Zusammenfassung
Der Beitrag unternimmt den Versuch, Schulentwicklung besser zu verstehen, indem die Kategorie des Scheiterns theoretisch reflektiert wird. Ausgehend von einem systemtheoretischen Verständnis von Schulentwicklung als sozialer Evolution werden gelingende Innovationen und das Scheitern von Neuerungen als zwei Seiten einer Medaille betrachtet und eine theoretische Erklärung sowohl für Veränderungen als auch für Stagnation in der Schulentwicklung angeboten. Am Beispiel der Bildungsstandardreform werden Formen des Scheiterns der Schulen und Reaktionsweisen von Lehrpersonen auf das Scheitern herausgearbeitet. Während (bildungspolitische) Reformen tatsächlichem und potenziellem Scheitern im Modus der Kontrolle begegnen, wird der konstruktive Umgang mit dem Scheitern in schulentwicklungsaktiven Schulen als auf Vertrauen basierend rekonstruiert.
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Notes
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Auch Emmerich (2019) analysiert Schulreformen aus systemtheoretischer Perspektive, allerdings mit einem anderen Beobachtungsfokus. Er beobachtet nicht die Einzelschule, sondern das Schulsystem als autopoietisches System und fragt nach der Funktionalität von Reformen für das Bildungssystem.
- 2.
Das alltägliche Scheitern in der pädagogischen Interaktion von Schule und Unterricht hat Rieger-Ladich (2014) beschrieben.
- 3.
In vergleichbarer Weise können Schulstrukturreformen als eine bildungspolitische Reaktion auf das Scheitern der Hauptschule angesehen werden. Auch hier steht die Qualifikations- und Allokationsfunktion der Schule als Institution in Frage, da der Hauptschulabschluss immer weniger für das Erreichen eines Ausbildungsplatzes qualifiziert und Schulen in marginalisierten Stadtteilen auf Grund der schulorganisatorischen Struktur bildungsbenachteiligte Schüler*innen nicht angemessen fördern können (Baumert et al. 2006). Auch im Fall von Schulstrukturreformen wird die Umsetzung der Reform, mit der auf ein Problem auf Schulsystem-Ebene reagiert wird, von den Lehrpersonen und Schulleitungen auf der Ebene der Einzelschule erwartet (z. B. Fölker 2013; Fölker et al. 2016).
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Auch Goldmann (2017a) bezeichnet die Schulentwicklungsprogrammatik als eine gleichermaßen „hilfreiche und problematische Simplifikation der Entwicklungsanforderungen“ (ebd., S. 301), denn, so Goldmann, „die Schulentwicklungsprogrammatik stellt eine regelhafte Fremdsimplifikation dar, die den Akteuren den Blick auf die Komplexität schulischer Entwicklungspraxis verstellt“ (ebd.). Dennoch geht Goldmann davon aus, dass die Schulentwicklungsinstrumente und -programme jenen Lehrpersonen den Einstieg in die Schulentwicklungspraxis erleichtern, die noch wenig oder keine Erfahrung in der Gestaltung schulischer Entwicklungsprozesse haben (ebd.). Der zweite Teil der Argumentation ergibt sich allerdings nicht aus seinen empirischen Analysen. Vielmehr scheint sie der Normativität des Schulentwicklungsdiskurses geschuldet zu sein, von der offensichtlich auch Goldmann nicht frei ist, wonach die organisationale Schulentwicklung in jedem Fall wünschenswert ist und durch entsprechende Maßnahmen und Instrumente gefördert werden kann.
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Asbrand, B., Zick, A. (2021). Erfolg und Scheitern – zwei Seiten einer Medaille. Eine systemtheoretische Perspektive auf Schulentwicklung. In: Moldenhauer, A., Asbrand, B., Hummrich, M., Idel, TS. (eds) Schulentwicklung als Theorieprojekt . Schule und Gesellschaft, vol 61. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30774-5_10
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