Zusammenfassung
Diagnosen einer Gesellschaft in Angst sind populär geworden. Transformationen verschiedener Art hätten Angst zu einem Lebensgefühl in westlichen Gesellschaften werden lassen; die vorherrschende Angst wiederum wird als Erklärung für weitere Phänomene herangezogen, etwa das Erstarken rechtspopulistischer „Angstbewegungen“. Die hohe Plausibilität solcher Diagnosen und Erklärungen lenkt allerdings davon ab, dass sie theoretisch-konzeptuelle und empirische Defizite haben: Angst wird in ihrer Existenz und Beschaffenheit vorausgesetzt, aber nicht näher definiert und untersucht. In diesem Beitrag werden auf Basis einer qualitativen Studie verschiedene Bedeutungen von Angst, konkret von Angstkommunikation rekonstruiert. Diese erweist sich bei genauerer Betrachtung nicht immer als Ausdruck von Angst als Emotion. Vielmehr wird die Angstrhetorik von den Akteur*innen für eigene mikropolitische Zwecke genutzt. Diese Nutzung der Angstrhetorik steht im Fokus des Beitrags, wird auf rechtspopulistische Bewegungen bezogen und ist Ausgangspunkt der These, dass wir weniger in einer Gesellschaft der Angst als in einer Kommunikationskultur der Angst leben.
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Notes
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Der in Philosophie und Psychologie begründeten Unterscheidung von bestimmter, objektbezogener Furcht und unbestimmter, objektloser Angst schließe ich mich nicht an, u. a. da die Frage, wer darüber befinden sollte, was ein ausreichend objekthaftes Objekt ist, nicht ohne Weiteres beantwortet werden kann. Aus sozialkonstruktivistischer Sicht ist schließlich auch das Wissen von Expert*innen konstruiert und nicht objektiv. Angst und Furcht verwende ich daher synonym. Letzteres gilt auch für die Begriffe Emotion und Gefühl.
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Als eine solche politische Meinungsäußerung lässt sich auch Nicole Schützes Stellungnahme, dass die angebliche Nicht-Produktivität von ‚Anderen‘ eine Sicherheitsbedrohung für Deutschland darstellt, interpretieren.
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Anzumerken ist, dass im Privatleben nicht alle Milieus diese Wertschätzung von Emotionskommunikation teilen. Das traditionale Milieu bspw. widersetzt sich bislang dem von Illouz (2011) behaupteten „globalen therapeutischen“ Habitus (Eckert et al. 2019). Gleichwohl verfügen auch traditional Orientierte über ein Gespür für das Spiel, das im öffentlich-politischen Feld gespielt wird, und bedienen sich dort der Angstrhetorik.
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Eckert, J. (2020). Gesellschaft der Angst? Kommunikationskultur der Angst. Über die mikropolitische Nutzung der Angstrhetorik. In: Martin, S., Linpinsel, T. (eds) Angst in Kultur und Politik der Gegenwart. Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30431-7_9
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