Zusammenfassung
Aus der eigenen Forschung, in der Kinder mit angeborenen Fehlbildungen über längere Zeit begleitet wurden, wird aufgezeigt, wie sich ein alltagsweltliches Verstehen dieses Körperphänomens aus der Perspektive der zweiten Person Singular gestaltet. Zunächst als Grundsituation nichtgeteilter Körperlichkeit im Sinne nichtgeteilten Körperwissens charakterisiert, wird die Notwendigkeit zusätzlichen Wissenserwerbs in Form von Sonder- und Fallwissen aufgezeigt, um überhaupt erst über relevantes Deutungswissen zu verfügen. Gleichzeitig wird damit offen gelegt, dass gerade dieses erworbene exklusive Wissen die so interessierten Alter Egos auch zu der Erkenntnis bringt, keine eigenen Erfahrungen in dieser Dimension des Leibkörperlichen jemals machen zu können. Diese Verstehensprozesse kulminieren insofern in einer Fremderfahrung, als das direkte Erfassen-Können der anderen Funktionalität des Körpers und der anderen Leiblichkeit nicht möglich, dafür aber bezeugbar ist.
Ich danke Martin Huth für die hilfreichen Kommentare zur Erstfassung dieses Beitrags.
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Notes
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Siehe dazu die V. Meditation in den „Cartesianischen Meditationen“ von Edmund Husserl (1987). Husserl nimmt hier eine Zwischenposition ein: Er verweist zwar darauf, dass keine unmittelbare Vergegenwärtigung des Alter Ego möglich ist, hält aber dessen Leib für unmittelbar gegenwärtig. So konzipiert er letztendlich den Anderen doch noch als „Modifikation meines Selbst“ (ebd., S. 117; vgl. auch Gelhard 2007, S. 51).
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Es gibt auch Fremdes in Bezug auf den eigenen Körper, also die Erfahrung der Unverständlichkeit von Symptomen des eigenen Körpers – wie Freud es schon formulierte: Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus.
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Es wäre eine spannende und zukünftig noch zu führende Diskussion, Thematisierungen des Fremden und Othering-Prozesse zueinander in Bezug zu setzen und zu fragen, inwieweit Othering-Prozesse und Fremderfahrung in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen.
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Wie beide Auslegungen hierbei verschiedene Fremdheitsformen konstruieren, wäre eine genauere soziohistorische Untersuchung wert.
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Vertrautheit und Bekanntheit sind sozialphänomenologische Termini der Schützschen Theorie der Lebenswelt. Hochgradige ‚Vertrautheit‘ meint eine weitgehende Nichtauslegungsbedürftigkeit von Wissenselementen, während ‚Bekanntheit‘ die inhaltliche Bestimmtheit eines Typus beschreibt (vgl. Schütz & Luckmann, 2003, S. 193–227).
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Gründlicher diskutiert Schütz leibliche Anzeichen bzw. Verkörperungen in den „Strukturen der Lebenswelt“, wo er sie als Sonderformen von Anzeichen herausstellt (ebd., 2003, S. 648).
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Alternativ wäre hier auch der Begriff des habituellen Leibes von Merleau-Ponty (1966) möglich.
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Die einzelnen Laute, die eingeübt werden, erhalten in der Logopädie eine kindgerechte Bezeichnung, wie „Eisenbahn“ für den Sch-Laut, „Biene“ für das stimmenhafte S usw. Diese ‚Codeworte‘ werden im Gespräch mit dem Kind verwendet.
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Mit ‚Sonderwissen‘ wird eine Terminologie von Alfred Schütz verwendet, mit der er Wissensformen beschrieben hat, die auf Spezialwissen in Form von Expertisen oder Professionalisierung beruhen, die nicht zum allgemeinen gesellschaftlichen Wissensvorrat gehören und damit Exklusivität besitzen (vgl. Schütz & Luckmann, 2003, S. 422 ff.). ‚Fallwissen‘ ist dagegen ein professionstheoretischer Terminus. Fallwissen wird nur in therapeutischen Kontexten wie Medizin oder (Psycho-)Therapie erzeugt und meint biografische Daten zum Patienten in subjektiver wie objektiver Form, die vor allem die Genese der Symptomatik betreffen. Auch dieses Wissen ist hoch exklusiv und muss aus ethischen Gründen geschützt werden.
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Hiermit wird auch deutlich, was von der Forscherin bei solch langjähriger Feldforschung im Modus der Teilnahme und Zeugenschaft jeweils als Wissen und was als Erfahrung erworben wird. Beides sind verschiedene Wissensformen, die bei der Darstellung von Forschungsergebnissen noch zu wenig unterschieden und nicht immer sorgsam als solche identifiziert dargestellt werden. Oft werden diese während der Forschung gemachten Erfahrungen auch als (rein) privat angesehen und damit – je nachdem – entweder tabuisiert oder als thematisch nicht relevant eingeschätzt. Eine Diskussion, die sich für diese Thematik sensibilisiert, ist erst im Beginnen und bedarf eines Wechsels im Selbstverständnis der Forschenden und eines neuen forschungsethischen Paradigmas.
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Diese Formulierung sollte nicht universalisierend verstanden werden. Im dargestellten Fall führt die Fremderfahrung der Mutter zu einer bedingungslosen Annahme des Kindes. Aus empirischer Forschungserfahrung von mehr als 15 Jahren (seit 2006) im Feld der Perinatalmedizin kann die Autorin berichten, dass die übergroße Anzahl von Eltern ihre Kinder bedingungslos annimmt; die Autorin ist aber im Laufe dieser Forschung auch schon wenigen Elternpaaren begegnet, bei denen es sich anders verhielt.
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Um die Fragen, wie Andersheit nicht-reduzibel thematisiert werden kann, was bei einer gelingenden diversity-Politik als gelebte Kultur der Differenzsensibilität zu beachten wäre und welche Tücken in einer vorschnellen Normalisierung von diversity liegen, kreisen auch die Gedanken von Burkhard Liebsch (2019) in seiner lesenswerten Analyse des gegenwärtigen Standes der disability and diversity studies (DDS).
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Peter, C. (2022). Verstehen und Verständigung in der Grundsituation nichtgeteilter Körperlichkeit. In: Keller, R., Meuser, M. (eds) Die Körper der Anderen. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31531-3_4
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