Zusammenfassung
Der gerontagogische – rehabilitative – Ansatz bei Sinnesbehinderung im Alter ist aussichtsreich: Selbstständigkeit und Allgemeinzustand können verbessert werden. Gerontagogische Pflege und Betreuung berücksichtigen die Sinnesbehinderung bei älteren Menschen als Behinderung und nicht als Krankheit. Ihr Potenzial entfalten sie, wenn auch das Umfeld (Milieu) sinnesbehindertenfreundlich (das heißt auch sozial barrierefrei) gestaltet und in die Pflege und Betreuung einbezogen wird. Der Beitrag stellt die wichtigsten Ansätze der Gerontagogik vor. Es werden Ergebnisse aus konkreten Umsetzungsprojekten referiert, die sich in diesen Projekten zeigenden Herausforderungen für die Praxis der Langzeitpflege benannt und Vorschläge für die Umsetzung formuliert.
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Notes
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Im Rahmen der OVIS-Studie (Ophthalmologische Versorgung in Seniorenheimen) wurden 2014 bis 2016 in 32 Einrichtungen in Deutschland bei insgesamt 600 Bewohnerinnen und Bewohnern der augenmedizinische Status und der Behandlungsbedarf erhoben sowie die augenärztliche Versorgung untersucht.
- 2.
Spitex steht in der Schweiz für spitalexterne Hilfe und Pflege zu Hause (www.spitex.ch). Sie umfasst üblicherweise ambulante Pflege sowie Betreuungsangebote im Bereich Hauswirtschaft. Es gibt öffentliche Nonprofit-Spitex-Organisationen sowie private und/oder gewinnorientierte Spitex-Organisationen.
- 3.
Das sozial- und psychotherapeutische Konzept der Milieutherapie geht auf Bettelheim (1971, 1975), Winnicott (1974) und Staack (2004) zurück. Der Milieuansatz sieht vor, ein wohlwollendes, barrierefreies Umfeld mit einer Gruppe zu gestalten, das es den Beteiligten ermöglicht, neue Strategien und Lebensentwürfe auszuprobieren und so Selbstwirksamkeit zu erleben, positive Erfahrungen zu machen und zu lernen.
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Der gerontagogische Ansatz von KSiA integriert Kenntnisse und Methoden zu Seh- und Hörbeeinträchtigungen (Sinnesbehinderungen) in die Langzeitpflege und -betreuung. Die Ausführungen in diesem Beitrag fokussieren auf das Sehen.
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Das Projekt ALESI bezweckt die Schaffung sehbehindertenfreundlicher Alterseinrichtungen (Alters- und/oder Pflegeheime) zur Verbesserung der Selbstständigkeit von Bewohnerinnen und Bewohnern mit Sehbehinderung, zur Stabilisierung ihrer physischen, psychischen und psychosozialen Situation sowie zur Verbesserung ihrer sozialen Teilhabe. Es umfasst die Schulung von Leitungspersonen sowie Mitarbeitenden, die Untersuchung der mittel- und langfristigen Wirkung sowie die Kommunikation über die Ergebnisse. Absicht ist die Standardisierung sehbehinderungsspezifischer Pflege und Betreuung im stationären Feld.
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Das Projekt Spitex-SiA bezweckt die Einführung der sehbehinderungsspezifischen Pflege und Betreuung (Haushilfe) im Angebot der Spitex zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der Selbständigkeit (und damit auch die Vermeidung von unnötigen Eintritten in stationäre Einrichtungen), die Steigerung der Lebensqualität sowie die Unterstützung der sozialen Teilhabe von Klientinnen und Klienten mit Sehbehinderung. Es umfasst die Schulung von Mitarbeitenden, die Untersuchung der mittel- und langfristigen Wirkung sowie die Kommunikation über die Ergebnisse. Absicht ist die Standardisierung sehbehinderungsspezifischer Pflege und Betreuung im ambulanten Feld.
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Als Frailty wird ein geriatrisches Syndrom bezeichnet, das sich ergibt aus physiologischen Abbauvorgängen, die sich kumulieren, was zu einer allgemeinen Reduktion von Widerstandsfähigkeit und Reserven sowie einer Steigerung der Anfälligkeit (Vulnerabilität) führt.
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Ausführungen zu diesen Phänomenen vgl. Heussler et al. 2016, S. 17 f.
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ADL/ATL: grundlegende Aktivitäten wie sich waschen, sich bewegen, essen, trinken, kommunizieren usw.
IADL/IATL: instrumentelle Aktivitäten wie telefonieren, einkaufen, kochen, Haushaltsführung, Wäsche waschen, Verkehrsmittel benutzen oder Geldgeschäfte erledigen.
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In Ergänzung zu den auf Eigenverantwortung und Kostenbewusstsein ausgerichteten Konzepten zur Steigerung der Gesundheitskompetenz vgl. das weiter gefasste Konzept von Gesundheit im Ansatz von Healthy Ageing der WHO: „Healthy Ageing as the process of developing and maintaining the functional ability that enables well-being in older age“ (WHO 2015). In diesem sind behinderungspolitische Anliegen und soziale Teilhabe enthalten. Konkretisiert wird dieser Ansatz beispielsweise in WHO 2017, und SAGW 2016.
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Vgl. Tab. 1: 42 % der in stationären Einrichtungen lebenden Personen sind sehbehindert, aber nur 23 % der mit Spitex-Leistungen zu Hause lebenden Personen. Früherkennung und rehabilitative Maßnahmen (sehbehinderungsspezifisches rehabilitatives Training) dürften den Eintritt in eine stationäre Einrichtung verzögern oder vermeiden helfen.
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Historisch gesehen ist das System Langzeitversorgung aus der medizinischen (geriatrischen) Praxis herausgewachsen. Eine im Alter eintretende Behinderung erfordert für die Gesundheitsversorgung eine Zusammenführung von Methoden der traditionellen Langzeitversorgung mit solchen aus anderen Disziplinen. Hier treffen sich die Anforderungen aus im Alter neu auftretenden Sinnesbehinderungen mit der Entwicklung neuer Konzepte der Gesundheitsversorgung: „Man könnte gewissermaßen sagen, dass die WHO gerade das Zeitalter der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Gesundheitsforschung eingeläutet hat“ (Martin et al. 2016, S. 41).
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Beispiele für rehabilitative sehbehinderungsspezifische Pflegetrainings vgl. Heussler et al. 2016, S. 119.
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Heussler, F., Seibl, M. (2021). Gerontagogische Pflege bei älteren Menschen mit Sehbeeinträchtigung. In: Lauber-Pohle, S., Seifert, A. (eds) Sehbeeinträchtigung im Alter. Blinden- und Sehbehindertenpädagogik im Kontext Lebenslangen Lernens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32302-8_11
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