Zusammenfassung
Wandel ist sowohl für die Soziologie im Allgemeinen als auch für die Gedächtnissoziologie im Besonderen ein grundlegender Begriff, der sich auf die Dynamik der Gesellschaft bezieht. Wandel steht in enger begrifflicher Verbindung zu Fortschritt, Veränderung und Evolution und findet in der Stabilität, Kontinuität und Beständigkeit seine vermeintliche Entgegensetzung. Vermeintlich deshalb, weil – wie der Beitrag argumentiert – Wandel etwas Kontinuierliches enthält. Wenn wir Gedächtnis aus einer temporalen Trias aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschreiben und die Prozesshaftigkeit des Werdens und Gewordenseins in den Blick nehmen, betrachten wir zugleich die Ebene der sich wandelnden Entitäten. Der Beitrag umreißt die neuere Begriffsgeschichte sowie Wandlungstheorien soziologischer Klassiker und beschreibt unterschiedliche Formen gesellschaftlichen Wandels wie die Evolution oder Transformation. Auf dieser Grundlage lassen sich zentrale gedächtnissoziologische Bezüge zum Begriff Wandel herstellen, wobei eine doppelte Perspektive eingenommen wird: Gedächtnisbezüge im Prozess des sozialen Wandels und soziale Gedächtnisse des sozialen Wandels selbst.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Bereits August Comte sieht im Verhältnis von Statik und Dynamik bzw. Ordnung und Fortschritt ein Grundproblem der Soziologie (Comte 1974).
- 2.
Für einen ausführlichen Überblick der klassischen Wandlungstheorien siehe Abels 2019.
- 3.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Wandel keinesfalls nur ein Phänomen der Moderne ist: Bereits in vormodernen Gesellschaften konnten tief greifende und abrupt einsetzende Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen beobachtet werden.
- 4.
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zeichnen sich schon jetzt zahlreiche Wandlungsprozesse einer antizipierten Post-Corona-Gesellschaft ab (für viele Popp und Ott 2020).
- 5.
Damit stellt Dahrendorf die von Parsons (1951) vorgebrachte Annahme, „Jede Gesellschaft ist ein („relativ“) beharrendes, stabiles Gefüge von Elementen“ in Frage und setzt der Stabilität den sich stetig vollziehenden Wandel als Charakteristikum gesellschaftlichen Lebens entgegen.
- 6.
Auch wenn die Fortschrittsidee weit in die Antike zurückreicht und sich über die frühe Neuzeit bis in die Moderne erstreckt lässt sich dennoch mit Beginn der Aufklärung um 1700 ein Höhepunkt des Fortschrittsdenkens erkennen.
- 7.
Zur Auseinandersetzung mit der Weltrisikogesellschaft und einer „Weltkrisengesellschaft“ s. den Vortrag von Tjorven Harmsen, den sie im Rahmen des WZB-Kolloquiums zu soziologischen Perspektiven auf die Corona-Krise am 15. Dezember 2021 gehalten hat. Harmsen verweist darin u. a. auf ein vom BMBF gefördertes Forschungsprojekt am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, das sich mit der Räumlichkeit von Krisen und deren Folgen für die Gesellschaft auseinandersetzt (Ibert et al. 2021).
Literatur
Abels, Heinz. 2019. Einführung in die Soziologie. Band 1: Der Blick auf die Gesellschaft. Wiesbaden: Springer-VS.
Adamski, W., P. Machonin, W. Zapf, und J. Delhey. 2003. Structural change and modernization in post-socialist societies. Hamburg: Krämer.
Aderhold, Jens, und René John. 2006. Innovation. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Konstanz: UVK.
Assmann, Aleida, und Jan Assmann. 1994. Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Hrsg. K. Merten et al., 114–140. Wiesbaden: Springer VS.
Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt: Suhrkamp.
Beck, Ulrich, und Michi Knecht. 2012. Jenseits des Dualismus von Wandeln und Persistenz? In Krisen verstehen, Hrsg. Thomas Mergel, 59–76. Frankfurt a. M.: Campus.
Blättel-Mink, Birgit. 2006. Kompendium der Innovationsforschung. Wiesbaden: Springer-VS.
Bopp-Filimonov, Valeska. 2014. Erinnerungen an die „Nicht-Zeit“. Das sozialistische Rumänien im biographisch-zeitgeschichtlichen Gedächtnis der Nachwendezeit (1989–2007). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag.
Comte, Auguste. 1974. Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Hrsg. von Friedrich Blaschke. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.
Corbea-Hoisie, Andrei, Rudolf Jaworski, und Monika Sommer. 2005. Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis. Innsbruck: Studien Verlag.
Dabagg, Mirhan, und Kristin Platt. 2013. Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten. Wiesbaden: Springer-VS.
Dahrendorf, Ralf. 1961. Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München: R. Piper & Co Verlag.
Degele, Nina, und Christian Dries. 2005. Modernisierungstheorie. Eine Einführung. München: Fink.
Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960). Digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. https://www.dwds.de/wb/dwb/wandel. Zugegriffen am 23.05.2019.
Dimbath, Oliver. 2016. Soziologische Zeitdiagnostik. Generation – Gesellschaft – Prozess. Paderborn: Fink.
Dimbath, Oliver, und Michael Heinlein, Hrsg. 2014. Die Sozialität des Erinnerns. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Wiesbaden: Springer VS.
Dimbath, Oliver, und Michael Heinlein. 2015. Gedächtnissoziologie. Paderborn: UTB/Fink.
Dimbath, Oliver, und Michael Heinlein, Hrsg. 2020. Katastrophen zwischen sozialem Erinnern und Vergessen. Zur Theorie und Empirie sozialer Katastrophengedächtnisse. Wiesbaden: Springer-VS.
Durkheim, Emile. 1893/1992. Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschafen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Esser, Hartmut. 2000. Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Campus.
Göbel, Andreas. 2004. Die Kulturwissenschaften zwischen Handlungs- und Systemtheorie. In Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Hrsg. Friedrich Jaeger und Jürgen Straub. Wiesbaden: Springer VS.
Guillén, M. F. 2001. Is globalization, civilizing, destructive of feeble? A critique of five key debates in the social science literature. Annual Review of Sociology 27:235–260.
Haag, Hanna. 2018. Im Dialog über die Vergangenheit. Tradierung DDR-spezifischer Orientierungen in ostdeutschen Familien. Wiesbaden: Springer VS.
Haag, Hanna. 2021. Intergenerationalität als Motor gesellschaftlichen Wandels? Über die Möglichkeiten eines ostdeutschen Generationenkonflikts. In (Ost) Deutschlands Weg, Teil II – Gegenwart und Zukunft, Hrsg. Sascha-Ilko Kowalczuk et al., 41–62. Bonn: bpb.
Haag, Hanna, Nina Leonhard, und Pamela Heß. 2017. Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis. Wiesbaden: Springer VS.
Halbwachs, Maurice. 1967. Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke.
Hartmann, Ludo M. 1923. Zur Soziologie der Revolution: Korreferat. In Verhandlungen des 3. Deutschen Soziologentages am 24. und 25. September 1922 in Jena, Hrsg. Ferdinand Tönnies, 24–39. Tübingen: Mohr.
Hirschman, Albert O. 1991. The rhetoric of reaction. Perversity, futility, jeopardy. Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press.
Howaldt, Jürgen, und Heike Jacobsen, Hrsg. 2010. Soziale Innovation: Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma. Wiesbaden: VS Verlag.
Howaldt, Jürgen, und Michael Schwarz. 2010. „Soziale Innovation“ im Fokus. Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungsprogramms. Bielefeld: transcript.
Ibert, Oliver, Tjorven Harmsen, und Verena Brinks. 2021. Gefragt in der Krise: Gut beraten unter Ausnahmebedingungen. IRS policy paper 4. https://leibniz-irs.de/fileadmin/user_upload/Transferpublikationen/2021/IRS-Policy-Paper_4-2021.pdf. Zugegriffen am 13.01.2022.
Jureit, Ulrike. 2005. Generationen als Erinnerungsgemeinschaften. In Generationen, Hrsg. U. Jureit und M. Wildt, 244–265. Hamburg: Hamburger Edition.
Kollmorgen, Raj. 2010. Transformation als Modernisierung. Eine Nachlese. In Transformation und Europäisierung, Hrsg. Moritz Brunn et al., 91–118. Münster/Berlin: LIT.
Koselleck, Rainhardt. 1989. Vergangene Zukunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Koselleck, Reinhart, und Christian Meier. 1975. Fortschritt. In Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Hrsg. Otto Brunner et al., Bd. 2, 351–423. Stuttgart: Klett-Cotta.
Leonhard, Nina. 2006. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus im Verlauf von drei Generationen. In Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten, Hrsg. J. Birkmeyer und C. Blasberg, 63–80. Bielefeld: Aisthesis-Verlag.
Leonhard, Nina. 2014. Gedächtnis, Wissen und soziale Integration. In Die Sozialität des Erinnerns. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies, Hrsg. O. Dimbath und M. Heinlein, 199–216. Wiesbaden: Springer VS.
Lorek, Melanie. 2016. Die „Wende“ in Lebenserzählungen ehemaliger DDR-Bürger. Zum Verhältnis von „autobiografischem Gedächtnis“ und „kollektivem Ereignis“. In Der Osten, Hrsg. S. Matthäus und D. Kubiak. Wiesbaden: Springer VS.
Mannheim, Karl. 1964. Wissenssoziologie. Neuwied: Luchterhand.
Marx, Karl. 1859/1981. Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin: Dietz.
Merkel, Wolfgang. 2010. Systemtransformation. Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Merkel, Wolfgang, Raj Kollmorgen, und Hans-Jürgen Wagener. 2019. Transformation and transition research: An introduction. In Handbook of political, social, and economic transformation, Hrsg. Wolfgang Merkel, Raj Kollmorgen, und Hans-Jürgen Wagener, 1–14. Oxford: Oxford University.
Ogburn, William F. 1969. Kultur und sozialer Wandel. Stuttgart: Luchterhand.
Ortlepp, Wolfgang. 2003. Zu Aspekten des Zusammenhangs zwischen Erfahrung und Gedächtnis in Zeiten gesellschaftlicher Transformationen. Ein Beitrag aus der Perspektive erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. In Postsozialistische Transformationen. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde, Hrsg. Raj Kollmorgen und Heiko Schrader, 241–262. Würzburg: Ergon.
Pareto, Alfredo. 1916. Allgemeine Soziologie. Tübingen.
Parsons, Talcot. 1971. Das System moderner Gesellschafen. München: Juventa.
Parsons, Talcott. 1951. The social system. New York: Free Press.
Popp, Reinhold, und Konrad Ott. 2020. Die Gesellschaft nach Corona: Ökologisch und sozial. Perspektiven für Deutschland & Österreich. Wien: Lit.
Punken, Mario. 2010. Transformation und Generationendifferenz. In Tanja Burgel, Hrsg. Generationen in den Umbrüchen postkommunistischer Gesellschaften, 84–99. Jena: Mitteilungen SFB 580.
Reißig, Rolf. 2009. Gesellschafts- Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Rosa, Hartmut. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Sandl, Marcus. 2005. Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. In Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Hrsg. Günther Oesterle, 89–119. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Schelkle, Waltraut, Wolf-Hagen Krauth, und Martin Kohli, Hrsg. 2000. Paradigms of social change: Modernization, development, transformation, evolution. Frankfurt: Campus.
Scheuch, Erwin K. 2003. Sozialer Wandel. Band 1: Theorien des sozialen Wandels. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Schimank, Uwe. 2005. Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne. Wiesbaden: Springer VS.
Schimank, Uwe. 2014. Planung versus Evolution: Wie verändert sich das Soziale? In Handbuch der Soziologie, Hrsg. Jörn Lamla, Henning Laux, Hartmut Rosa, und David Strecker, 116–130. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH.
Schmitt, Harald, und Marcus Sandl. 2002. Gedächtnis und Zirkulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. Und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Schumpeter, Joseph A. 1942/1987. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. UTB 172. Tübingen: Francke.
Sebald, G., und J. Weyand. 2010. Gedächtnis und Transformation. In Unsichere Zeiten, Hrsg. H. G. Soeffner. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Sebald, G., und Jan Weyand. 2011. Zur Formierung sozialer Gedächtnisse. Zeitschrift für Soziologie 40:174–189.
Weber, Max. 1905/1947. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Hrsg. Max Weber, Bd. I. Tübingen: Mohr.
Weber, Max. 1919/2002. Wissenschaft als Beruf. In Schriften 1894–1922, Hrsg. Dirk Kaesler. Stuttgart: Kröner Weber.
Welzer, Harald, Sabine Moller, und Kerstin Tschuggnall. 2002. Opa war kein Nazi. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.
Wolfrum, E. 1998. Geschichtspolitik und deutsche Frage. Der 17. Juni im nationalen Gedächtnis der Bundesrepublik (1953–89). Geschichte und Gesellschaft 24(3): 382–411.
Zapf, Wolfgang. 1989. Über soziale Innovationen. Soziale Welt 40(1/2): 170–183.
Zapf, Wolfgang. 2018. Sozialer Wandel. In Grundbegriffe der Soziologie, Hrsg. Johannes Kopp und Anja Steinbach, 499–505. Wiesbaden: Springer-VS.
Zinnecker, Jürgen. 2008. Die „transgenerationale Weitergabe“ der Erfahrung des Weltkrieges in der Familie. In Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, Hrsg. H. Radebold, 141–154. Weinheim: Juventa-Verlag.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Haag, H. (2023). Wandel. In: Sebald, G., et al. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26556-4_5
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-26556-4_5
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-26555-7
Online ISBN: 978-3-658-26556-4
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)