Zusammenfassung
Jeweilige Dekaden bringen immer wieder (sozial-)wissenschaftliche Begriffe hervor, die ein Eigenleben entwickeln. Diese sind bald in aller Munde und verlassen damit den eigentlichen Kontext der Wissenschaft, um in Feuilletons oder gehobenen Gesprächsrunden des Fernsehens aufzutauchen. Umgekehrt ist die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung nie unabhängig von den sozialen und ideologischen Konstellationen, in denen sie geschieht – auch Wissenschaft ist soziale Praxis. Und so entfalten oft alltagsweltliche, (sub)kulturelle oder tagespolitische Begriffe wissenschaftliche Wirkung im engeren Sinne, nämlich indem sie zu Kategorien der sozialwissenschaftlichen Theorie werden.
„Wenn der Begriff der ‚Postmoderne‘ in der Gesellschaftstheorie, besonders in der feministischen, irgendeine Kraft oder Bedeutung hat, so ist diese am ehesten in der kritischen Anwendung zu finden, die versucht zu zeigen, wie die Theorie (…) stets in die Macht verwickelt ist.“ (Butler, 1993a, S. 35).
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Notes
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Es gibt selbstverständlich Überblickswerke zur Debatte um die Postmoderne. Hilfreich, weil breit angelegt, mit einer glänzenden Einführung und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen, ist Welsch (1988). Einen Überblick zur feministischen Auseinandersetzung mit der Postmoderne im deutschsprachigen Kontext bietet Schlichter et al. (1998). Zur US-Amerikanischen feministischen Debatte um die Postmoderne siehe Benhabib (1993a).
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So auch Welsch: „Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze aufhört. (…) Vor allem nützt sie das Ende des Einen und Ganzen positiv, indem sie die zutage tretende Vielfalt in ihrer Legitimität und Eigenart zu sichern und zu entfalten sucht. Hier hat sie ihren Kern. Aus dem Bewusstsein des unhintergehbaren Wertes der verschiedenen Konzeptionen und Entwürfe (und nicht etwa aus Oberflächlichkeit und Indifferenz) ist sie radikal pluralistisch. Ihre Vision ist eine Vision der Pluralität“ (Welsch, 1991, S. 39; Hervorh. i. O.).
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Und wo der sog. ‚Kommunitarismus’ z. B. von A. Etzioni als (allerdings politisch konservative) postmoderne Strömung eingeschätzt wird (vgl. Zima, 2001, S. 87–92).
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- 5.
Vgl. hierzu auch Knapp in diesem Band.
- 6.
Am sozialwissenschaftlichen bzw. gesellschaftstheoretischen Defizit vor allem feministischer Perspektiven stoßen sich auch Nicholson und Seidman (z. B. 1995, S. 8) und nehmen ihr kritisches Unbehagen an den Verkürzungen postmodernen Denkens zum Anlass für ihren Sammelband. Dies wird ausführlich in ihrer Einleitung zum Buch thematisiert (ebd., S. 1–38).
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Zum Begriff des Diskurses und seinen Implikationen vgl. weiter unten Abschn. 3.
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Intelligibilität bedeutet wörtlich ‚Lesbarkeit‘ und meint hier (soziale) Sinnhaftigkeit.
- 9.
Es gibt viele „Spielarten des Konstruktivismus“ (Knorr-Cetina, 1989); im Rahmen der Gender Studies sind insbesondere ethnomethodologische, wissenssoziologische, phänomenologische und (wissenschafts-)historische Zugänge von Bedeutung. Vgl. ausführlicher hierzu Gildemeister in diesem Band sowie einführend Becker-Schmidt und Knapp (2000, S. 63–102).
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Die Aufzählung und Darstellung der kritischen Stimmen würde hier den Rahmen sprengen. Ich verweise deshalb nur auf die Diskussion und Literatur in Villa (2003, insbes., S. 77–101).
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Villa, PI. (2021). Post-Ismen: Geschlecht in Postmoderne und (De)Konstruktion. In: Wilz, S.M. (eds) Geschlechterdifferenzen – Geschlechterdifferenzierungen. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32211-3_7
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