Zusammenfassung
Die Geographie der Zwischenkriegszeit verstand sich mehrheitlich als Länder- bzw. Landschaftskunde mit dem Ziel, das konkrete Mensch-Natur-Verhältnis in seinen regionalen Ausprägungen ganzheitlich zu beschreiben und zu erklären. Dazu brauchte sie sowohl naturwissenschaftliche wie sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, die sie sich entweder durch ihr angeschlossene Allgemeine Geographien besorgte oder von Nachbarwissenschaften übernahm. Lange Zeit dominierte in der Geographie, teils von soziologischer Seite erwartet, teils bekämpft, ein naturwissenschaftlicher Blick auf das Mensch-Natur-Verhältnis, doch je mehr sich seit der Vorkriegszeit in der Geographie eine vom Menschen und seinen Willensentscheidungen ausgehende Blickrichtung durchsetzte, desto stärker geriet das Dogma der sogenannten geographischen Bedingtheit und die feste Anbindung aller geographischen Erscheinungen an die Landesnatur oder das Landschaftsbild unter Druck, vor allem auch von Seiten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Dennoch kam es trotz einer in den 1930er Jahren zu beobachtenden Soziologisierung der Geographie des Menschen bis zum Ende der Zwischenkriegszeit nicht, wie von einzelnen Geographen gefordert und erwartet, zu einem klaren Bruch mit der länder- bzw. landschaftskundlichen Denktradition.
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Die klassische Geographie verfügte über eine breite Palette analoger Paarbildungen, darunter: „Land und Leute“, „Land und Volk“, „Natur und Kultur“, „Mensch und Erde“, „Natur und Geist“, „Mensch und Boden“, „Volk und Raum“, „Mensch und Raum“, „Landschaft und Volkstum“, seltener „Natur und Menschheit“, „Erde und Menschheit“, „Erde und Leben“, „Mensch und Umwelt“. Einige kamen auch in umgekehrter Anordnung vor, also z. B. „Volk und Land“, „Boden und Mensch“. „Natur und Gesellschaft“ gehörte nicht zum Formelinventar der klassischen Geographie. Nach 1933 wurden obige Paare meist eilfertig durch „Blut und Boden“ ergänzt oder ersetzt.
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Schultz, HD. (2022). Die Krux mit der „Landesnatur“. Zum Verhältnis von Geographie und Sozialwissenschaften (Soziologie, Humanökologie) in der Zwischenkriegszeit. In: Acham, K., Moebius, S. (eds) Soziologie der Zwischenkriegszeit. Ihre Hauptströmungen und zentralen Themen im deutschen Sprachraum. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31401-9_6
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