Abstract
Studying everyday routines and actions presents a challenge for qualitative social research. Therefore, within the framework of the dissertation „Families’ everyday conduct of life: workers with blurred work boundaries and their children“ a method for the analysis of everyday actions has been devised. This method, called VAA, is a subject-scientific and ethnographically oriented system of self-documentation for Everyday Life Sociology. The VAA enables micro-sociological analyses of everyday actions within a temporal perspective. It focuses on analysing the protagonists’ daily routines and which actions are being performed at what time during the day. This article first outlines the VAA’s theoretical and methodological basis. Building on these principles, the development, structure and use of the VAA will be described. The article closes with an overview of the VAA’s possible applications and a research pragmatic reflection on the chances and limitations of this qualitative method.
Zusammenfassung
Die Untersuchung von Alltagshandlungen stellt die qualitative Sozialforschung vor Herausforderungen. Im Rahmen der Dissertation „Alltägliche Lebensführung von Familie: zeitlich entgrenzt Erwerbstätige und ihre Kinder“ wurde deshalb das „Verfahren zur Analyse von Alltagshandlungen“ (VAA) entwickelt. Hierbei handelt es sich um ein subjektwissenschaftlich-ethnografisch orientiertes Selbstdokumentationsverfahren für die Alltagsforschung. Das VAA dient der mikrosoziologischen Analyse von Alltagshandlungen in zeitlicher Perspektive. Es fokussiert auf die Analyse von dem was Akteur*innen tagtäglich tun, welche Handlungen von ihnen zu welcher Tageszeit vollzogen werden. In diesem Beitrag erfolgt im ersten Teil die theoretische und methodologische Grundlegung vom VAA. Auf Basis dieser Explikationen wird die Entwicklung, der Aufbau und die Anwendung vom VAA dargelegt. Der Beitrag schließt mit Einsatzmöglichkeiten vom VAA und einer forschungspragmatischen Reflexion der Chancen und Begrenzungen des qualitativen Verfahrens ab.
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Notes
- 1.
Der Begriff „Alltägliche Lebensführung von Familien“ bezeichnet die im Rahmen der Dissertation weiterentwickelte Konzeption von den Ansätzen „Alltägliche Lebensführung“ (Projektgruppe Alltäglicher Lebensführung 1995), „familiale Lebensführung“ (Jürgens 2001) mit weiteren Lebensführungsansätzen aus der Kindheits- und Jugendsoziologie. Das Konzept „Alltägliche Lebensführung“ wurde von der Münchner „Projektgruppe Alltäglicher Lebensführung“ (1995) entwickelt. Im Forschungsfokus stand die Untersuchung der Auswirkungen des strukturellen Wandels der Arbeitswelt, genauer der Entgrenzungsprozesse in der Erwerbsarbeit auf das alltägliche Leben zu untersuchen (vgl. auch Kudera und Voß 2000 und weiterführend Alleweldt et al. 2016). Unter Entgrenzung wird ein „sozialer Prozess, in dem unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene soziale Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen ganz oder partiell erodieren bzw. bewusst aufgelöst werden“ gefasst. Jurczyk et al. (2009) differenzieren zwischen Entgrenzung der Erwerbsarbeit, Entgrenzung der Familie und zu beiden Sphären quer, die Entgrenzung der Geschlechterverhältnisse (S. 31 ff.). Bezogen auf die Dimension Zeit zeigt sich die Entgrenzung in Form flexibler Arbeitszeiten; bzgl. der räumlichen Dimension hinsichtlich flexibler Arbeitsorte.
- 2.
Zeitliche Vereinbarkeitsschwierigkeiten von Familien wurden in zahlreichen Studien untersucht (vgl. Ludwig et al. 2002; Heitkötter et al. 2009; Klenner und Pfahl 2009; Zartler et al. 2009; Lange 2011; Jurczyk 2015; Birken 2015). Das „Zeit für Familien“ gesellschaftlich von zunehmender Bedeutung ist, verdeutlicht der achte gleichnamige Familienbericht (BMFSFJ 2012). Besonders Zeitknappheit und Zeitstress belasten Familien bei der Gestaltung ihres Alltagslebens (Bundeszentrale für politische Bildung 2004).
- 3.
Vgl. zur Praxisdimension alltäglicher Lebensführung Hagen-Demszky (2006).
- 4.
- 5.
Während im Gesamtkontext der Dissertation dieser Zusammenhang herausgearbeitet wird, kann eine Vertiefung in diesem Beitrag nicht erfolgen.
- 6.
In der vorliegenden Studie wurden am Ende des gesamten Erhebungsprozesses, die mit dem VAA erhobenen Daten (Handlungsebene) mit denen mittels qualitativer Interviewverfahren gewonnenen Daten (Sinndeutungsebene) trianguliert (vgl. Flick 2004, S. 314). Als Interviewmethoden der qualitativen Sozialforschung zur Befragung der Sinndeutungen kamen das leitfadengestützte problemzentrierte Interview (vgl. Witzel 1985, 2006; Mayring 2002, S. 67 ff.) für Erwachsene und Jugendliche sowie das lebensweltliche Interview für Kinder (vgl. Fuhs 2000) zum Einsatz. Methodisch an der Grounded Theory angelehnt, wird davon ausgegangen: „Je mehr Datenmaterial vorliegt, desto mehr Beweiskraft wird sich anhäufen, desto mehr Variationen werden gefunden und eine desto größere Dichte wird erreicht“ (Strauss und Corbin 1996, S. 161).
- 7.
- 8.
Handeln von Individuen ist stets in einem Raum-Zeit-Gefüge eingebettet, denn „Raum und Zeit sind ein konstitutives Prinzip sozialer Praktiken“ (Hielscher 2006, S. 29). Giddens (1988) folgend wird jede gesellschaftliche Praxis über Raum-Zeit-Aspekte geregelt und durch soziale Handlungen der Akteur*innen permanent (re-)produziert. Der Raum-Aspekt wird, da es sich um ein qualitatives Instrument mit der Schwerpunktlegung auf Zeit handelt, nicht weiter ausgeführt; findet sich aber im PEA wieder (s. .).
- 9.
Dieser großen Frage haben sich zahlreiche Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen gewidmet. Vgl. vertiefend z. B. Schöneck (2009, S. 19 ff.); bezogen auf die lange Tradition einer soziologischen Perspektive auf Zeit.
- 10.
- 11.
Den Werktagen wird eher ein sachbezogener, den Wochenendtagen hingegen primär ein sozialbezogener Charakter zugeschrieben (vgl. Rinderspracher 1987, S. 37). Der für einen Teil der Erwerbstätigen arbeitsfreie Samstag, wird seit geraumer Zeit für Arbeiten und Aufgaben genutzt, die unter der Erwerbsarbeitswoche nicht erledigt werden konnten (vgl. Maurer 1992, S. 291 f.). Der Sonntag behält hingegen seinen Sozialfunktionscharakter. Wie sich später in diesem Beitrag im Kontext der Beschreibung des „Protokolls zur Analyse von Alltagshandlungen“ (PEA) zeigt, wurde dieser Aspekt bei der Entwicklung des methodischen Instruments berücksichtigt.
- 12.
„Zeitinstitutionen verlieren zugunsten von individuell bestimmten Routinen, Ritualen und Regeln an Bedeutung. Für […] Familien bzw. deren Mitglieder (Erwachsene und Kinder) ergibt sich hiermit die Aufgabe, verstärkt das Alltagsleben aufeinander abzustimmen und zeitlich zu steuern“ (Lange und Heitkötter 2006, S. 1). Je flexibler und unplanbarer die Erwerbsarbeitszeit ist, desto schwieriger wird es diese Öffnungs- und Schließzeiten der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen in Einklang zu bringen, da sie zeitlich noch (weitestgehend) entlang industrieller Zeittaktungen organisiert sind (Jurczyk und Lange 2005; Klenner und Pfahl 2005).
- 13.
Zu einem Kriterium qualitativer Sozialforschung zählt die Reflexivität der Forschenden (diese und weitere Grundannahmen vgl. Flick et al. 2004, S. 20 ff.). Während der Erhebungsphase wurde ein Forschungstagebuch geführt und Prozesse, Beobachtungen und die eigene Forschungspraxis reflektiert und dokumentiert (s. weiterführend.). In diesen wurde festgehalten, dass einige der an der Untersuchung Teilnehmenden von Selbstreflexionsprozessen berichteten, die aus den regelmäßig wiederkehrenden Selbstdokumentationsphasen ihrer Alltagshandlungen mit dem VAA resultierten. Aus diesen Rückmeldungen wurde deutlich, dass der Einsatz des VAA zur Bewusstwerdung von Routinen und Handlungsabläufen führte, aus denen seitens der Befragten Veränderungsentscheidungen bezogen auf ihre Alltagsroutinen und die Organisation des Alltags resultierten.
- 14.
Da sich im Kontext der Flexibilisierung der Erwerbsarbeit zunehmend abzeichnet, dass Sonntage eine hohe soziale Funktion zukommt (Stichwort: Sonntagsmorgenfrühstück, vgl. Jurczyk et al. 2005; S. 26), wurde der Sonntag, statt der Samstag als Erhebungstag ausgewählt. Vgl. theoretische Grundlegung Fußnote 10.
- 15.
Die Anwendung des Verfahrens VAA zeigte, dass bereits Kinder im Alter von acht Jahren selbstständig die Protokollnotizen vornehmen konnten.
- 16.
Die Zeitskala im Rahmen der quantitativen Verfahrensweise weist i. d. R. Zehn-Minuten-Schritte auf (vgl. Ehling et al. 2001, S. 430). Gegen eine solche Vorgehensweise wurde sich u. a. deshalb entschieden, weil die Anforderungen, die an die Studienteilnehmenden mit dem Einsatz eines Erhebungsverfahrens gestellt werden, von ihnen im Alltag realisierbar sein müssen und kein weiteres Belastungsmoment darstellen dürfen. Zwecks Vermeidung von Aufzeichnungslücken sowie mit Blick auf eine zeitlich langfristig gesicherte Studienteilnahme wurde auf eine Protokollierung der Alltagshandlungen in einstündigen Zeitintervallen zurückgegriffen. Erfahrungen zu einstündigen Erhebungszeiträumen liegen mit der Marienthal-Studie (Jahoda et al. 1975) vor.
- 17.
Der Ort der Handlungen wurde in der vorliegenden Studie mit erfragt, um kopräsente und soziale Zeiten der Familienmitglieder identifizieren zu können. Für Untersuchungen, die den Fokus auf die Analyse von räumlichem Handeln oder Raum-Zeit-Handeln legen, eignet sich das VAA ebenfalls.
- 18.
Bei der Auswertung der VAA-Daten kann auf das Auswertungsverfahren für Problemzentrierte Interviews nach Witzel (1996) zurückgegriffen werden (vgl. auch Kühn und Witzel 2000). Diese Vorgehensweise bietet sich hinsichtlich der Vergleichbarkeit mit den Interviewdaten aus problemzentrierten Interviews an.
- 19.
Auch die auf das Untersuchungsinteresse bezogenen Beobachtungen und Erfahrungen, die während der Feldbesuchen durch die Mappenübergabe gemacht werden, sollten notiert und die Auswertung einbezogen werden.
- 20.
Siehe weitere Differenzierungsdimensionen bei Lutz und Wennig (2001, S. 20).
- 21.
Z.B. „Während Waschmaschine einräumen, telefoniert“ oder „gerade stressig, Hetze zwischen Schreibtisch und Kindern hin und her.“ Unter der Kategorie „sonstige Anmerkungen“ Nebentätigkeiten, Emotionen etc. zu notieren, ist für die Teilnehmenden optional.
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