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Transgeschlechtlichkeit als Thema einer evidenzbasierten Ethik

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Praktiken von Transdiskursen
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Zusammenfassung

Im Gegensatz zu einer evidenzbasierten Medizin ergeben sich ethische Evidenzen nicht über empirisch-statistisches Datenmaterial, sondern durch den zwingenden Charakter von Begegnungen. Dazu gehört auch die individuelle Begegnung mit dem eigenen Körper, der dem Subjekt evident als sich vollziehender begegnet. Hinter dem Körpervollzug werden Körpereigenschaften vage, auch die binären Körperdifferenzen weiblich/männlich. Versuche, diese Vagheit durch evidenzbasierte Geschlechterbeschreibungen aufzuheben, führen zu objektiven oder subjektiven Pathologisierungen normabweichender Körperwahrnehmungen. Demgegenüber schlägt der vorliegende Aufsatz individuelle Lösungen vor, die jeweils schonungsvolle Angleichungen zwischen unmittelbarem Körpervollzug und seinen konkreten Körpereigenschaften vornehmen. Dieser Prozess wird zu einer lebenslangen Aufgabe – für alle Menschen, weil sie um die Spannung aus Körpervollzug und Körpereigenschaften ringen.

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Notes

  1. 1.

    Ich benutze den Interessebegriff so offen, dass er alle Bedürfnisse, Präferenzen, Begehren etc. einschließt, also einen Drang mit intentionalem Charakter, einer Zielgerichtetheit. Dazu muss die Person, die dieses Interesse hat, sich nicht bewusst sein, dass sie es hat. Dennoch hat es eine Intentionalität. Mit dem Interessebegriff ordne ich mich also noch keiner bestimmten ethischen Tradition zu. Allerdings grenze ich vom Interesse unbestimmte und dumpfe Gestimmtheiten ab. Zur Differenz s. Scheler (1966, S. 335).

  2. 2.

    Genau in dieser Differenz liegt die medizinethische Unterscheidung zwischen Fürsorge- und Autonomieprinzip. Zur dialektischen Beziehung s. Wils (1991, S. 266 f.).

  3. 3.

    Der ontologische Beweis einer Außenwelt, den Sartre (2003, S. 40) überzeugend durchgeführt hat, lässt sich nicht auf die Existenz anderer Subjekte übertragen (Ohly 2006, S. 189).

  4. 4.

    Mit Anführungszeichen drücke ich aus, dass „richtig“ den erstrebten Körper meint, dabei aber nicht eine Ethik des Richtigen im Gegensatz zur Ethik des Guten impliziert. Der „richtige“ Körper wird vielmehr vom Standpunkt einer Ethik des Guten ermessen.

  5. 5.

    Vereinfacht gesagt, könnte man vom „gefühlten Körper“ sprechen. Dieser Ausdruck ist aber missverständlich: Auch der Körper als Gegenstand, den ich habe, wird gefühlt. Der „gefühlte Körper“ als Widerfahrnis wird aber nie „gehabt“: Er verschwindet sofort, wenn das Fühlen aufhört, und wird ein anderer, wenn das Gefühl wechselt. Man könnte im Sinne von Schmitz (1998, S. 58) von einem „Halbding“ sprechen.

  6. 6.

    Da zumindest auf diese Weise beide Strategien – sowohl die medizinische als auch die psychologische – auf der Ebene des Körpers als eines Gegenstands operieren, führt die medizinische Körperangleichung nicht aus der Stigmatisierung heraus, die transgeschlechtliche Personen in der Vergangenheit bereits in ihrer psychologischen Pathologisierung erfahren haben. Genauso wenig, wie es sie überzeugen muss, mit einem richtigen Körpermodell dem „falschen“ Körper zu entkommen, bekommen sie schon den richtigen Körper, wenn sie durch medizinische Maßnahmen andere Geschlechtsmerkmale erhalten. Ich werde später medizinethisch andeuten, welchen Dienst beide Disziplinen für eine ethische Lösung leisten können.

  7. 7.

    Der Stress der Unentschiedenheit wird als leiblicher Druck gespürt.

  8. 8.

    Das Interesse bekommt mit dem Konflikt des widerfahrenden und des handelnden Körpervollzugs selbst einen Widerfahrenscharakter.

  9. 9.

    Diese ethische Folge ergibt sich aus dem Widerfahrensmoment von Interessen, die im Körpervollzug entstehen.

  10. 10.

    Kann ich nicht auch immer wieder autonom neue Interessen bilden? Noch einmal: Es ist letztendlich keine freie Wahl, frei zu wählen. Die freie Wahl stößt irgendwann auf ein Widerfahrensmoment, das sie bildet. Widerfahrnisse geben der freien Wahl zwar im Widerfahrensmoment einen zwingenden Charakter, im Gehalt aber können sie die Autonomie gefährden, indem sie sie unverbindlich und flüchtig werden lassen. Deshalb gehört zur Autonomie eine gewisse Stabilität der Interessegehalte.

  11. 11.

    Merke: Relative Stabilität ist eine notwendige und keine hinreichende Bedingung der Autonomie. Hinreichend ist relative Stabilität zusammen mit meiner Ich-Identität; s. hierzu Ohly (2014).

  12. 12.

    Interpretiert man diesen Ausdruck im Sinne einer eudämonistischen Ethik, so folgt die glückliche Mitte der Autonomie und ihren Widerfahrensbedingungen nach. Autonomie ist also eine Bedingung der Glückseligkeit; weder garantiert noch ersetzt sie sie.

  13. 13.

    Schmitz spricht vom gefährlichen Spiel des „Naschens“ (ebd., S. 482).

  14. 14.

    Wir haben die Pflicht, einander die Möglichkeit zu gewähren, dass sich jedes Subjekt angestrebte Güter mittels sozialer Interaktion aneignen kann. Dagegen besteht keine Pflicht, die Aneignung dieser Güter zu garantieren.

  15. 15.

    Zur Differenz zwischen uns beiden s. Ohly (2015).

  16. 16.

    Einen konstruktivistisch disziplin-offenen Ansatz vertritt z. B. Walker (2012).

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Ohly, L. (2022). Transgeschlechtlichkeit als Thema einer evidenzbasierten Ethik. In: Maier-Höfer, C., Schreiber, G. (eds) Praktiken von Transdiskursen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30770-7_8

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-30769-1

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