Zusammenfassung
In diesem Artikel wird die Begegnung des Islam und des Christentums in der europäischen Geschichte in Bezug auf das transkulturelle Gedächtnis diskutiert. Zunächst erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses in einer transkulturellen und transnationalen Epoche, mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen des Islam in Europa und der Konstruktion des Islam als des „Anderen“ in unterschiedlichen Ansätzen. Hierzu wird die These vertreten, dass das Gedächtnis als eine Hintergrundfolie sowohl für exkludierende als auch für inkludierende Ansätze in den heutigen europäischen Gesellschaften fungiert, um die jeweiligen Positionierungen zu schwächen bzw.
Ich bedanke mich herzlich für die ausführlichen Diskussionen und Unterstützung meiner Freundin Gülay Beceren.
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Notes
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Ausschlaggebend für das Verfassen des Artikels war die im Wintersemester 2018 stattgefundene Ringvorlesung „Europäische Kulturgeschichte“ am Institut für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien. In dieser interdisziplinären Ringvorlesung, an der ich als Mitorganisatorin wirkte, thematisierten die Referate den Islam in der europäischen Geistesgeschichte. Mich faszinierten als Soziologin die aktuellen Bezüge der Vorträge, die in vielen öffentlichen Diskussionen über den Islam in der Migrationsgesellschaft zu finden waren. Das veranschaulichte für mich wiederum die Funktionsweise und die wesentliche Rolle der sozialen Gedächtnisse in gesellschaftlichen Belangen.
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Obwohl Erll hier „cultural memory“ schreibt, sollte darauf hingewiesen werden, dass Jan Assmann und Aleida Assmann das kulturelle Gedächtnis im deutschsprachigen Raum spezifisch definieren. Assmann erweitert den von Halbwachs geprägten Begriff, indem er kollektives Gedächtnis als Oberbegriff wählt und eine begriffliche Trennung zwischen zwei Gedächtnisrahmen kollektiver Erinnerung vornimmt, die er als kommunikatives Gedächtnis und als kulturelles Gedächtnis bezeichnet (Assmann, 2007).
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Die Arbeit von Pierre Nora wurde von Hue-Tam Ho Tai (2001) in dieser Richtung kritisiert. Noras Arbeit blendet beispielsweise die Kolonialgeschichte von Frankreich aus und dadurch auch deren Teilnahme am bzw. Zugang zum kollektiven Gedächtnis von Frankreich.
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Siehe Glick Schillers und Wimmers alternative und methodologische Herangehensweise, um diesen methodologischen Nationalismus zu überwinden (Glick Schiller & Wimmer, 2002).
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Wie schon bei der theoretischen Auseinandersetzung angemerkt wurde, spielten die Interessen und die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge bei der Konstruktion des Gedächtnisses sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene eine wesentliche Rolle.
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Viele Beiträge in diesem Sammelband beschäftigen sich in diversen Zusammenhängen mit den Narrativen über den Islam im Christentum. Mein Ziel ist hier nicht, eine historische Abbildung dieser Narrative darzulegen oder deren Inhalte zu prüfen, sondern deren Wirkungen auf die gegenwärtigen Gedächtnisse aufzuspüren.
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Das umstrittene Buch des ehemaligen SPD-Mitglieds und Leiters der Deutsche Bahn AG Thilo Sarrazin Deutschland löst sich ab, das ein Bestseller und Deutschlands meist verkauftes Buch wurde, löste eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit aus, die als „Sarrazindebatte“ bekannt wurde. Von der Politik bis in die Wissenschaft wurden die Thesen von Sarrazin diskutiert und kritisiert. Das Buch Rassismus in der Leistungsgesellschaft, herausgegeben von Sebastian Friedrich, geht der wichtigen Frage nach, warum das Buch eine so große Aufmerksamkeit genießt, obwohl andere ähnliche Publikationen vor Sarrazin nicht so ein Interesse bekamen. Mit unterschiedlichen Beiträgen wird analysiert, welche diskursiven gesellschaftlichen Bedingungen die „Sarrazindebatte“ ermöglichten (Friedrich, 2011, S. 8).
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In meiner empirischen Forschung über die Konstruktion des Gedächtnisses unter muslimischen Jugendlichen in Österreich wurde in einer Gruppendiskussion, die ich mit Schüler*innen der sechsten Oberstufe führte, von einer Situation erzählt, in der ein Lehrer den Propheten als Kinderschänder bezeichnete. In einer anderen Gruppendiskussion mit Student*innen berichteten diese, wie sie sich bei den Ereignis von Charlie Hebdo mit Fragen wie z. B., ob der Islam gewalttätig sei, und mit Anmerkungen auseinandersetzten, die den Islam als Gewalt-Religion und die Muslim*innen als Barbaren bezeichneten.
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Lueg (1994) macht in ihrer Abhandlung auf die Begriffspaare Westen versus Islam oder Europa versus Islam aufmerksam und betont, dass einem geographischen Begriff wie Europa bzw. Westen die Religion „Islam“ gegenübergestellt wird.
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Das Interview wurde während der Studie von Roza Tsagarousianou durgeführt.
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Die Muslime, die ihr Leben in Europa aufbauen, sich bewusst oder unbewusst mit den hartnäckigen Narrativen auseinandersetzen, die sie aus dem „social imaginary of Europe“ (ebd., S. 129) verbannen, versuchen Wege zu finden, um sich in diesem Imaginären (wieder) zu etablieren. Einer davon ist beispielsweise das Reisen in Gebiete, wo der Islam architektonische Spuren hinterlassen hat.
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Akkılıç, E.E. (2024). Die Konstruktion des Islams im europäischen Gedächtnis: Transkulturelles Gedächtnis als Raum der Begegnung. In: Erşan Akkılıç, E., Ratkowitsch, C. (eds) Christentum und Islam in der Geschichte. Wiener Beiträge zur Islamforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33137-5_12
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