Zusammenfassung
Ausgehend von einem 1785 gemalten Familienbild Anton Graffs, das als ein Programmbild der Aufklärung und als eine utopische Skizze gelingenden Lernens interpretiert wird, versucht der Essay, die Wirkung der Professionalisierungs- und Institutionalisierungstendenzen in der Geschichte von Bildung und Erziehung im bürgerlichen Zeitalter in den Blick zu nehmen. Am Beispiel des 1993 erschienenen, autobiographischen Buches des Pädagogen und Schriftstellers Hans Reutimann wird gezeigt, in welcher Weise die Abstraktions- und Systematisierungszwänge schulischen Lernens zur ‚Entfärbung der Welt‘ (vgl. Reutimann, Bericht von der unteren Wiese oder die Äpfel der Kindheit, Verlag Peter Meili, 1993, S. 61, sowie S. 51 ff.) und zur Erfahrung von Entfremdung führen. Am Ende steht die Frage, wie auch in der aktuellen gesellschaftlichen Situation am Projekt Aufklärung illusionslos festgehalten werden kann – mit dem Ziel, den „Einzelnen zum Einzelnen und dessen Eigensinn zu bilden“ (Muschg, Neue Zürcher Zeitung, 2013).
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Notes
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Wie auch – um nur zwei Beispiele zu nennen – in Raffaels Madonnenbildnis in der Sixtinischen Kapelle oder in Jan Vermeers «Die Malkunst».
- 2.
Wolfgang Riedel hat diese Absicht als anthropologische Achsendrehung’ bezeichnet (vgl. Riedel, 1994).
- 3.
Zur Unterscheidung der Bildebenen vgl. Erwin Panofsky (1975, S. 36–67).
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Obwohl in Diskussionen zu Kunst und Kultur durchaus üblich, ist „Programmbild“ kein Begriff, dessen Genese, Reichweite und Geltung präzise umrissen wären. In diesem Beitrag wird er als ein Begriff mittlerer Signifikanz verwendet, als einer, der im Blick auf das zur Rede stehende Beispiel aus der Malerei mit guten Gründen eine aufklärerische Bedeutung signalisiert, jedenfalls in den Augen der Verfasserin.
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Wer sich anschauliche Beispiele für diese Art eines „intimen, nicht proklamatorischen pädagogischen Optimismus“ wünscht, dem sei François Truffauts Film „Der Wolfsjunge“ empfohlen, vor allem jene Passage, in der das dialogische Verhältnis von Schüler und Lehrer durch die Musik Scarlattis beflügelt wird.
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Es bestand die Absicht, mit dieser von Sulzer unterstützten Initiative eine vollständige Universität mit allen vier Fakultäten zu errichten. Dieser Plan wurde aufgrund der Abhängigkeit Kurlands von der katholisch-polnischen Oberherrschaft verworfen. Nach dem in Polen geltenden Recht durfte eine Universität ohne Einwilligung und Bestätigung des Papstes nicht gestiftet werden, und ob und wann die Genehmigung der päpstlichen Kurie zu der Errichtung einer protestantischen theologischen Fakultät zu erlangen gewesen wäre, war unklar. Daher wurde diese Absicht aufgegeben und beschlossen, ein akademisches Gymnasium zu stiften, das – halb Schule, halb Universität – alle Rechte einer Hochschule genießen sollte, mit Ausnahme des Vorrechts, akademische Würden zu erteilen.
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Hans Reutimann wohnte bis zu seinem Tod 2017 im Alter von vierundneunzig Jahren in Meilen bei Zürich. Er war vierzehn Jahre lang Lehrer (1945–1959 im Kanton Zürich und an den Schweizer Schulen in Lima und Bangalore).
- 8.
Eine Fülle von Beispielen hierfür findet sich in Reutimann (1993 S. 51 ff.).
- 9.
Abb. mit freundlicher Genehmigung des Heimatkundlichen Archivs Kleinandelfingen.
- 10.
Abb. mit freundlicher Genehmigung des Heimatkundlichen Archivs Kleinandelfingen.
- 11.
Zum Verständnis dessen, was Auftrag im emphatischen Sinne meinen kann, vgl. Walter Benjamins Text «Über den Begriff der Geschichte».
Literatur
Benjamin, W. (1974). Über den Begriff der Geschichte. In R. Tiedemann & H. Schweppenhäuser (Hrsg.), Walter Benjamin Gesammelte Schriften 1.2. Suhrkamp.
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Muschg, A. (2013). Dank an einen Unscheinbaren. Neue Zürcher Zeitung, 15.03.2013.
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Reutimann, H. (1993). Bericht von der unteren Wiese oder die Äpfel der Kindheit. Verlag Peter Meili.
Ricken, N. (2007). Über die Verachtung der Pädagogik. Eine Einführung. In N. Ricken (Hrsg.), Über die Verachtung der Pädagogik. Analysen – Materialien – Perspektiven (S. 15–40). Verlag für Sozialwissenschaften.
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Sulzer, J. G. (1787). Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Dritter Theil. Weidmann.
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Moser, P. (2022). Pädagogischer Optimismus und Enttäuschungserfahrung. Von einem Schweizer Programmbild von 1785 zur ‚Entfärbung der Welt‘ in einem Roman des 20. Jahrhunderts. In: Matthes, D., Pallesen, H. (eds) Bilder von Lehrer*innenberuf und Schule. Studien zur Schul- und Bildungsforschung, vol 79. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32564-0_10
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