Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die Sexualität von Menschen mit Behinderungen als Produkt von Diskursen, in denen behinderte Menschen als ‚andere Körper‘ konstruiert werden. Es wird gezeigt, wie sie über ihr vermeintliches körperliches Anderssein aus dem Sexuellen hinausdefiniert werden, wie es aber zugleich Grundlage ihrer sexuellen Inklusion wird. Diese De- und Re-Sexualisierungen werden beispielhaft an medizinischen, pädagogischen, rechtlichen und aktivistischen Diskursen aufgezeigt. Deutlich wird, dass diskursive Konstruktionen von Sexualität und Behinderung mit Körperwissen eng verflochten sind.
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Notes
- 1.
In den Disability Studies werden sowohl die Varianten „person-first“ (Menschen mit Behinderungen) als auch „identity-first“ (behinderte Menschen) verwendet. Variante 1 betont das Menschsein als Gemeinsamkeit von Menschen mit und ohne Behinderung, Befürworter von Variante 2 sehen die Erfahrung, behindert zu sein, untrennbar mit der Identität behinderter Menschen verbunden (Campbell, 2017, S. 12). Wir verwenden beide Formulierungen, ohne damit jeweils den Aspekt der Gleichheit oder Differenz betonen zu wollen.
- 2.
In diesem Beitrag werden wissenschaftliche und politische Expertendiskurse untersucht. Darüber hinaus sind Menschen mit Behinderungen und ihre Sexualität auch Thema populärer Mediendiskurse und nicht zuletzt Gegenstand und Motiv von sexuell gerahmten Bilddiskursen, etwa in Pornografie, in der behinderte Körper als Kuriosum inszeniert und fetischisiert werden (Waxman-Fiduccia, 1999).
- 3.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Teilprojekts A03 Sexuelle Humandifferenzierung und Behinderung. Die Konstruktion ‚behinderter Sexualität‘ und ‚sexueller (Un-)Fähigkeit‘ des 2021 eingerichteten Sonderforschungsbereichs 1482 Humandifferenzierung an der JGU Mainz.
- 4.
Der Begriff verschwand im Zuge der Reform des Sexualstrafrechts 2016 mit dem heute aufgehobenen §179 StGB. Der Tatbestand wurde in §177 eingegliedert, der die Straftatbestände des sexuellen Übergriffs, der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung integriert.
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Boll, T., Brunnengräber, M. (2022). „Veranderungen“ von Körpern mit Behinderungen in sexualitätsbezogenen Diskursen. In: Keller, R., Meuser, M. (eds) Die Körper der Anderen. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31531-3_7
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