Zusammenfassung
Das Handwerk im Allgemeinen und die Branche Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK) im Speziellen sehen sich mit einem zunehmenden Fachkräftemangel konfrontiert. Die Innung SHK Berlin hat daher ein Modellprojekt initiiert, in dem ein Soziologe an der Konzeption von Maßnahmen gegen Ausbildungsabbrüche mitarbeitet und bei der Bearbeitung empirisch-analytischer Fragestellungen unterstützt. Modellprojekte haben das Ziel, soziale Innovationen als wissenschaftlich begründete Veränderungen der Praxis zu erzeugen. Sozialwissenschaftler werden dabei selbst zum gestalterischen Akteur im Transformationsprozess. Es existieren verschiedene Formen sozialwissenschaftlicher Gestaltung. Im aktuellen Fall ist die empirische Sozialforschung zweierlei. Sie ist erstens „Infiltration“ aufgrund/mittels des ethnografischen Zugangs und sie ist zweitens „Arrangement“ durch die Initiierung von Dynamik. Sozialwissenschaften unterstützen die Selbststeuerung der Akteure und stoßen Veränderungen an, die von den Praktikern getragen werden. Der Forschungsprozess lässt sich insgesamt als soziale Anreicherung (innovative Sublimation) verstehen, d. h. als Prozess steigender Reflexivität der Akteure und der Ausformung von Möglichkeitshorizonten. Im Beitrag werden begünstigende und hinderliche Faktoren sowie Kompetenzanforderungen an den Soziologen erörtert.
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Notes
- 1.
Im vorliegenden Text wird zwischen beiden Terminologien keine Differenzierung vorgenommen. Der Fokus liegt fallabhängig auf Soziolog*innen, die in anwendungsorientierten Forschungs- und Entwicklungszusammenhängen tätig sind. Damit ist freilich eine Übertragbarkeit der Diskussion auch auf andere Fachgebiete der Sozialwissenschaften nicht ausgeschlossen, sogar erwünscht.
- 2.
Vgl. die Internetpräsenz zum Modellprojekt unter: https://www.shk-berlin.de/kompetenzzentrum/sonderprojekte/projekt-as-nb (letzter Zugriff 04.10.2019).
- 3.
Vertragslösungen ist ein Begriff aus dem Feld und meint Vertragsauflösungen. Vorzeitige Vertragslösungen in der Ausbildung sind nicht immer mit Ausbildungsabbrüchen gleichzusetzen, denn die Ausbildung kann in einem anderen Betrieb weitergeführt werden (Uhly 2015).
- 4.
Der Beitrag ist Ergebnis der Reflexion meiner Arbeit im Modellprojekt. Ich nehme neben meiner Rolle als „Praktiker“ auch die des (theoriegeleiteten) Beobachters ein. Manche Erörterungen mögen daher schemenhaft, verkürzt und pointiert wirken – eine vertiefende Analyse ist denkbar. Ich danke Stefan Selke und Andreas Otremba für hilfreiche Kommentare.
- 5.
Die Terminologie Infiltration hat, gemeint als Spionage/Sabotage und geheime Untersuchung, eine negative Konnotation. Ich verwende den Begriff dennoch, denn er trifft den Kern zweckbasierter Forschungsarbeit: Ein Wissenschaftler dringt möglichst unauffällig in ein Feld ein, um Probleme (und Lösungen dafür) zu identifizieren.
- 6.
Ähnlich wird für die Soziologie anhand ihrer Adressatengruppen (und Wissensformen) in die vier Tätigkeitsbereiche von professioneller, kritischer, anwendungsorientierter und öffentlicher Soziologie unterschieden (Burawoy 2005). Professionelle und kritische Soziologie richten sich an ein akademisches Publikum. An nichtakademischen Zielgruppen ausgerichtete Soziologie ist in dieser Sichtweise entweder öffentliche Soziologie als dialogische Bearbeitung relevanter Problemlagen durch Verwendung reflexiven Wissens. Oder diese Form der Soziologie widmet sich unter Maßstab der Anwendungsorientierung der auftragsbezogenen Erarbeitung von Interventionen durch Einsatz instrumentellen Wissens.
- 7.
Für Modellprojekte scheint es keine einheitliche Definition und verbindliche Richtlinien zu geben. Es werden auch Modellprojekte durchgeführt, an denen keine Wissenschaftler*innen beteiligt sind.
- 8.
Dies belegen auch meine Erfahrungen aus Technikentwicklungsprojekten.
- 9.
So wird ein Selbsttest der Ausbildungsqualität für Betriebe externen Kontrollinstanzen vorgezogen.
- 10.
Auch wenn der dauerhafte oder langfristige Aufenthalt im Feld in der Praxisforschung grundsätzlich wünschenswert ist, ist dies in konkreten Projekten eher die Ausnahme.
- 11.
Der Begriff „Arrangement“ wird gegenüber der Terminologie „Strukturierung“ bevorzugt, da Strukturen bereits existieren und der Sozialwissenschaftler vor allem Neu-Ordnungen entwirft, anhand derer die Praxisakteure (Re-)Strukturierungen vornehmen.
- 12.
Vgl. Systemisch orientierte Interventionsforschung: „Der Ansatz folgt dabei in der Intervention einem „ökologischen Prinzip“ der sanften Steuerung. Die PraktikerInnen aus den Unternehmen, Management wie Beschäftigte, werden als ‚ExpertInnen‘ für ihre eigenen Probleme angesehen, Wissenschaft und Beratung unterstützt die Selbststeuerungsfähigkeit der handelnden Personen durch dialogische Prozesse der Wissensgewinnung und des Wissenstransfers, um die sozialen Prozesse und Strukturen nachhaltig weiterzuentwickeln.“ (Klatt et al. 2014, S. 286).
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Biniok, P. (2020). Transformativer Wandel im Handwerk. In: Franz, HW., Beck, G., Compagna, D., Dürr, P., Gehra, W., Wegner, M. (eds) Nachhaltig Leben und Wirtschaften. Sozialwissenschaften und Berufspraxis . Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_11
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