im Fokus stehende Konstellation ist abschließend Folgendes zu verdeutlichen: Die Personen, die hier im Mittelpunkt stehen, sind überwiegend Vertreter einer älteren Generation an Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind und dort – in ihrem Herkunftsland – in einem (meist) einsprachigen Kontext ihre Erstsprache erworben haben. Diese ist in der Regel nicht Deutsch, sondern Russisch oder Polnisch. Lediglich in einigen wenigen Ausnahmen spielte Deutsch eine unterschiedlich große Rolle auch im Herkunftsland, dies ist jedoch von der Herkunft und der Biografie der Personen abhängig und wird in diesen Fällen gesondert thematisiert. Im Laufe ihres Lebens immigrierten dann diese Personen zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland und kamen so mit der Umgebungssprache Deutsch in Kontakt. Die sprachlichen Kompetenzen, die sie im Deutschen erworben haben, sind dabei sehr vielfältig und reichen von sehr guten Kenntnissen hin zu rudimentären. Kennzeichnend für alle Personen ist jedoch, dass sie über mehrere Jahrzehnte ihres Lebens in einer mehrsprachigen Situation gelebt haben, in der sie ihre Erstsprache (= Russisch/Polnisch) gesprochen haben und zugleich in einer deutschsprachigen Umgebung gelebt und mehr oder weniger stark mit ihr in Kontakt getreten sind. In allen diesen Fällen handelt es sich bei der Erstsprache um die dominante Sprache. Das Deutsche ist (meist) die Zweitsprache und in dieser Konstellation nicht die dominante Sprache. Zugleich ist sie Umgebungssprache.

Pflegebedürftigkeit

Unter Pflegebedürftigkeit versteht man allgemein, dass eine Person aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, ihren Alltag allein zu meistern (= Einschränkung in der Alltagskompetenz) und auf andauernde Hilfe von außen angewiesen ist. Dabei ist es nicht relevant, aus welchen Gründen dieser Umstand eintritt oder durch wen die Unterstützung im Alltag gewährleistet wird. Wichtig ist jedoch, dass erst dann von einer dauerhaften Pflegebedürftigkeit die Rede ist, wenn der Zustand über eine längere Zeit (i. d. R. mehr als 6 Monate) anhält, als nicht reversibel eingeschätzt und damit nicht als kurzfristig (durch eine akute Krankheit) anzusehen ist. Liegt eine solche akute Situation vor, spricht man meist von einer Kurzzeitpflege, die Person wird dabei jedoch nicht als pflegebedürftig (vor allem im Sinne der Krankenversicherung und des Status) eingestuft.

Häufig kommt es im höheren Alter zu einer solchen dauerhaften Unterstützungsbedürftigkeit, im Verlauf von altersbedingten Krankheiten (allen voran Demenz) tritt in den meisten Fällen eine Pflegebedürftigkeit ein. Die Pflegebedürftigkeit wird anhand von Pflegegraden (bzw. früher Pflegestufen) skaliert. Als Orientierung gilt dabei der Grad der eingeschränkten Alltagskompetenz. Die Pflegegrade sind dabei ausschlaggebend für die Höhe der Zuschüsse für die Versicherten/Pflegebedürftigen durch ihre Pflegekasse.

Zusätzlich lassen sich unterschiedliche Pflegeformen unterscheiden wie z. B. die familiale Pflege (dann häufig ohne Unterstützung von außen verstanden), die ambulante Pflege (zu Hause, in den meisten Fällen kombiniert mit familialer Pflege, aber mit Unterstützung von Pflegediensten in unterschiedlichem Umfang), die teilstationäre Pflege (z. B. Tagespflege in einer Einrichtung bzw. institutionelle Nachtpflege) oder auch die vollstationäre Pflege (Wohnen in einer Pflegeeinrichtung, z. T. auch für einen begrenzten Zeitraum oder aber dauerhaft). Diese Pflegeformen beziehen sich auf die typische Altenpflege, hinzu können noch weitere Pflegeformen im Fall von Krankheiten kommen (wie z. B. Klinik- oder Kuraufenthalte und auch die Palliativpflege).

Im Fall unseres Projektsettings bewegen wir uns ausschließlich im Bereich der vollstationären Pflege. Alle unsere pflegebedürftigen Personen leben in einer Pflegeeinrichtung, die auf das dauerhafte Wohnen ausgerichtet ist.

Wir sprechen in dem Moment von Pflegebedürftigen, wenn eine Person – aus welchen Gründen auch immer – für ein dauerhaftes Wohnen in die Pflegeeinrichtung gezogen ist. Da sich dahinter zwangsläufig die festgestellte und attestierte Pflegebedürftigkeit verbirgt, ist dies in unseren Augen ein hinreichendes Kriterium. Irrelevant ist dabei, aus welchen Gründen die Pflegebedürftigkeit hervorgerufen wurde, welchen Pflegegrad die Person hat und welches Alter sie aufweist. Daher subsumieren wir unter diesem Begriff sowohl junge Menschen, die z. B. durch Krankheit oder Unfall in die Pflegebedürftigkeit geraten sind und biografisch bedingt im Pflegeheim betreut werden als auch alte Menschen, die z. B. an Demenz erkrankt und infolgedessen pflegebedürftig geworden sind.

Demenz

Unter der Bezeichnung Demenz ist ein Sammelbegriff für eine Reihe an Erkrankungen zu verstehen, die den Verlust an höheren kortikalen Funktionen betreffen und damit im Verlauf zu einem Abbau praktisch aller im Laufe des Lebens erworbenen Fähigkeiten führen. Demenzen können als Begleiterscheinungen anderer Krankheiten, wie z. B. Demenz bei Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, bei HIV-Krankheit oder auch Parkinson-Syndrom (s. hierzu die Beschreibungen unter dem Kode F02* der ICD-10-WHO Version 2019, diese werden auch als sekundäre Demenzen bezeichnet), als Folge von mehreren im Einzelnen kleinen aber kumuliert auftretenden Hirninfarkten bei der vaskulären Demenz (vgl. Kode F01, hier handelt es sich entsprechend um gefäßbedingte Demenzformen, vgl. Luckabauer, 2011, S. 13) oder auch mit bislang noch immer ungeklärter Ursache als sog. primär degenerative Demenz auftreten. Unter letzterem subsumieren sich die Frontotemporale Demenz und die Alzheimer-Krankheit (Kode F00). Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die primär degenerativen Formen unklarer Ätiologie, da die hier im Fokus stehenden Personen an dieser Erkrankung, im Speziellen an Alzheimer-Demenz (AD), leiden. Es handelt sich um eine kortikale (also die Hirnrinde betreffende) Form von Demenz, die in ihrem Krankheitsverlauf nicht reversibel ist und aufgrund des immer noch fehlenden Wissens über die Ursache nicht therapierbar ist. Eine medikamentöse oder nicht medikamentöse Behandlung vermag lediglich die Symptome zu mildern bzw. zu verlangsamen, nicht jedoch die Ursache zu bekämpfen. Damit führt diese Krankheit zu einem unaufhaltsam fortschreitenden Verlust an kognitiven Funktionen, der letztlich zur vollkommenen Pflegebedürftigkeit und durch eine immer besser werdende medizinische Versorgung von auch Bettlägerigen zum Tod führt.

Die Abgrenzung von Alzheimer-Demenz und der Frontotemporalen Demenz ist diagnostisch nicht unproblematisch (vgl. dazu ausführlicher Luckabauer, 2011). Das Hauptproblem jeglicher Diagnosestellung im Fall der primär degenerativen Formen ist die unklare Ätiologie. Zwar werden bildgebende Verfahren zum Nachweis von typischen morphologischen Veränderungen in der Hirnstruktur (Rückgang des Hirngewebes, sichtbar in einer Erweiterung der Sulci sowie der Hirnventrikel und Rückgang der Gyri) und vermehrt auch Bluttests zum Nachweis von Alzheimer-typischen Eiweißablagerungen im Blut (hier sind die Plaques aus Beta-Amyloid und Fibrillen aus dem Tau-Protein zu nennen: Bluttests messen z. B. die Fehlfaltung des Amyloid-Beta-Proteins bzw. das Verhältnis verschiedener Varianten davon im Blut resp. weisen bereits geringste Spuren des Tau-Proteins nachFootnote 2) eingesetzt, diese sind aber als Folge der Erkrankung und nicht als deren Ursache anzusehen. Damit dienen sie zwar im Rahmen der Früherkennung einer Einschätzung eines Erkrankungsrisikos bzw. postmortal als Nachweis (vgl. Wendelstein, 2016, S. 39), können jedoch nicht als Grundlage für eine Diagnose im eigentlichen Sinne angesehen werden. Letztere erfolgt typischerweise durch den Ausschluss anderer Erkrankungen (inkl. z. T. täuschend ähnlicher Nebenwirkungen von Medikamenten) und eine umfangreiche Anamnese des Patienten. Im Rahmen der Diagnose stehen mehrere nicht invasive Testverfahren zur Verfügung, die u. a. die Orientierung in Zeit und Raum, die Merkfähigkeit und sprachliche Fähigkeiten abdecken. Diese dienen der Einschätzung kognitiver Beeinträchtigungen. Nach entsprechend erfolgtem Ausschluss anderer Erkrankungen und Nachweis kognitiver Beeinträchtigungen in mindestens alltagsbeeinträchtigendem Grad steht die Diagnose. Dabei wird vorrangig anhand der Ausprägung der sprachlichen Beeinträchtigung und des Sozialverhaltens zwischen Alzheimer-Demenz und den verschiedenen Formen der Frontotemporalen Demenz unterschieden (für eine Darstellung der unterschiedlichen sprachlichen Symptome bei den einzelnen Unterformen von Demenz empfehle ich den Artikel von Krupp & Thode, 2016). Bei der Frontotemporalen Demenz treten typische Störungen auf, die zu der klinischen Einteilung in frontotemporale Verlaufsform, semantische Demenz und Primär-progressive (oder auch progrediente nichtflüssige) Aphasie führen, wobei deren Abgrenzungen rein mithilfe von Unterschieden in Verhaltensauffälligkeiten und Kommunikationsfähigkeit sowie durch den im Verlauf symptomatischen Zusammenfall der Unterformen nicht selten Schwierigkeit bereiten (vgl. Wendelstein, 2016, S. 39). Die Frontotemporale Demenz weist eine niedrige Prävalenzrate auf (laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, 2017, Informationsblatt 11, S. 1 eine von 3–9 %) und unterscheidet sich von der Alzheimer-Demenz auch in dem Zeitpunkt der Erkrankung: Frontotemporale Demenzen treten grundsätzlich früher auf als die Alzheimer-Demenz, mit einer allerdings sehr großen Spanne (vgl. ebd.).

Unter allen Demenzformen entfallen die meisten Erkrankungen auf die Alzheimer-Demenz (meist wird eine Zahl von ca. 2/3 aller Demenzerkrankten angesetzt, vgl. Bickel 2012 oder Wendelstein, 2016, S. 38; die Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2017, Informationsblatt 11, S. 1 nennt eine Zahl von 70 %). Die Erforschung der Alzheimer-Demenz geht auf Alois Alzheimer zurück, der im Jahr 1907 erstmalig die Symptome einer Patientin (Auguste Deter) zu einem Krankheitsbild zusammenfasst und diesen die post mortem festgestellten neurophysiologischen Veränderungen im Gehirn (Bündel von Neurofibrillen, Plaques und abgestorbene Nervenzellen) zuordnet (vgl. u. a. Wendelstein, 2016, S. 39). Der Verlauf einer Alzheimer-Demenz ist nicht reversibel und wird klassischerweise je nach Schwere der Symptome (also symptomatisch) in unterschiedliche Phasen unterteilt. Dabei lassen sich zwei Einteilungen unterscheiden: Die eine, die die Krankheit in insgesamt 3 Phasen unterteilt, und die andere, die eine feinere Unterteilung mit insgesamt 7 Stadien ansetzt. In der Pflege und im allgemeinen Umgang mit Demenz ist die erste Einteilung bekannter (so ist sie auch im Handbuch Demenz von Kastner & Löbach, (2010) und in anderen einschlägigen pflegewissenschaftlichen Büchern nachzulesen), die zweite ist im medizinischen Bereich verbreitet und ermöglicht eine klinisch genauere Untergliederung und Einordnung der Symptome und des zu erwartenden (auch zeitlichen) Verlaufs.

Die Einteilung des Verlaufs nach 3 Phasen ist, wie erwähnt, v. a. in der pflegeorientierten Darstellung verbreitet. Z.T. wird sie durch ein Vorstadium ergänzt (vgl. z. B. Posenau, 2014), meist beginnt die Einteilung jedoch mit der leichten Demenz (oder auch Frühstadium), in der die ersten Symptome auftreten. Typischerweise wird gegen Mitte (bis spätestens Ende) dieser Phase die Diagnose gestellt wird. Die Symptome umfassen dabei so gut wie alle kognitiven Funktionen und rufen dort entsprechende Störungen hervor. Dies umfasst bspw. eine Einschränkung des Urteilsvermögens, der Orientierung in Zeit und Raum, der Aufmerksamkeit sowie vieler exekutiver Funktionen (vgl. hierfür und für die folgenden Ausführungen z. B. Kastner & Löbach, 2010, S. 11 und 24 ff.). Bereits zu einem der frühen Symptome gehören Sprachstörungen, die zunächst Wortfindungen betreffen. Diese sind verlangsamt, erschwert und immer häufiger falsch assoziiert oder blockiert. In der frühen Phase kommt es dabei vermehrt zu Ausweichstrategien vonseiten der Erkrankten, aufmerksamen Angehörigen fällt evtl. ein häufigerer Gebrauch von allgemeineren Begriffen (wie z. B. Oberbegriffe, vgl. Verwandte statt Familie, Anziehsachen statt Hose, Nennung des Grades der Verwandtschaft statt Nennung des Namens – die Beispiele sind Kastner & Löbach, 2010, S. 11 entnommen) oder Umschreibungen (wie „reich mir doch bitte das da drüben rüber“) auf. Insgesamt gelingt es den Erkrankten recht gut, ihre Schwierigkeiten (nicht bloß auf sprachlicher Ebene) zu kaschieren bzw. durch z. T. sehr kreative Strategien auszugleichen (vgl. ebd.). Der Übergang zur zweiten Phase – der mittelschweren Demenz – ist dadurch gekennzeichnet, dass eben dieses Überspielen immer öfter immer schwerer fällt und die bereits vorhandenen Lücken Anderen sichtbar werden. Hier gilt es zu betonen, dass die Einteilung in die einzelnen Phasen symptomatisch vorgenommen wird, d. h. bei Auftreten bestimmter Symptome in einer gewissen Häufigkeit und Ausprägungsgrad setzt man die nächste Phase an. Wo der an Demenz Erkrankte in der frühen Phase noch meist recht gut in der Lage ist, für sich zu sorgen und mit der Krankheit ein einigermaßen unbeeinträchtigtes Leben zu führen, ändert sich dies in der zweiten Phase, der mittleren Demenz. Die Einschränkungen betreffen nun Abläufe des normalen Alltags, führen zu Verwirrungen bspw. beim Ankleiden (die Unterhose wird über die Hose gezogen), bei der Körperpflege (diese wird häufig vergessen oder nur spärlich ausgeführt) oder auch zur immer stärker werdenden Desorientierung in Zeit und Raum. Die Sprache verändert sich zunehmend stärker, dies betrifft vor allem zugespitzte Wortfindungsschwierigkeiten, daneben treten z. T. kreative Wortneuschöpfungen auf, Wörter oder Silben werden vertauscht und es kommt zu Assoziationen auf lautlicher Ebene. Ein Beispiel für eine Wortneuschöpfung ist Feuerkäfer für ‚Streichholz‘, zu einem Silbendreher kommt es bei Kolmotive für ‚Lokomotive‘ (die Beispiele stammen aus Meyer, 2014, S. 105). Ein zweites Beispiel für eine Wortneuschöpfung aus unserem Projekt ist der Ausdruck Lichtflocken, den eine Frau im fortgeschrittenen Stadium der Demenz gebrauchte, als sie Staubkörner beobachtete, die vom Licht bestrahlt in der Luft schwebtenFootnote 3. –Zugleich sind die Aussprache und Intonation nicht betroffen (vgl. ebd.). In der Kommunikation fällt es den Betroffenen schwer, sich auf größere Gruppen zu konzentrieren, Einzelgespräche in entspannter Atmosphäre sind hingegen z. T. noch gut möglich. Insgesamt hängt die Schwere der Symptome von der jeweiligen Tagesform ab, weswegen durch Angehörige häufig von Wellen die Rede ist, die z. T. zu falschen Hoffnungen verleiten. Der Übergang von der mittelschweren hin zur schweren Demenz (der Endphase in dieser Klassifikation) ist dadurch geprägt, dass die Person nun gar nicht mehr in der Lage ist, für sich zu sorgen. Sie ist von der Pflege Anderer abhängig. Neben dem Fortschreiten aller Symptome geht auch hier die Sprache und die Kommunikationsfähigkeit immer mehr verloren. Zunächst verkürzen sich die Äußerungen der Personen immer mehr (von kürzeren Sätzen hin zu Zwei- oder Dreiwortsätzen), schließlich ist z. T. nur noch die Produktion einzelner Wörter möglich. Am Ende der Krankheit steht die vollständige Verstummung. Dieser dramatische Abbau der Sprache und der eigenen Kommunikationsfähigkeit geht dabei nicht zwangsläufig bzw. nicht in gleichem Maße mit einem Verlust des Sprachverständnisses und vor allem der emotionalen Ebene einher. Demenzerkrankte verstehen weitaus mehr, als sie noch produzieren können, ebenso funktionieren die emotionalen Antennen sehr gut. Gerade die nonverbale und eine insgesamt einfühlsame Kommunikation und Aufbau und Erhalt von Beziehungen ermöglichen es den Erkrankten, auch in der Endphase Kontakt aufnehmen und halten zu können (vgl. hierzu Wendelstein, 2016, S. 42).

Die zweite Klassifikation orientiert sich an dem sieben Stadienkonzept von Reisberg (1982), der die Global Deterioration Scale als Fremdbeurteilungsskala zur Erfassung von Beeinträchtigungen infolge von Demenz unter Berücksichtigung von kognitiven, funktionalen und Verhaltensaspekten der erkrankten Person entwickelte. Sie dient primär der genaueren Unterteilung der Krankheit zum Zweck der Erforschung und der medizinischen Begleitung und Entwicklung von Therapieansätzen.

Dort werden die ersten drei Stadien als Prä-Phasen vor der eigentlichen Diagnosestellung angesetzt. Diese können also logischerweise erst mit der Diagnosestellung rückwirkend benannt werden (was allerdings häufig zur retrospektiven Erklärung einiger Besonderheiten des Verhaltens der Betroffenen in den letzten Jahren führen kann). Es wird angenommen, dass diese drei Stadien insgesamt ca. 10 Jahre umfassen und sich in die folgenden einzelnen Stadien einteilen lassen (vgl. hierfür und für die folgenden Ausführungen auch Auer et al., 2008):

  • Stadium 1: symptomlos, gesunde Menschen;

  • Stadium 2: subjektive Symptome, subjektive Einschätzung der verminderten Leistungsfähigkeit, die einige zu einer ersten ärztlichen Vorstellung zwecks Leistungsdiagnostik treibt. Diese bleibt i. d. R. unauffällig, die Personen werden aufgefordert, nach ca. 12 Monaten wieder vorstellig zu werden;

  • Stadium 3: Mild Cognitive Impairment (= MCI): Beginn einer auch äußerlich erkennbaren Verminderung der Leistungsfähigkeit, erste milde Symptome (wie bspw. langsamere Orientierung in fremder Umgebung) treten auf. Retrospektiv wird hier der Beginn der Erkrankung angesetzt, es handelt sich jedoch (vor Diagnosestellung) noch nicht um Demenz, sondern um ein prädemenzielles Stadium, in dem das Risiko, eine Demenz in den kommenden Jahren zu entwickeln, als sehr hoch angesehen wird. Der Person wird geraten, nach sechs Monaten wieder vorstellig zu werden, ebenso werden Präventionsmaßnahmen zur Steigerung kognitiver Fähigkeiten empfohlen (wie z. B. Gedächtnistraining, vermehrte soziale Kontakte, Bewegung etc.). Diese Phase wird in der medizinischen Begleitung als immens wichtig angesehen, da hier die Hoffnung besteht, mit entsprechenden Maßnahmen diese Phase zeitlich zu dehnen und damit den weiteren Krankheitsverlauf nach hinten zu verschieben. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Krankheit – bei immer noch ungeklärter Ursache! – keine Therapie kennt und ihr Verlauf nicht aufzuhalten ist. Ab Beginn der demenziellen Veränderungen nimmt die Degeneration ihren Lauf, nur bei sehr früher Diagnostik können entsprechende Präventionsmaßnahmen eingesetzt und Strategien mit den Betroffenen eingeübt werden, die die Symptome evtl. verzögern bzw. in ihrer Härte abmildern. Aus diesem Grund ist gerade diese Phase, die in der Fachliteratur häufig als MCI bezeichnet wird, von immenser Bedeutung und erfährt auch in der Erforschung der Krankheit und Validierung von Therapieansätzen wohl am meisten Aufmerksamkeit. Zu betonen ist dabei auch noch einmal, dass Menschen, die die Diagnose MCI bekommen, noch nicht von Demenz betroffen sind, sondern als Hochrisikogruppe gelten, diese in den kommenden Monaten/Jahren zu entwickeln.

Nach diesen ersten drei Stadien folgt das vierte Stadium mit der Diagnosestellung der Alzheimer-Demenz. Diese befindet sich in dem sog. leichten oder auch frühen Stadium und ist im Allgemeinen mit der oben bereits geschilderten leichten Demenz gleichzusetzen. Aus medizinischer Sicht ist hier der Beginn bzw. im besten Fall die Fortführung therapeutischer Ansätze sinnvoll (hier ist jeweils die Rede von nicht medikamentöser Begleitung – ein Medikament als Gegenmittel zur Demenz ist bislang nicht entwickelt). So findet z. B. das sog. Realitätsorientierungstraining (ROT) Einsatz, das durch entsprechende Maßnahmen die Orientierung und dadurch die Sicherheit Erkrankter erhöht. Diese Ansätze sind jedoch nicht mehr im Sinne einer Therapie anzusehen, die die Symptome verzögern kann, sondern als symptommildernd, damit ein besserer und sicherer Umgang mit der Krankheit gefunden werden kann.

Die folgenden beiden Stadien sind die mäßige und die folgende mittelschwere Alzheimer-Demenz. Diese beiden sind mit der oben skizzierten mittleren Phase gleichzusetzen, differenzieren diese lediglich in zwei unterschiedliche Stadien. In ihnen nimmt die Krankheit nun unweigerlich und unaufhaltsam ihren Lauf, und es werden auch keine therapeutischen Ansätze mehr empfohlen. Vielmehr wird der Schwerpunkt auf geeignete Interaktionsstrategien verlagert: Angehörige und Pflegende werden im Umgang mit den Erkrankten geschult und können durch ihre angepasste Interaktion Situationen besser meistern.

Die letzte Phase ist hier die siebte, in der sich der Erkrankte in der sehr schweren/fortgeschrittenen Alzheimer-Demenz, dem Spätstadium befindet. Hier sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage zu sprechen, zu sitzen oder sich zu bewegen. Trotz des Verlustes all dieser Fähigkeiten formulieren Auer et al. (2008, S. 20), dass „Personen im 7. Stadium […] ähnliche emotionale Bedürfnisse [haben] wie Babys bzw. Kleinkinder (Geburt bis zirka 2 Jahre). Die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation nimmt zu.“ Weiter raten sie von einer Verwendung von „Babysprache“ (der linguistische Ausdruck hierfür ist „Secondary Baby Talk“, s. u.) ab, da sie meinen, dass man nicht davon ausgehen kann, dass der Verlust des Sprachverständnisses in gleichem Maße anzunehmen ist. Vielmehr raten sie zu einer respektvollen Ansprache und positiver Kommunikation (z. B. mit viel Lob). Die Betonung der emotionalen Ebene ist in diesem Stadium immens wichtig und letztlich das Einzige, was den Erkrankten bleibt.

Da im Kontext des Projektes UnVergessen viele der von uns begleiteten Pflegebedürftigen unter Demenz leiden, hat dieses Krankheitsbild mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen, Phasen, Symptomen und vor allem auch den sprachlichen Auswirkungen große Bedeutung. Leider ist es in der Praxis allerdings häufig der Fall, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen, speziell wenn sie einen mehrsprachigen Hintergrund aufweisen, nicht immer einer adäquaten und wiederholten Testung unterzogen werden und die Diagnose Demenz (bzw. Alzheimer-Demenz) sehr schnell gefällt wird. Hat eine Person einmal diese Diagnose bekommen, wird nur selten eine regelmäßige Kontrolle durchgeführt, noch viel weniger, wenn die Person bereits in einem Pflegeheim betreut wird. So stellt sich im Kontext unseres Projektes die besondere Schwierigkeit dar, dass wir viele Pflegebedürftige begleiten, die die Diagnose „Demenz“ haben, bei denen aber der aktuelle Schweregrad der Erkrankung (in welcher Klassifikation auch immer) nicht klar ist. Häufig sind auch die Unterformen der Demenz nicht klar kommuniziert, festgehalten bzw. unterliegen der Schweigepflicht, sodass uns die genaue Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung nicht objektiv ermittelt vorliegt. Aus diesem Grund verzichten wir im Folgenden auf eine medizinisch saubere Einteilung demenzieller Erkrankungen in ihre jeweiligen Unterformen und ebenso auf eine punktgenaue Nennung der einzelnen Krankheitsphasen. Vielmehr wird die Rede von demenziell Erkrankten/Menschen mit Demenz dann sein, wenn uns vonseiten des Pflegeheimes/der Angehörigen mitgeteilt wurde, dass eine Erkrankung vorliegt, die in diesen Bereich einzuordnen ist. Da wir diese Personen meist über mehrere Monate (in manchen Fällen sogar mehrere Jahre) begleiten, können wir durch die Veränderungen einschätzen, wie der Verlauf der Krankheit ist. Da wir kein medizinisch oder psychologisch geschultes Personal sind, konzentrieren wir uns auf die möglichst genaue Beschreibung der einzelnen Personen, ihren Fähigkeiten und verbliebenen (vorrangig sprachlichen) Möglichkeiten. In diesem Sinne möchten wir hier betonen, dass es uns im Folgenden nicht um die Benennung von Krankheitsbildern und das Aufzählen von daraus resultierenden Defiziten geht, sondern um reale Menschen, die eine vielschichtige Persönlichkeit haben und – z. T. auch mit weit vorangeschrittener demenzieller Erkrankung – viele Fähigkeiten haben, die sie im Austausch mit uns einsetzen und zeigen können. In diesem Sinne sprechen wir in den Fällen von demenziell Erkrankten oder wahlweise von Menschen mit Demenz, wenn die Betonung auf der Krankheit liegen soll und als Erklärung für bestimmte Auffälligkeiten dienen kann.

Pflegekommunikation und Morgenpflege

Die Interaktion zwischen Pflegebedürftigen und ihren Pflegekräften während der Pflege (mit Fokus auf professionellen Pflegekräften, nicht pflegenden Angehörigen) wird als Pflegekommunikation bezeichnet. Sachweh (2000, S. 69) definiert diese als „handlungsbegleitende Kommunikation zwischen Personal und BewohnerInnen, die während der Morgenpflege stattfindet und primär der (effektiven) Durchführung sowie der Erklärung der Pflegeaktivitäten dient“. Es handelt sich also nicht um private Gespräche, die sich zwischen den involvierten Partnern ebenso entfalten können, sondern um die sprachlichen Äußerungen, die die Pflege begleiten, erleichtern und z. T. auch erst ermöglichen. Sachweh (2000) benennt sie als zweckgebunden, Posenau (2014) ergänzt dies um eine starke Arbeitsorientierung, fixiert auf feste Themenbereiche. Dabei folgt die Kommunikation festen Mustern, die die Abläufe der jeweiligen Pflegesituation verbalisieren (erst Aufstehen, dann zum Badezimmer führen, dort auf die Toilette gehen etc., verbunden mit der jeweiligen Ankündigung, Bitte bzw. Aufforderung zu einer Handlung etc.). Sachweh (2000) konstatiert dabei, dass in dieser Kommunikation selten Fachtermini eingesetzt werden und in Abhängigkeit zum Grad der Pflegebedürftigkeit zunehmend weniger verschiedene Lexeme verwendet werden. Posenau (2014) bestätigt Unterschiede im Kommunikationsverhalten vonseiten der Pflegekraft in Bezug zum Schweregrad der Demenz des Pflegebedürftigen.

Die spezielle Kommunikationssituation während der Pflege unterscheidet sich z. T. recht stark von den Rahmenbedingungen anderer Interaktionen – wie z. B. private Gespräche zwischen Freunden oder auch im beruflichen Kontext. Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Besonderheiten dargelegt werden, die sich auf die Pflegekommunikation im institutionellen Kontext, das Pflegeheim, konzentrieren. Die folgenden Darstellungen basieren auf den Ausführungen von Sachweh (u. a. 2000, 2003) und Posenau (2014, S. 29 f.), die die Rahmenbedingungen dieser speziellen Kommunikationssituation detailliert und mit einem besonderen Fokus auf Asymmetrien zwischen den Kommunikationspartnern beschreiben. Diese Asymmetrien beziehen sich auf:

  • das Lebensalter (der Pflegebedürftige ist meist deutlich älter als die Pflegekraft);

  • die physische Ebene (der Pflegebedürftige hat irgendeine Erkrankung, die Pflegekraft ist i. d. R. gesund);

  • die psychische Ebene (der Pflegebedürftige hat eine geringere Lebenserwartung sowie häufig Einschränkungen in den kognitiven Funktionen, die Pflegekraft nicht);

  • die Sachebene (Pflegekräfte verfügen über Sachwissen im Kontext der Pflege, des Umgangs mit Krankheiten etc., das die Pflegebedürftigen häufig nicht haben);

  • die institutionelle Ebene (die Pflegekraft hat in der Institution einen besonderen Status, der es ihr erlaubt, bestimmte Handlungen durchzuführen);

  • die Mobilität (die Pflegekräfte sind mobil und verlassen das Pflegeheim, in dem sie nur arbeiten, die Pflegebedürftigen sind oft nicht mehr mobil und sind dauerhaft im Pflegeheim);

  • die Bezugsgruppen (Pflegebedürftige kommunizieren vorwiegend im Pflegeheim, mit anderen Bewohner/innen, Pflegekräften oder Besuch von außen, Pflegekräfte kommunizieren auch außerhalb des Pflegeheimes und weisen einen größeren Kreis an Bezugsgruppen auf);

  • die Abhängigkeiten (Pflegebedürftige sind von den Pflegekräften abhängig).

Grundsätzlich gilt festzuhalten, dass die Forschung auf diesem Gebiet (noch) nicht sehr umfangreich ist. Die vorliegenden Studien konzentrieren sich häufig auf die linguistische Untersuchung der Pflegekommunikation während der Morgenpflege. Diese folgt einem sehr festen Muster, muss jeden Morgen stattfinden und eignet sich daher sehr gut zur vergleichenden Analyse. Auch im Kontext unseres Projektes wurden Aufnahmen der Morgenpflege durchgeführt und analysiert. Die Morgenpflege umfasst dabei (nach Posenau, 2014, S. 36 bzw. Sachweh, 2000, S. 69 f.) die primären Tätigkeiten wie die Hilfe beim Aufstehen, das Waschen und Ankleiden – also den gesamten Vorgang vom Aufstehen bis hin zum Fertigmachen für das Frühstück. Es kann dabei, je nach Erkrankung, zu sekundären Tätigkeiten kommen, die z. B. die Gabe von Medikamenten oder auch Blutdruckmessen umfasst. Das parallel zu diesen Tätigkeiten stattfindende Gespräch verläuft dabei typischerweise nach dem folgenden aus Posenau (2014, S. 35) zitierten Muster:

  1. 1.

    Einleitender Gruß

  2. 2.

    Frage nach dem Befinden

  3. 3.

    Ankündigung der Morgenpflege

  4. 4.

    Für die einzelnen Schritte/Phasen der Pflege:

    1. a)

      verbale Einleitung durch Handlungserklärungen

    2. b)

      praktische Durchführung (oft schweigend)

    3. c)

      verbaler Abschluss durch Gliederungssignale

  5. 5.

    Ankündigung des Abschlusses der Morgenpflege

  6. 6.

    Abschiedsgruß

Es müssen (und werden laut Posenau) nicht alle diese Schritte verbalisiert werden, z. T. werden sie modifiziert, gedehnt oder ausgelassen, eine relative Vergleichbarkeit entsprechender Aufnahmen während der Morgenpflege ist wegen der starken Zielführung jedoch gewährleistet.

(Secondary) Baby Talk/Motherese/Kindgerichtete Sprache

Dieser Abschnitt stützt sich auf die Ausführungen von Szagun (2013, S. 227–259) und auf Posenau (2014).

Unter Baby Talk, Motherese oder auch Kindgerichteter Sprache (KGS) versteht man eine Sprache, die an kleine Kinder gerichtet ist und dabei bestimmte Charakteristika aufweist, die sie von der Sprache in der Kommunikation mit Anderen, z. B. Erwachsenen unterscheidet. Da diese besondere Art der Sprachausprägung erstmals in der Kommunikation zwischen Müttern und kleinen Kindern beobachtet wurde, bekam sie die oben aufgeführten Namen. Folgestudien beleuchteten aber, dass diese Strategie keineswegs auf Mütter beschränkt ist (und in der Folge auch nicht auf kleine Kinder), weswegen als Kriterium definiert wurde, dass Personen diese Sprache benutzen, wenn sie sich „an kleine Kinder richten“ (Szagun, 2013, S. 229). Die von Szagun (ebd.) aufgezählten Charakteristika dieser Sprache sind auf drei Ebenen anzusetzen:

Auf der Ebene

  1. 1.

    der Prosodie: Hier ist eine langsamere Sprechgeschwindigkeit, ein Sprechen in höherer Tonlage sowie eine größere Varianz des Frequenzbereiches zu beobachten;

  2. 2.

    der Inhalte: Besonders relevant sind hier inhaltliche Wiederholungen, ein geringerer Abstraktionsgrad der verwendeten Wörter (v. a. Substantive) und ein klarer Bezug zur Gegenwart;

  3. 3.

    der grammatischen Form: Die Äußerungen sind grundsätzlich kürzer, die Sätze einfacher, durch Wiederholungen von z. T. ganzen Sätzen geprägt. Daneben tauchen viele Fragen und Aufforderungen auf.

Diese Merkmale sind dabei nicht zwangsläufig in jeder Interaktion mit (kleinen) Kindern zu beobachten. Sie sind situationsabhängig und variieren auch in Abhängigkeit der Kultur. Ebenso ist das Alter des Kindes ausschlaggebend bei dem Grad der Ausprägung (je jünger, desto stärker). Z.T. geschieht dies unbewusst und dabei über Geschlechter hinweg. Wie Szagun ebenfalls betont (vgl. ebd., S. 238), ist es nicht notwendig, diese Sprache mit Kindern zu sprechen. Auch ohne diese erwerben Kinder die jeweilige Sprache.

Wichtig ist zu betonen, dass es sich bei dieser Strategie nicht um eine klar abgegrenzte Varietät handelt, sondern sie sehr fein an die jeweiligen Fähigkeiten des Kindes angepasst wird. Hinter ihr steckt der (intuitive) Wunsch des Gesprächspartners, sich so auszudrücken, dass das Gegenüber ihn bestmöglich versteht. Dahinter steht als wichtiger Schritt eine vorherige Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten des Kommunikationspartners. An diesen orientiert bemüht er sich, die Komplexität seiner Sprache danach auszurichten. Damit könnte man also meinen, dass eine unterschiedliche Komplexität der Sprache eines Sprechers in gewisser Weise Auskunft über die jeweils von ihm eingeschätzten kognitiven Fähigkeiten seines Hörers liefert. Diese Aussage ist sicher nicht zu verallgemeinern, da letztlich der Grad der Ausprägung sprachlicher Charakteristika von sehr vielen Faktoren abhängt, dennoch ist diese vermeintliche Implikation in der Bewertung von Baby Talk/Kindgerichteter Sprache sehr wichtig. Diese ist nämlich ihrerseits sehr kontrovers: Während einige ihren Mehrwert sehen und meinen, dass sie ihre Berechtigung hat und hilfreich für Kinder sein kann, meinen andere, dass sie vielmehr hinderlich ist und die Kinder ständig unterfordere und ihnen signalisiere, dass sie kognitiv nicht weit entwickelt seien. Dazwischen platzieren sich gemäßigtere Meinungen, die hier jedoch nicht in der entsprechenden Tiefe wiedergegeben werden sollen. Vielmehr ist für unseren Zusammenhang wichtig zu wissen, dass es zu solch einer Sprache kommen kann, sie einige typische Charakteristika aufweist und dabei von außen durchaus kontrovers beurteilt wird. Der nächste sehr wichtige Punkt ist, dass diese Sprachausprägung dabei, wie bereits viele Studien zeigen, keineswegs nur auf die Interaktion mit kleinen Kindern beschränkt ist. Sie tritt, wie auch Szagun (ebd.) herausarbeitet, in Gesprächen mit Personen auf, „von denen man annimmt, dass sie weniger gut verstehen, und sogar mit Haustieren.“ In der Mehrsprachigkeitsforschung (vgl. hierzu z. B. Riehl, 2014) ist dieses Phänomen ebenfalls beschrieben und hat dort den Namen Foreigner Talk: In der Kommunikation mit Menschen, die die jeweilige Sprache nicht (oder vermeintlich! nicht) gut sprechen, treten vermehrt eben jene oben beschriebenen sprachlichen Merkmale auf. Der gleiche Mechanismus wird in der Kommunikation mit Kranken und Alten beschrieben und wird dort meist als Secondary Baby Talk bezeichnet. Auch hier decken sich die sprachlichen Merkmale mit vielen der oben beschriebenen. Wichtiges gemeinsames Merkmal all dieser Interaktionskonstellationen ist das oben bereits genannte, dass der Sprecher von der entweder bewussten oder intuitiven Annahme ausgeht, dass der Hörer über geringere kognitive Fähigkeiten verfügt und seine Sprache an diese anpasst.

Sachweh (2000) und Posenau (2014) gehen jeweils ausführlicher auf die Charakteristika und den Einsatz von Secondary Baby Talk in der Pflegekommunikation ein. Dieser tritt vorrangig in der Kommunikation mit an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und in der Morgenpflege auf, variiert dabei jedoch sprecher-, situations- und adressatenabhängig. Die sprachlichen Merkmale unterscheiden sich leicht von den o.g. der Kindgerichteten Sprache (z. B. treten längere Pausen und die Verwendung von Füllwörtern auf), grundsätzlich ist sie jedoch mit ihr zu vergleichen. In der Auseinandersetzung mit dieser Gesprächsstrategie variieren auch hier die Meinungen in ähnlicher Weise. So betont Posenau (ebd., S. 52) die wichtige kommunikative Funktion, die in der Verständnissicherung liegt. Zudem kann sie emotionale Komponenten zur Interaktion beisteuern und eine Vertrautheit zwischen den Gesprächspartnern herstellen. Gleichzeitig birgt – und dies bezieht sich auf jeden Adressatenkreis – diese simplifizierte Form von Sprache immer die Gefahr, das Gegenüber abzuwerten. Entsprechend kann es sein, dass die Reaktionen, auf eine solche Art zu sprechen sehr negativ sind und – gerade auch im Fall von an Demenz Erkrankten – zu Abwehrhaltungen führen kann. Die Auswirkungen sind dabei nicht zu pauschalisieren und hängen neben dem Schweregrad der Erkrankung von individuellen Faktoren des Pflegebedürftigen ab. Wichtig ist entsprechend, diese Strategie in der Pflegekommunikation wohlüberlegt und individuell angepasst einzusetzen. Der einen Person kann sie helfen, sich emotional wohlzufühlen und damit gerade auch intimen Pflegesituationen den Stress zu nehmen, bei anderen werden negative Gefühle und Verletzungen hervorgerufen. Dies ist v. a. dann der Fall, wenn die Pflegekraft die kognitiven Fähigkeiten des Pflegebedürftigen als weitaus niedriger einschätzt, als sie in Wirklichkeit vielleicht noch sind und die entsprechende Ausprägung von Secondary Baby Talk dies widerspiegelt.Footnote 4