Zusammenfassung
Problemgruppenkonstruktionen basieren auf Differenzkonstruktionen, mit denen Minderheiten oder Subkulturen von einer als unproblematisch geltenden Mehrheitsbevölkerung unterschieden werden. Im diesen Beitrag wird auf der Grundlage von Befunden der historischen und gegenwartsbezogenen Antiziganismusforschung sowie einer eigenen qualitativen Studie gezeigt, dass es sich bei denjenigen, die Sinti und Roma bezeichnet werden, um einen Fall handelt, der in besonderer Weise dazu geeignet ist, die Funktionsweise von Problemgruppenkonstruktionen und deren Auswirkungen zu verdeutlichen. In Zusammenhang damit werden Schwierigkeiten aufgezeigt, mit denen eine Forschung konfrontiert ist, die darauf zielt, zur Analyse und Kritik der Problemgruppenkonstruktion Sinti und Roma beizutragen. Diese resultieren insbesondere daraus, dass eine Kritik von Formen der Ethnisierung und des Gruppismus im Fall von Sinti und Roma Selbstdefinitionen als ethnische Minderheit berücksichtigen muss, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet und abgrenzt. Für diese Selbstdefinition ist – insbesondere bei Sinti – das Wissen um die Geschichte und Gegenwart antiziganistischer Diskriminierung in Deutschland ein zentraler Bestandteil, was dazu führt, dass eine Forschung, die darauf zielt, verbreitete Zuschreibungen problematischer Eigenschaften durch empirisch fundiertes Wissen zu widerlegen, bislang kaum möglich ist.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
- 2.
Zur Unterscheidung von Realgruppen und imaginären Gruppen siehe etwa Scherr (2017a). So setzen sich reale Gruppen aus Menschen zusammen, die einander kennen und vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen und Praktiken eine Gruppenidentität – Vorstellungen über Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit – entwickeln; bei imaginären Gruppen besteht ein solcher Erfahrungs- und Kommunikationszusammenhang zwischen Personen, die einander kennen, nicht; kollektive Identitäten entstehen hier durch politische, religiöse, ethnische Vorstellungen über angenommene Gemeinsamkeiten bzw. existieren nur für diejenigen, die anderen solche Gemeinsamkeiten zuschreiben.
- 3.
Wissen im Sinne eines Für-wahr-Haltens von Annahmen, die als gültige Beschreibungen von Wirklichkeit wirksam werden.
- 4.
In einer Definition der Europäischen Grundrechteagentur wird dies wie folgt deutlich: „Der Terminus Roma ist eine Selbstbeschreibung und bezieht sich auf Personen, die sich selbst als Roma, Gypsies, Manouches, Kalderash, Machavaya, Lovari, Churari, Romanichal, Gitanoes, Kalo, Sinti, Rudari, Boyash, Ungaritza, Luri, Bashaldé, Romungro, Yenish, Xoraxai und mit weiteren Bezeichnungen beschreiben und die gesellschaftlich als „Zigeuner“ „wahrgenommen werden“ (EUMC 2006, S. 16).
- 5.
Die Selbstbeschreibung als Minderheit reklamiert eine durch Erfahrungen der Diskriminierung sowie die Reklamation spezifischer kultureller Merkmale geprägte kollektive Identität; sie verbindet sich mit der identitätspolitischen Forderung nach staatlich-politischer Anerkennung als nationale Minderheiten. Darauf wird im Weiteren noch etwas näher eingegangen.
- 6.
In Städten und Gemeinden, in denen größere Gruppen einheimischer Sinti in sozialräumlich separierten Wohngebieten leben, können aber auch Namen und Adressen zu entsprechenden Zuschreibungen führen.
- 7.
- 8.
Ähnliche Verträge sind inzwischen auch von anderen Bundesländern beschlossen worden.
- 9.
Gestützt wird diese Annahme auch durch die Vertreter*innen einer Forschung, die auf Skandalisierung des Anti-Roma-Rassismus ausgerichtet ist (s. etwa End et al. 2009).
- 10.
So grenzt sich etwa die Sinti Allianz deutlich gegen den Zentralrat der deutschen Sinti und Roma ab und reklamiert deutliche Unterschiede zwischen Sinti und Roma; s. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Sinti_Allianz_Deutschland.
- 11.
So etwa in der Kontroverse um die Veröffentlichungen des Journalisten Rolf Bauerdick 2013; s. http://zentralrat.sintiundroma.de/anmerkungen-zum-buch-von-rolf-bauerdick-zigeuner-begegnungen-mit-einem-ungeliebten-volk/.
Literatur
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.). (2014). Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Expertise_Bevoelkerungseinstellungen_gegenueber_Sinti_und_Roma_20140829.html. Zugegriffen: 12. März 2018.
Bauerdick, R. (2013). Zigeuner: Begegnungen mit einem ungeliebten Volk (2. Aufl.). München: Deutsche Verlags Anstalt.
Bogdal, K.-M. (2011). Europa erfindet die Zigeuner. Berlin: Suhrkamp.
Brubaker, R. (2007). Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition.
Chassé, K.-A. (1989). Überlebensstrategien der Armutsbevölkerung seit 1807. Weinheim: Beltz.
Chassé, K.-A. (2010). Unterschichten in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag.
End, M. (2013). Gutachten Antiziganismus. Zum Stand der Forschung und der Gegenstrategien. Marburg: I-Verb.de.
End, M. (2014). Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Heidelberg: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.
End, M., Herold, K., & Robel, Y. (2009). Antiziganistische Zustände – Eine Einleitung. Virulenzen des Antiziganismus und Defizite in der Kritik. In M. End (Hrsg.), Antiziganistische Zustände: Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments (S. 9–22). Münster: Unrast.
EUMC. (2006). Roma and travellers in public education – An overview of the situation in the EU member states. Wien: EUMC.
EVZ. (2016). Gemeinsam für eine bessere Bildung – Empfehlungen zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland (2. Aufl.) Berlin: Stiftung Erinnerung, Verantwortung & Zukunft.
Fings, K. (2016). Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit. München: Beck.
Koch, U. (2005). Herstellung und Reproduktion sozialer Grenzen: Roma in einer westdeutschen Großstadt. Wiesbaden: VS Verlag.
Lucassen, L. (1996). „Zigeuner“. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland (1700–1945). Köln: Böhlau.
Mappes-Niediek, N. (2012). Arme Roma, böse Zigeuner (2. Aufl.). Bonn: Christoph Links Verlag.
Matter, M. (2015). Nirgendwo erwünscht: Zur Armutsmigration aus Zentral- und Südosteuropa in die Länder der EU-15 unter besonderer Berücksichtigung von Angehörigen der Roma-Minderheiten. Frankfurt a. M: Wochenschau.
Mengersen, O. v. (Hrsg.). (2015). Sinti und Roma. Eine Deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Negnal, D. (2016). Die Konstruktion einer Problemgruppe. Eine Ethnografie über russischsprachige Inhaftierte im Jugendstrafvollzug. Weinheim: Beltz Juventa.
Pissari, M. (2014). The suffering of the Roma in Serbia during the Holocaust. Belgrade: KIZ Centar.
Radtke, F.-O. (2017). Kulturen sprechen nicht. In T. Bohl, J. Budde, & M. Rieger-Ladich (Hrsg.), Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht (S. 61–77). Stuttgart: UBT.
Rose, R. (2011). Gleichberechtigte Teilhabe für Sinti und Roma in Deutschland und in Europa nicht nur auf dem Papier. Bd. 7. Schriftenreihe des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
Scherr, A. (2000). Ethnisierung als Ressource und Praxis. Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 30(120), 399–414.
Scherr, A. (2017a). Soziologische Diskriminierungsforschung. In A. Scherr, A. El-Mafaalani, & G. Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung (S. 39–58). Wiesbaden: Springer VS.
Scherr, A. (2017b). Anti-Roma-Rassismus. In K. Fereidooni & M. El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 307–318). Wiesbaden: Springer VS.
Scherr, A. (2018). Jugendkriminalität soziale Benachteiligungen und Belastungen. In B. Dollinger & H. Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität (3. Aufl., S. 281–296). Wiesbaden: Springer VS.
Scherr, A., & Sachs, L. (2017). Bildungsbiografien von Sinti und Roma. Erfolgreiche Bildungsverläufe unter schwierigen Bedingungen. Weinheim: Beltz Juventa.
Scherr, A., & Schäuble, B. (2008). „Ich habe nichts gegen Juden, aber …“. Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Berlin: Amadeu-Antonio-Stiftung.
Solms, W. (2008). Zigeunerbilder. Würzburg: Königshausen und Neumann.
Strauß, D. (Hrsg.). (2011). Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Marburg: I-Verb.de.
Supik, L. (2014). Statistik und Rassismus: Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität. Frankfurt: Campus.
Vertrag des Landes Baden-Württemberg mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg e. V. Staatsvertrag 2013. https://zentralrat.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2018/03/vertrag-des-landes-baden-wuerttemberg-mit-dem-verband-deutscher-sinti-und-roma-landesverband-baden-wuerttemberg.pdf. Zugegriffen: 03 Juni 2019.
Widmann, P. (2001). An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik. Berlin: Metropol.
Wippermann, W. (1997). ‚Wie die Zigeuner‘. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin: Elefanten Press.
Zimmermann, M. (Hrsg.). (2007). Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Steiner.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2019 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Scherr, A., Sachs, L. (2019). Sinti und Roma als Problemgruppe? Problematisierung und Entproblematisierung im Kontext von Nicht-Wissen und politischer Correctness. In: Negnal, D. (eds) Die Problematisierung sozialer Gruppen in Staat und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22442-4_14
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-22442-4_14
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-22441-7
Online ISBN: 978-3-658-22442-4
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)