FormalPara Überblick
  • Netzwerke bestehen aus Akteuren, die durch Beziehungen miteinander verbunden sind und dessen Verbindungen sich zu unterschiedlichen sozialen Strukturen zusammensetzen.

  • Man geht davon aus, dass soziale Netzwerke auf die Akteure wirken und Akteure wiederum die Netzwerke beeinflussen.

  • Es findet sich eine Unterscheidung zwischen Gesamtnetzwerken und egozentrierten Netzwerken. Bei der Gesamtnetzwerkanalyse werden die jeweiligen Akteure und deren Relationen innerhalb vordefinierter Grenzen betrachtet. Bei egozentrierten Netzwerken steht die interpersonale Vernetzung eines bestimmten Akteurs im Zentrum der Analyse.

  • Methodisch kann zwischen qualitativer – häufig bestehend aus visuellen Zugängen – und quantitativer Netzwerkforschung differenziert werden. Der Schwerpunkt in der Gesundheitsforschung liegt bisher eher auf den quantitativen Ansätzen.

  • Getestete Verfahren der Netzwerkanalyse in der Gesundheitsforschung existieren so nicht. Forschungen müssen daher immer an den Gegenstand angepasst werden.

  • Der zeitliche Aufwand für die Erhebung von Netzwerkdaten kann sehr hoch sein, daher sollten Netzwerkbefragungen im Pretest immer getestet werden.

1 Was ist ein Netzwerk?

„Netzwerke“ scheinen in modernen Gesellschaften omnipräsent zu sein (z. B. soziale Online-Netzwerke wie Facebook und Twitter oder auch kriminelle und terroristische Netzwerke), jedoch bleiben der Begriff und seine Bedeutung im Alltag häufig amorph. Um mit dem Konzept wissenschaftlich adäquat arbeiten zu können, werden in diesem Kapitel der Begriff, unterschiedliche Formen der Netzwerkanalyse sowie Erhebungs- und Auswertungsstrategien vorgestellt. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über verschiedene Verfahren und wichtige Literaturhinweise gegeben, auf die bei Bedarf vertiefend zurückgegriffen werden kann.

Das Axiom der Netzwerkforschung geht davon aus, dass Elemente – sogenannte Knoten – mit anderen Elementen Beziehungen – sogenannte Kanten – eingehen können. Die kleinste Einheit solcher sozialen Beziehungen ist die Dyade, die Relation zwischen zwei Akteuren. Dyaden wiederum existieren nicht solitär, sondern verbinden sich zu größeren Netzwerken, wo sie auch bestimmte Strukturen ausbilden. Eine einheitliche Definition von (sozialen) Netzwerken existiert jedoch nicht. Wie ein Netzwerk definiert wird hängt auch vom zu untersuchenden Gegenstand ab.

In einer sehr allgemeinen Begriffsbestimmung kann ein Netzwerk als „[…] abgegrenzte Menge von Knoten oder Elementen und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden sogenannten Kanten“ verstanden werden (Jansen 2006, S. 58). Diese Definition kann sowohl auf soziale wie auch nicht-soziale, technische oder physisch-materielle Elemente wie z. B. Straßen- oder Stromnetzwerke angewandt werden. Neben dieser formalen Bestimmung von Netzwerken existieren Begriffsbestimmungen, die stärker soziales Handeln und den gegenseitigen Einfluss von Netzwerken und Handeln in den Fokus stellen. Als Beispiel kann hier Clyde Mitchell genannt werden, der Netzwerke definiert als „[…] as a specific set of linkages among a defined set of persons, with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used to interpret the social behaviour of the persons involved“ (Mitchell 1969, S. 2).

Netzwerke sind vom soziologischen Begriff der Gruppe zu unterscheiden, da deren Existenz durch Grenzziehungen, nicht durch prinzipiell offene Relationen, bestimmt wird: „(A) fundamental part of the concept of a group is the existence of boundaries“ (Borgatti und Halgin 2011, S. 1169). Das Konzept unterscheidet somit zwischen In- und Outgroup. In einigen Fällen werden Gruppen aber auch als Netzwerke bezeichnet, obwohl soziale Beziehungen innerhalb der Gruppe nicht explizit auf dyadischer Ebene untersucht, sondern eher vermutet werden. Gruppen können damit auch als eine Unterkategorie von besonders dichten Netzwerken verstanden werden. „(U)nlike networks, [groups] depend upon the merging of social relations within a shared space and with a recognizable culture. Although groups are distinguished from networks through their boundaries, pasts, and identifications, groups are in some regards dense networks“ (Fine 2012, S. 168).

Anders als bei klassischen sozialwissenschaftlichen Verfahren werden in der Netzwerkanalyse neben persönlichen Attributen (z. B. Geschlecht, Alter, Einkommen) noch relationale Attribute (z. B. Positionen von Akteuren in Netzwerken) in die Analyse einbezogen. Es wird damit davon ausgegangen, dass die Struktur der sozialen Netzwerke (z. B. Unterstützungsnetzwerke) und soziale Outcomes (z. B. Gesundheitsverhalten, Gesundheit) voneinander abhängig sind und sich gegenseitig beeinflussen.

Netzwerke bestehen also aus sogenannten Knoten (z. B. Personen oder kollektive Akteure) und Beziehungen, den sogenannten Kanten (z. B. Freundschaft, Küssen, Weitergabe von Viren), über welche die Knoten verbunden sind.Footnote 1 Ziel der Netzwerkforschung ist es, Kausalaussagen zu der Wirkung von Beziehungen auf die Akteure (oder umgekehrt) zu treffen oder die Akteure und ihre Beziehungen beschreiben zu können.

2 Idealtypen der Netzwerkforschung

Auch wenn ein Netzwerk allgemein als Set aus Knoten und Kanten beschrieben werden kann, zeigen sich hinsichtlich des empirischen Vorgehens, bei der Erhebung wie auch der Auswertung, deutliche Unterschiede. Die Netzwerkforschung kann idealtypisch entlang zweier Dimensionen differenziert werden (Gamper und Schönhuth 2016): Entlang einer strukturellen Dimension lassen sich Gesamtnetzwerke und egozentrierte Netzwerke unterscheiden, entlang einer methodischen Dimension quantitative und qualitative Verfahren der Netzwerkforschung. In der empirischen Praxis kann von diesen Idealtypen selbstverständlich abgewichen werden. Beispielsweise findet man Forschungsarbeiten, die sowohl auf qualitative als auch quantitative Methoden gleichzeitig zurückgreifen und Daten durch triangulieren miteinander in Verbindung setzen (Dominguez und Hollstein 2014).

2.1 Gesamtnetzwerke und egozentrierte Netzwerke

Bei der Gesamtnetzwerkanalyse werden die jeweiligen Knoten und deren Kanten innerhalb vordefinierter Grenzen betrachtet. Der Fokus liegt auf der internen Vernetzung der Akteure in diesem vorbestimmten Bereich (z. B. Sexpartner*innen in einer Schule, Weitergabe von Krankheiten in einem Dorf, Einfluss von Rauchverhalten in einem Verein). Im idealtypischen Fall werden die Relationen außerhalb dieser definierten Grenzen nicht in die Analyse miteinbezogen. Somit liegt der Forschungsschwerpunkt auf einer bestimmten Anzahl von Akteuren und deren ganz spezifischen Beziehungen (Jansen 2006). Die Grenzziehung sollte gut begründet und beschrieben werden, da jede Grenzziehung Auswirkung auf die Daten und Ergebnisse hat. Grenzen können z. B. aufgrund bestimmter Theorien oder auch empirischer Vorkenntnisse bestimmt werden. In der Forschung gibt es jedoch auch pragmatische Grenzziehungen, die dem Forschungsfeld geschuldet sind (vertiefend: Laumann et al. 1983). Meist werden Akteure (z. B. Schüler*innen) zu ihren Verbindungen zu anderen Personen (z. B. Mitschüler*innen) in einem vordefinierten Bereich (z. B. Schulklasse) befragt. Neben vorgefertigten Namenslisten, mit deren Hilfe die betreffenden Kontaktpersonen nur ausgewählt werden müssen, können die Befragten z. T. Namen der Kontaktpartner auch selbst bestimmen. Hierbei müssen diese Kontaktpersonen jedoch Teil der vordefinierten Menge (z. B. Schulklasse) sein. Neben den Beziehungsparametern (z. B. Freundschaftsbeziehungen, Liebesbeziehungen) werden den Interviewten weitere Fragen zur eigenen Person gestellt (z. B. Alter, Gesundheitsstand, Body-Mass-Index). Alle erhobenen Beziehungen und Attribute werden dann in ein Gesamtnetzwerk überführt. In anderen Fällen, z. B. im Internet, liegen Daten über die Beziehungen (z. B. Twitter, Facebook) bereits digital vor. Ein eher selten angewendetes Verfahren zur Datenerhebung ist zudem die teilnehmende/nicht-teilnehmende Beobachtung. Hier werden Beziehungen zwischen Akteuren auf Basis von Beobachtungen registriert und festgehalten wie etwa die Weitergabe von Zigaretten auf den Schulhof. In vielen Studien werden diese Ergebnisse visuell dargeboten bzw. abgebildet.

Ein prominentes Beispiel für eine Gesamtnetzwerkanalyse aus dem Bereich der Gesundheitsforschung ist die Untersuchung von Romantik- und Sexualnetzwerken in der „Jefferson High School“ in den USA (Bearman et al. 2004). Die Studie von 2004 nimmt das Ansteckungsrisiko von Geschlechtskrankheiten bei Jugendlichen und die Möglichkeit der Prävention in den Fokus. Hierbei wurde das Gesamtnetzwerk aus ca. 800 Schüler*innen der „Jefferson High School“ in einer Kleinstadt in den USA erhoben. Die Knoten sind in diesem Fall die Schüler*innen der Schule. Die Kanten bilden die Romantik- und Sexualbeziehungen während der letzten 18 Monate zwischen ihnen ab. Hierbei gaben 573 Schüler*innen an, eine solche oder mehrere solche Beziehungen eingegangen zu sein.

Durch unterschiedliche Möglichkeiten, Beziehungen mit anderen zu schließen, ergeben sich verschiedene Formen von Netzwerken. Diese reichen von einfachen Dyaden über Triaden bis hin zu einer großen Netzwerkkomponente mit vielen Akteuren, die auf unterschiedliche Weise miteinander verwoben sind (siehe Abb. 1). Durch den Vergleich mit zufällig erzeugten Netzwerken konnten die Forscher feststellen, „that the observed structures differ radically from the randomly generated networks. Specifically, we find that real sexual and romantic networks are characterized by much longer contact chains and far fewer cycles.“ (Bearman et al. 2004, S. 44). Dies hat zur Folge, dass viele Personen (hier knapp 50 %) auf indirekten Weg miteinander verbunden sind und somit die Zahl der Sexualbeziehungen nicht in ihrer Gesamtheit überschauen können. Eine indirekte Beziehungskette ergibt sich zum Beispiel, wenn ein erkrankter Schüler A eine Beziehung mit Schülerin B hatte und diese dann eine weitere Beziehung mit Schüler C eingeht – wenn Schüler C nichts von der Beziehung zwischen A und B erfährt, ahnt C nichts davon, dass B die Erkrankungen von A an ihn übertragen könnte. Durch diese Art von Vernetzung kann sich eine Krankheit schnell übertragen und eine große Anzahl von Schüler*innen infizieren. Um Ansteckungen zu vermeiden, ist es daher wichtig, das große Cluster „auseinanderzubrechen“, sodass das Virus in seiner Verbreitung gestoppt werden kann. Hierzu muss das Verhalten einiger Schüler*innen geändert werden (z. B. durch den Einsatz von Verhütungsmitteln), da dann das Cluster in einzelne Ketten zerfällt und die Ansteckung dadurch reduziert wird.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Bearman et al. 2004, S. 58)

Sexual- und Romantikbeziehungen von Schüler*innen innerhalb der Jefferson High School.

Wie das Beispiel verdeutlicht, ist die Netzwerkegrenze sozusagen das „Schulgelände“ der Jefferson High School. Analysiert werden daher auch „nur“ die Romantik- und Sexualbeziehungen der Schüler*innen dieser Schule. Sexual- und Romantikbeziehungen zu Personen außerhalb der Schule, wie z. B. Schüler*innen in einer anderen Schule, werden hier nicht berücksichtigt. Hinzu kommt, dass andere Beziehungsarten (z. B. Freundschaft), jenseits der Sexual- und Romantikbeziehungen, nicht in die Analyse mit einfließen.

Die egozentrierte Netzwerkforschung unterliegt einer etwas anderen Logik. Hier steht die interpersonale Vernetzung eines bestimmten Akteurs, dem Ego, im Zentrum der Betrachtung. Aus der Sicht des Befragten ( = Ego) werden bestimmte Personen und deren Beziehungen untereinander erfragt (Burt 1984; McCallister und Fischer 1978; Wellman 1979). Das egozentrierte Netzwerk besteht aus Beziehungen des befragten Akteurs (Ego) zu anderen Akteuren in seinem Netzwerk, den sogenannten Alteri, mit denen er direkt verwoben ist. Zum Teil wird Ego in den Studien auch nach zu Relationen zwischen den Alteri befragt.

Zuerst wird Ego zu seiner subjektiven Sicht auf seine Beziehungen interviewt. Hierbei muss er/sie Personen nennen, zu denen er bestimmte, meist vom Forscher vordefinierte Beziehungen (z. B. zusammen rauchen, Sexualbeziehung, Spritzenaustausch) unterhält. Diese Fragen werden auch Akteursgeneratoren (dazu gehören z. B. Namensgeneratoren, Ressourcengeneratoren, Positionsgeneratoren) genannt, da durch diese Netzwerkakteure generiert werden. Eine vorgegebene Liste von Namen, wie bei der Gesamtnetzwerkanalyse, existiert nicht. Dem Forscher sind die Namen der Kontaktpersonen vorab nicht bekannt und eine klare Grenzziehung des Netzwerks fehlt. Daran anknüpfend wird Ego aufgefordert, weitere Informationen zu den genannten Alteri (sogenannte Akteursinterpretatoren) und zu seiner eigenen Person zu nennen. Das können z. B. soziodemografische Angaben, Rauchverhalten oder der Gesundheitszustand sein. In vielen Studien werden Ego auch Fragen zu den Beziehungen zwischen den Alteri gestellt, z. B. inwieweit die Alteri in Kontakt untereinander stehen. Dies ist nicht unbedingt nötig, wenn bestimmte statistische Maßzahlen oder Fragestellungen nicht als essenziell für die eigene Fragestellung betrachtet werden (Herz 2012; Wolf 2006, 2010). Anders als bei der Gesamtnetzwerkanalyse, wo die Kontaktpersonen durch die Eingrenzung vorgegeben sind, ist hier der/die zu Befragende bei seiner/ihrer Nennung frei. Hinzu kommt, dass die Informationen über die Alteri (z. B. Geschlecht, Gesundheitszustand) von Ego stammen und nicht von den Alteri selbst.

Als Beispiel soll hier eine Längsschnittstudie von Perry und Pescosolido (2015) angeführt werden. Hierbei wurden ca. 171 Personen (Egos) nach ihren Alteri befragt, die im Falle von Krankheit, hier psychische Problemen, kontaktiert wurden. Das Forschungsinteresse galt der Aktivierung der Unterstützungsleistung durch die Alteri und welche Art von Netzwerken, die für Gesundheitsfragen in Anspruch genommen wird. Die Stichprobe bestand aus einer Gruppe von Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen und einer Gruppe mit weniger schweren Störungen, die zum ersten Mal psychologisch behandelt wurden. In der Studie wurde folgender Akteursgenerator (hier speziell ein Namensgenerator) verwendet: „I’m interested in who, among all of the people in your life, you talk to about health problems when they come up. Who are the people that you discuss your health with or you can really count on when you have physical or emotional problems?“ (Perry und Pescosolido 2015, S. 119). Anders als bei der Studie von Bearman et al. (2004) geht es hier nicht um die Verbindung der Akteure innerhalb einer gewissen Grenze und zwischen diesen Personen, sondern um den Effekt von Personen auf das gesundheitliche Wohlbefinden einzelner Egos vor dem Hintergrund ihrer ganz persönlichen Netzwerke. In anderen Worten: Welche Netzwerke können dem Einzelnen helfen, dass er/sie sich wohler fühlt. Ziel war es, generelle Aussagen zu treffen. Wie die Studie zeigt, spielen Netzwerke besonders vor dem Hintergrund der emotionalen Unterstützung und Informationsweitergabe eine wichtige Rolle:

„Social networks have the potential to serve as conduits of general emotional support and information. However, according to our findings, it is not these general support processes that drive recovery outcomes. Rather, the key factor appears to be activation of particular kinds of people for health discussion. This indicates that achieving a state of recovery may be facilitated by cultivating a social safety net that can provide targeted, health-related advice, affirmation, and instrumental aid that buoys the treatment process and permits gains in self-sufficiency and productivity“ (Perry und Pescosolido 2015, S. 126).

In der quantitativen egozentrierten Netzwerkforschung wird meist auf Visualisierungen verzichtet, da hier mehrere einzelne Netzwerke (in diesem Beispiel wären es 171 einzelne Netzwerke) visualisiert werden müssten und der Mehrwert eher als gering eingeschätzt werden kann. Anders ist dies bei der visuellen bzw. qualitativen egozentrierten Netzwerkforschung, auf die später noch eingegangen wird (siehe Abschn. 2.2).

Gesamt- und egozentrierte Netzwerkanalyse unterscheiden sich somit. Zwar ist es auch möglich, aus Gesamtnetzwerken einzelne egozentrierte Netzwerke zu isolieren, diese sind jedoch immer nur Subnetzwerke aus einem vordefinierten Bereich, der vom Forscher festgelegt wurde. Umgekehrt ist dieser Umwandlungsprozess nur schwer bis gar nicht möglich. Im Forschungsprozess sollte sich die Forscher*innen daher für eines der beiden Verfahren entscheiden. Diese Entscheidung ist essenziell, da beide Verfahren sich hinsichtlich ihrer jeweiligen Datenerhebung und zum Teil auch in der Datenanalyse unterscheiden, wie später nochmals detaillierter gezeigt wird (siehe Abschn. 2.2). Die Auswahl für eines der beiden Verfahren sollte stark an der Forschungsfrage orientiert sein und auch den Zugang zum Feld berücksichtigen.

Wenn die Forschungsfrage auf die interne Vernetzung von Akteuren abzielt, wie beispielsweise die Weitergabe von Zigaretten von Schülern und Schülerinnen einer Schule, ist die Gesamtnetzwerkanalyse das geeignetere Mittel. Bei Gesamtnetzwerken liegt der Fokus auf einer gut zu isolierenden Gruppe und deren interne Vernetzung. Setzt man den Schwerpunkt auf den Einfluss von Freunden und Freundinnen auf den Drogenkonsum von Obdachlosen, wäre die egozentrierte Netzwerkanalyse besser geeignet, da in diesem Fall die Grenze schwer zu ziehen ist und nicht nur die interne Verflechtung interessiert. Auch bezüglich der Auswertungsverfahren ergeben sich Differenzen. Beispielsweise sind nicht alle statistischen Messmethoden für die egozentrierte Netzwerkanalyse anwendbar (siehe Abschn. 2.2).

Es kann gelten:

  • Immer wenn das Forschungsinteresse auf die interne Struktur eines Netzwerks gerichtet ist und die Verbindungen zwischen einer vorbestimmten Menge an Akteuren bekannt sind oder von Interesse, ist die Gesamtnetzwerkanalyse besonders gut geeignet (Schnegg und Lang 2002). Hier bestimmt der Forscher oder die Forscherin, wer in das Sample gehört und wer nicht.

  • Die egozentrierte Netzwerkforschung kommt zum Einsatz, wenn die Beziehungen nicht nur zwischen Akteuren in einem bestimmten vordefinierten Raum analysiert werden sollen, sondern wenn das Interesse darüber hinaus reicht. Hier wird zwar das fokale Ego, durch ein Stichprobeverfahren ausgewählt, welche Personen (Alteri) von Ego genannt werden, ist jedoch offen und wird nicht vorgegeben. Gut geeignet ist das Verfahren besonders, wenn man eine bestimmte Gruppe in den Fokus stellt und deren allgemeine Einbettung in das soziale Umfeld betrachten möchte, ohne dieses zuvor definiert zu haben.

2.2 Quantitative und qualitative Netzwerkanalyse

Neben der Unterscheidung von egozentrierten und Gesamtnetzwerkanalysen, kann auch eine Differenzierung auf dem Kontinuum zwischen offener/qualitativer und standardisierter/quantitativer Forschung vorgenommen werden. Während die soziale Netzwerkanalyse der letzten 40 Jahre überwiegend standardisiert und quantitativ geprägt war, werden zwischenzeitlich (wieder) häufiger weniger standardisierte Forschungsansätze für die soziale Netzwerkforschung (Hollstein und Straus 2006; Straus 2002) diskutiert sowie Konzeptionierungen von Netzwerkanalysen als Methodenkombinationen aus offenen und standardisierten Zugängen vorgelegt (Dominguez und Hollstein 2014; Hollstein und Straus 2006; Gamper et al. 2012).

Bei der standardisierten Netzwerkforschung stehen sogenannte statistische Strukturbeschreibungen oder Kausalzusammenhänge im Mittelpunkt des Interesses, dazu zählen: Verteilungseigenschaften von Merkmalen, die Prüfung von Hypothesen und Erklärungsmodellen, die Aufdeckung von Zusammenhängen und auch die Entwicklung alternativer Hypothesen und Erklärungsmuster. Anders als bei der klassischen Forschung, in denen Attribute (z. B. Alter, Geschlecht) und deren Zusammenhänge untersucht werden, werden hier auch Beziehungsaspekte in die Analyse einbezogen oder stehen sogar im Zentrum der Forschung. Mithilfe von strukturierten und standardisierten Daten werden vor allem Strukturmaße wie beispielsweise Netzwerkgröße, Zentralität, Heterogenität und Dichte berechnet (Jansen 2006; Wasserman und Faust 1994; Scott 2000). Zum Verständnis werden im nächsten Schritt einige Maßzahlen kurz erörtert. Auf eine mathematische Herleitung wird in dieser Einführung verzichtet. Gute Einführungsbücher gibt es z. B. von Wasserman und Faust (1994) oder von Scott (2000), die immer wieder aktualisiert und auf den neuesten Stand der Forschung gebracht werden.

Zuerst kann zwischen Netzwerkparametern, also Aspekten die das ganze Netzwerk umfassen, und Maßzahlen, die Akteure eines Netzwerkes betreffen, sogenannten Akteursparametern, unterschieden werden. Für die netzwerkbezogenen Maßzahlen können z. B. die Netzwerkgröße, Dichte oder auch Cliquenberechnungen angeführt werden.Footnote 2 Die Netzwerkgröße ist wohl das einfachste Maß. Hier werden die Akteure in einem Netzwerk summiert. Unter der Dichte versteht man den Grad der Verbundenheit des Netzwerkes, welches sich aus den Verbindungen der einzelnen Akteure untereinander ergibt. Die maximale DichteFootnote 3 ist bei einem Wert von 1 erreicht, d. h., wenn jeder mit jedem im Netzwerk verbunden ist (Seidmann 1983; Wasserman und Faust 1994). Der Wert 0 ist der Minimalwert und bedeutet, dass keine Beziehungen in einem Netzwerk existieren. Bereits Bott (1957) unterschied zwischen „tightly-knitted“ und „loosely-knitted“ Netzwerken und meint damit die Vernetzung der Netzwerkmitglieder untereinander. In einem dichten Netzwerk sind viele Akteure untereinander verwoben. Hier geht man davon aus, dass eine hohe Dichte beispielsweise zu einer starken Kontrolle führen kann oder sich Krankheiten (z. B. durch Viren) schneller verbreiten können. Als Beispiel kann die oben erwähnte Weitergabe von sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten im Sexual- und Romantiknetzwerk der Jefferson High School angeführt werden.

Neben Maßzahlen, die sich auf das ganze Netzwerk beziehen, existieren auch solche, die den einzelnen Akteur betreffen. Zu nennen wären hier die sogenannten Zentralitäts- bzw. ZentralisierungsmaßeFootnote 4: diese gehen der Frage nach, wie zentral die jeweiligen Akteure in einem Netzwerk sind. Allerdings wurde bislang noch keine Einigkeit erreicht, wie Zentralität konzeptionell zu erfassen und wie sie zu messen ist: „There is certainly no unanimity on exactly what centrality is or on its conceptual foundations, and there is little agreement on the proper procedure for its measurement“ (Freeman 1979, S. 217). Demzufolge gibt es unterschiedliche Formen und Berechnungsarten von Zentralität. Einige fokussieren Aspekte wie beispielsweise Kontrolle, Macht, Prestige, andere den Informationsfluss und wiederum andere nehmen die Erreichbarkeit von Personen in einem Netzwerk in den Fokus. Die einfachste Form ist die Degree-Zentralität. Hier ist der Akteur der zentralste, der die meisten Beziehungen zu anderen Akteuren im Netzwerk hat. Bei der Betweenness-Zentralität ist der Akteur zentral, der am häufigsten auf den kürzesten Wegen zwischen zwei Akteuren im Netzwerk liegt. Bei der Closeness-Zentralität hingegen ist der Knoten zentral, der die kürzesten Distanzen zu allen anderen Knoten hat. Bei der Eigenvektor-Zentralität ist der Akteur zentral, der Beziehungen zu Akteuren hat, die wiederum sehr zentral sind.Footnote 5

Neben der Unterscheidung zwischen Netzwerkparametern und Akteursparametern kann auch (idealtypisch) zwischen strukturbeschreibenden und statistischen Modellen, die Kausalzusammenhänge prüfen, differenziert werden. Die strukturbeschreibenden Verfahren beschreiben die Struktur des ganzen Netzwerkes oder fokussieren wenige Teile eines Netzwerkes. Ein Verfahren wurde bereits vorgestellt, die sogenannte Dichte. Daneben existieren Maße wie z. B. Cliquenanalyse, Cluster- oder auch Komponentenanalyse, Blockmodellanalyse oder auch der Triadenzensus. Cliquen-, Cluster- und Komponentenverfahren versuchen aus einem Netzwerk Subgraphen herauszufiltern, deren interne Dichte höher ist als die Dichte des gesamten Netzwerks (Luce 1950; Moody und White 2003). Auch in diesem Fall existieren unterschiedliche Verfahren wie z. B. n-core, n-clan und n-cliques Verfahren. N-clique ist z. B. ein maximaler Subgraph bei dem die Pfaddistanz, also die Anzahl der Akteure über die alle Knoten im Netzwerk miteinander verbunden sind, nicht größer als ein vorher festgelegter Wert n ist (Bron und Kerbosch 1973). Somit können Gruppen hierarchisch, je nach Distanz, herausgefiltert und unterschieden werden. Das Komponentenverfahren ist ähnlich. Unter Komponenten versteht man im Allgemeinen Subgraphen, also Teile eines Netzwerks, die aus Knoten bestehen und auch untereinander verwoben sind. Eine starke verbundene Komponente ist eine Gruppe von Knoten, in denen alle Knoten durch gerichtete Kanten (z. B. alle Personen in einem Teil des Netzwerks leihen sich Zigaretten) vernetzt sind. Es gibt auch schwach verbundene Komponenten, hier ist jeder Knoten durch genau einen Pfad verbunden. Für ungerichtete Netzwerke, bei denen die Richtung einer Beziehung nicht gegeben ist (z. B. „Treffen Sie sich mit der Person XY gelegentlich?“) gibt es keine stark oder schwach verbundene Komponente. Hier spricht man lediglich von verbundenen Komponenten (De Nooy et al. 2011, S. 77). Ein weiteres exploratives Verfahren, welches auf eine datenreduzierende Darstellung von Knoten und Kanten basiert, ist die Blockmodellanalyse. Bei der Blockmodellanalyse werden Akteure und Beziehungen zu Akteursgruppen und Beziehungsbündeln geclustert (Heidler 2008) und bilden somit ein reduziertes Abbild der Netzwerkstruktur. Durch Clusterung können Hierarchien, Zentrum-Peripherie-Gruppierungen oder auch Cliquen visuell dargeboten und analysiert werden. Hier wird zwischen a-posteriori Blockmodellen, in denen Akteure aufgrund ähnlicher Positionen im Netzwerk gruppiert werden, und a-priori Blockmodellen, in denen Akteure anhand von Eigenschaften gruppiert werden, unterschieden (Heidler 2008). Das statistische Verfahren des Triadenszensus geht auf Heider (1958) zurück (siehe auch Kap. „Netzwerktheorie(n)“). Dabei wird überprüft, wie häufig geschlossene Triaden – drei, jeweils direkt miteinander verbundene Akteure – in einem Netzwerk vorkommen. In einem gerichteten Netzwerk können je nach Beziehungsrichtung und Beziehungsart 16 verschiedene Triadentypen (Isormophieklassen) differenziert werden (Holland und Leinhardt 1970). Die Beschriftung der Triadentypen basiert auf dem MAN-Schema: Mutual, d. h. eine wechselseitige Beziehung, Assymmetric, d. h. eine einseitige Beziehung und Null, d. h. keine Beziehung. Aus dem signifikant vermindert oder erhöhten Vorhandensein bestimmter Triadentypen kann auf spezifische Mikrostrukturmechanismen in sozialen Netzwerken geschlossen werden, z. B. ob ein Netzwerk eher hierarchisch oder flach strukturiert ist. In der Abb. 2 sieht man eine vollständige Triadenzählung, die alle 16 Triadenkonfigurationen zeigt. Hier wird das MAN-Schema angewandt. Sieben Dreieckskonfigurationen, in denen alle drei Knoten entweder durch asymmetrische oder gegenseitige Kanten verbunden sind, sind schwarz dargestellt. Der Gewichtungsfaktor (wu) für jede der sieben Dreieckskonfigurationsarten basiert auf der Wahrscheinlichkeit, dass das Dreieck transitiv ist, mit der Annahme, dass jedes Individuum in einer gegenseitigen Dyade die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, dominant zu sein.

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Shizuka und McDonald 2012, S. 934)

Triadenszensus und das MAN-Schema (Mutual, Assymmetric, Null).

Hinsichtlich der stochastischen Verfahren, werden hier Exponential Random Graph Models (ERGMs) und SIENA vorgestellt (zum Vergleich der beiden Verfahren siehe auch Heidler und Gamper 2017). Exponential Random Graph Models sind stochastische Modelle von empirischen Netzwerken (Robins et al. 2007). Ziel ist es, mit wenigen lokalen Parametern strukturelle Zusammenhänge zu prüfen (Heidler und Gamper 2017). Es lässt sich ein multivariates Modell erstellen, in welchem Parameter, wie z. B. Reziprozität, Transitivität, Homophilie und Zentralität auf Signifikanz geprüft werden. Abhängige Variablen sind hierbei die Kanten, während die unabhängigen Variablen sowohl Attribute (z. B. Alter, Geschlecht) als auch Beziehungen (z. B. strong oder weak ties) sein können. Die Basis der ERGMs ist ein Markov-Chain-Monte-Carlo-Schätzprozess, mit dem eine Sequenz an Zufallsnetzwerken generiert wird, die schrittweise kleine Änderungen von unterschiedlichen Parametern beinhalten.

SIENA wurde für longitudinale Daten konstruiert und ist ein dynamisches Verfahren (Snijders et al. 2010). Hierbei werden Einfluss- oder auch Selektionseffekte (siehe Kap. „Netzwerktheorie(n)“) untersucht und getestet. Anders ausgedrückt: Inwieweit haben Attribute einen Effekt auf Relationen (Selektion), Relationen auf Relationen (Reziprozität), Attribute auf Attribute (Kontrollvariable) oder auch Relationen auf Attribute (Einfluss). Das Modell beruht auf vier Annahmen: Akteure haben Einfluss auf ausgehende Beziehungen, die Veränderung von Beziehungen erfolgt in sog. Microsteps (Akteure haben die Möglichkeit, eine Beziehung aufzulösen, einzugehen oder beizubehalten), die Änderung wird so erfolgen, dass die Änderung einen Nutzenanstieg für den Akteur beinhaltet (Rational-Choice-Ansatz) und die Nutzenfunktion beinhaltet neben einzelnen Effekten und ihren Parametern (objective function) eine Zufallskomponente.

Anzumerken ist noch, dass nicht alle Maßzahlen für egozentrierte und Gesamtnetzwerke in gleicher Weise Anwendungen finden. Zu nennen wären hier z. B. die unterschiedlichen Zentralitätsmaße, da diese erst bei einer großen Anzahl von Akteuren anwendbar sind. Egonetzwerke haben dafür oft zu wenige Akteure. Auch die Blockmodellanalyse, bei der Cluster vor dem Hintergrund der Beziehungsstruktur gebildet werden, findet man bei der egozentrierten Netzwerkanalyse so nicht.

Als Beispiel für eine quantitative Netzwerkstudie soll hier die Framingham Heart Study angeführt werden. Ab dem Jahr 1948 wurden in der Stadt Framingham in den USA regelmäßig Daten erhoben, um beispielsweise Ursachen und Gefahren von Herzerkrankungen sowie Arteriosklerose zu eruieren. Seit 1983 wurden auch Netzwerkdaten aufgenommen, auf die Fowler und Christakis (2008) zurückgreifen, um den Zusammenhang von „Glücklich-Sein“ und Einbettung in Netzwerken mithilfe einer Regression zu ergründen. Hierbei wurden von 1983 bis 2003 4739 Personen medizinisch begleitet. Die Ergebnisse zeigen, dass glückliche Menschen sich besonders im Zentrum des Netzwerkes befinden, also zentral sind und Cluster bilden (Abb. 3): Wer von vielen glücklichen Menschen umgeben ist, bei dem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er auch glücklich wird. Unglücklichere Akteure befinden sich eher in der Peripherie des Netzwerkes. Ferner zeigt sich, dass glückliche Menschen im Netzwerk einen großen Einfluss auf das Glücksgefühl von Ego besitzen, und dass sich dieser Einfluss über drei Kanten verbreiten kann.

Abb. 3
figure 3

Die Linien zwischen den Knoten zeigen die Beziehung an (schwarz für Geschwister, rot für Freunde und Ehepartner). Die Knotenfarbe zeigt das Glücklich-Sein des Egos, wobei blaue Schattierungen am wenigsten glücklich, grün ein wenig glücklich und gelbe Schattierungen am glücklichsten bedeutet.

Die Clusterung von glücklichen sowie weniger glücklichen Menschen in der Stadt Framingham.

Als zweites Beispiel soll hier ein SIENA-Model angeführt werden. Anhand von Längsschnittdaten wurde das Rauchverhalten von Schüler*innen in Finnland untersucht. Hierbei eruierten Mercken et al. (2010) Selektions- und Einflussfaktoren zwischen der Schülerschaft. Sie gingen der Frage nach, inwieweit Rauchen unter Freunden „sozial ansteckend“ (Einfluss) ist oder sich Freundschaften aufgrund vom Interesse am Rauchen entwickeln (Selektion). Wie bei der Framingham Heart Study handelt es sich um eine Gesamtnetzwerkstudie. Neben den reinen Relationen innerhalb der Schule wurde auch gefragt, ob die eigenen Eltern oder auch Geschwister rauchen. Dabei konnte festgestellt werden, dass sowohl Schüler*innen ihre Freunde aufgrund des Rauchverhaltens auswählen. Bei Mädchen zeigt sich hingegen auch ein Einflussfaktor durch das Rauchverhalten in der „Clique“. Zudem wird ersichtlich, dass das Rauchverhalten der Eltern einen signifikanten Einfluss besitzt. Anders als bei der Studie Fowler und Christakis (2008) wurde hier auf eine Visualisierung verzichtet.

Die qualitative Forschung ist innerhalb der Netzwerkanalyse eher unterrepräsentiert, hat in den letzten 20 Jahren aber deutlich an Bedeutung gewonnen. Im Gegensatz zu den quantitativen Ansätzen, stehen hier das Verstehen von Zusammenhängen bzw. Mechanismen und die subjektive Sichtweise der Akteure ihre Netzwerke im Fokus. Das Interesse liegt auf den Geschichten hinter den Beziehungen, da Netzwerke nach White (2008) keine gegebenen Wirklichkeiten darstellen, sondern phänomenologische Konstrukte sind, die durch die Akteure mit Sinn belegt werden (siehe auch Kap. „Netzwerktheorie(n)“). Als Substrat sozialer Netzwerke gelten hier die sogenannten „stories“ (Beschreibungen bzw. Sinndeutungen), die es ermöglichen, Ereignisse so zu strukturieren, dass sie als Teil einer Beziehungsgeschichte fungieren, welche den subjektiv-sozialen „Sinn“ der Beziehung beinhaltet. Um also das Entstehen von Netzwerken beziehungsweise die dynamische Veränderung von Netzwerken konstruieren zu können, müssen die Geschichten der Personen und die Handlungsmöglichkeiten im jeweiligen Kontext verstanden werden (White 2008; Schweizer 1996).

Die theoretische Diskussion um eine kulturelle bzw. konstruktivistische Öffnung (z. B. White 2008; Emirbayer 1997) der Netzwerkforschung geht einher mit dem Bedarf an weniger standardisierten bzw. qualitativ-methodischen Ansätzen (Hollstein und Straus 2006; Schönhuth et al. 2013). Das Vorgehen kann sehr unterschiedlich sein. Hier soll die sogenannte visuelle Netzwerkforschung (Gamper und Kronenwett 2012) vorgestellt werden, die in der qualitativen Netzwerkforschung dominierend ist. Seit den 1980er Jahren kommen sogenannte Netzwerkkarten (Kahn und Antonucci 1980; Kupfer 2018) und Netzwerkzeichnungen (z. B. Straus 2002; Schönhuth et al. 2013; Gamper und Kronenwett 2012) bei der Datenerhebung zum Einsatz, mit deren Hilfe subjektive Erfahrungen und Einstellungen der Akteure erhoben werden. Die offenste Form der visuellen Netzwerkforschung stellt die Netzwerkzeichnung dar. Durch einen Erzählstimulus zeichnet der/die Befragte sein individuelles Netzwerk auf ein nicht vorstrukturiertes Blatt oder rekonstruiert dieses mithilfe eines Softwareprogramms (z. B. VennMaker). So werden innere Netzwerkbilder, ohne eine konkrete Vorgabe durch den Forscher bzw. die Forscherin, sichtbar gemacht. Die subjektive Sinnzuschreibung geschieht durch die Beforschten, wobei die Bewertung im Rahmen einer kommunikativen Validierung erfolgt. Durch die geführten Interviews fließen die Aussagen und Interpretationen in die Analyse mit ein (Heinze und Klusemann 1979; Mayring 2002).

Aufgrund der Offenheit der Netzwerkzeichnung und der Interviews ist eine quantitative Auswertung nicht möglich. Hingegen können Netzwerkkarten als Landkarten von sozialen Beziehungen beschrieben werden, mit deren Hilfe Individuen ihre sozialen Netzwerke visualisieren. Anders als bei Netzwerkzeichnungen enthalten diese Strukturierungen (z. B. die Positionierung von Ego sowie Alter, oder auch andere Attribute wie Alter, Geschlecht) und Standardisierungen (Vereinheitlichung durch Wertzuweisung). Diese Attribute werden durch die Forschenden mehr oder weniger stark vorgegeben und die Freiheit des Interviewenden eingeschränkt. Hierfür werden die Netzwerkkarten teilstrukturiert oder strukturiert sowie halbstandardisiert oder standardisiert vom Forscher bzw. Forscherin bereits vordefiniert (Hollstein und Pfeffer 2010). Die Vorstrukturierung kann unterschiedlich ausfallen. Beliebte Formen sind z. B. konzentrische Kreise (z. B. Abb. 4) oder auch Sektoren. Bekommen die Vorgaben wie z. B. die konzentrischen Kreise um Ego oder auch die Sektoren keine diskreten Ausprägungen von Attributen zugewiesen, liegt hier eine Strukturierung, jedoch keine Standardisierung vor (Gamper et al. 2012). Bei einer Teilstandardisierung oder auch Vollstandardisierung werden diese visuellen Items teilweise oder auch in ihrer Gesamtzahl mit Merkmalsausprägungen belegt. Den konzentrischen Kreisen, die die Nähe (diese kann z. B. als Wichtigkeit, Erreichbarkeit definiert sein) zum Ego strukturieren, können demnach die Ausprägungen „sehr wichtig“, „wichtig“ und „weniger wichtig“ zugewiesen werden, um die Bedeutung der Alteri für Ego abzubilden. Die Zunahme von Strukturierung und Standardisierung geht mit dem Verlust der subjektiven Zuweisung durch den zu Befragenden einher. Jedoch können die gewonnenen standardisierten Daten mithilfe quantitativer Verfahren ausgewertet werden (Hollstein und Pfeffer 2010). Die visuelle Erhebung kann durch ein Paper-and-Pencil-Verfahren, Papier, Stifte und Bausteine-Verfahren oder auch mithilfe eines Computerprogramms (z. B. VennMaker) erhoben werden, die jeweils unterschiedliche Vor- und Nachteile besitzen (Gamper und Schönhuth 2016). Hinzu kommt, dass die visuelle Erhebungsmethode in Gruppeninterviews (z. B. Schönhuth und Kievelitz 1995) oder Einzelinterviews (z. B. Krumbein 1995) eingesetzt werden kann. Hinsichtlich der qualitativen Auswertung können sowohl die geführten Interviews als auch die Ergebnisse der unterschiedlichen Netzwerkkarten oder auch -zeichnungen im Fokus stehen. Hierbei können Aussagen der Interviews auf die Visualisierungen bezogen werden, indem zuerst die Interviews analysiert und dann erst im zweiten Schritt die Visualisierungen eruiert und in Zusammenhang gebracht werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, von den Karten bzw. Zeichnungen auszugehen und erst im Anschluss die Interviews für die Analyse heranzuziehen. Welches der beiden Vorgehen gewählt wird, hängt stark von der Forschungsfrage und dem Datenmaterial wie der Schwerpunktsetzung der Erhebung (eher visuell oder interviewbasiert) ab und kann daher nicht pauschal beantwortet werden. Qualitative Verfahren der Netzwerkforschung stellen somit Mechanismen, Verhaltensweisen oder auch individuelle Deutung in den Mittelpunkt und legen damit z. B. Handlungs- und Denkprozesse offen.

Abb. 4
figure 4

(Quelle: Weigl 2016, S. 238)

Netzwerkkarte einer Patientin am Therapiebeginn.

Auch hier sollen Beispiele präsentiert werden, die die qualitative Forschung nochmals konkretisieren. Das erste Beispiel kommt aus der Psychologie bzw. Psychotherapie und dem Bereich der Intervention und befasst sich mit den Auswirkungen von Netzwerkbeziehungen auf das psychische Wohlbefinden. Anhand dreier Fallbeispiele zeigt Silvia Weigl (2016), wie Netzwerkkarten eingesetzt werden, um die Auswirkungen von Beziehungen auf das Wohlbefinden der Probanden zu visualisieren und zu reflektieren. In Abb. 4 ist eine Netzwerkkarte abgebildet, in der eine Befragte die eigenen Beziehungen dargestellt und als positiv, negativ oder ambivalent bewertet hat (zur Bedeutung negativer Beziehungen siehe Kap. „Negative Beziehungsaspekte und gesundheitliche Ungleichheiten“). Die Klientinnen werden neben der Zeichnung noch zu ihren Beziehungen befragt, die in Netzwerkkarten visualisiert werden. In den Therapiesitzungen werden diese Relationen diskutiert, in den Lebensphasenkontext gestellt und ihr Einfluss auf das Wohlbefinden reflektiert.

Die Ergebnisse der Netzwerkkarten und die darauf folgende Netzwerkarbeit der zu Beratenden werden als positiv bewertet. Der Einsatz von Netzwerkkarten verdeutlicht die Lebenssituation der Befragten und den Stellenwert der eigenen Person im sozialen Netzwerk. Dadurch steigen die eigene Wertschätzung sowie die wahrgenommene Selbstwirksamkeit. Ferner wird eine Stabilisierung der eigenen Position erreicht. Es kommt auch zu unterschiedlichen Formen der Netzwerkarbeit durch die Betroffenen selbst, in dem an Beziehungen im Netzwerk gezielt und aktiv gearbeitet wird sowie zu einer Relativierung von idealisierten und abwertenden Betrachtungen sozialer Beziehung in der Vergangenheit. Wie das Beispiel zeigt, dienen Netzwerke somit nicht nur als wissenschaftliches Analysetool, sondern bieten unter dem Stichwort „Netzwerkarbeit“ auch ein Instrument bei der Intervention im Gesundheitssektor (vgl. Kupfer 2018).

Das zweite Beispiel behandelt einen Fall eines drogenabhängigen jungen Mannes (Mayrhofer 2016). Hier wird der Frage nachgegangen, welche Rolle soziale Beziehungen spielen und wie diese in Verbindung mit dem Drogenkonsum stehen. Mayrhofer stellt die Binnendynamik zwischen den Befragten und den Alteri in seinem Egonetzwerk deutlich heraus. Es zeigt sich, dass die Suchterkrankung die Beziehungen zu den Alteri drastisch stört und die Alteri eine Balance zwischen Unterstützung und Rückzug aus dem Netzwerk suchen. Auffällig ist weiter, dass das Netzwerk mit der Zeit von den Betroffenen dahin gehend gestaltet wird, dass die Alteri im Netzwerk so wenig Einfluss auf den Suchtkonsum haben wie möglich. Dies geschieht z. B. durch Verheimlichen oder das Bagatellisieren der Abhängigkeit. Der Verlust von Beziehungen geht auch mit dem Verlust von Rollenvielfalt einher und führt zu immer weniger „Selbstregie“. Mit anhaltender Dauer der Suchtkrankheit kommt es auch zu einer qualitativen wie auch quantitativen Reduzierung der Beziehungen und führt in einen „Teufelskreis“. Das Fallbeispiel und der Prozess der Netzwerkveränderung wird wie in Abb. 5 dargestellt visualisiert.

Abb. 5
figure 5

(Quelle: Mayrhofer 2016, S. 267)

Eine dynamische Netzwerkkarte eines jungen Drogenabhängigen.

3 Fazit

In diesem Kapitel wurde der Begriff des Netzwerks definiert und die unterschiedlichen Ansätze und Verfahren der Netzwerkforschung und -analyse vorgestellt. Anhand von Beispielen sollte gezeigt werden, welches Verfahren für welche Fragestellung herangezogen werden kann. Netzwerke sind demnach Zusammenschlüsse von Personen, Institutionen, kollektiven Akteuren – den sogenannten Knoten – die durch Beziehungen (z. B. Sexualbeziehung, Liebe) – den Kanten – miteinander verwoben sind. Es wird davon ausgegangen, dass die Einbettung der Akteure Folgen für diese hat oder bestimmte Handlungen der Akteure sich auf die Beziehungen innerhalb eines Netzwerkes auswirken.

Bei der Analyse können zwei Hauptunterscheidungen herauskristallisiert werden. Vor dem Hintergrund der Struktur des Netzwerkes kann zwischen Gesamtnetzwerken und egozentrierten Netzwerken differenziert werden. Die Gesamtnetzwerkanalyse fokussiert die Binnenstruktur von Personen innerhalb eines vordefinierten Bereichs. Dieser kann z. B. Schüler*innen in einer Schulklasse oder Menschen in einer Stadt umfassen. Hierbei werden nur die Beziehungen untereinander erfasst. Bei der egozentrierten Netzwerkforschung liegt das Interesse auf der Einbettung des Individuums in seine soziale Umgebung. Hierbei wird Ego zu seinen Beziehungen und den Personen (Alteri) und ihren Attributen in seinem persönlichen Netzwerk befragt. Wenn das Forschungsinteresse auf die interne Struktur einer Gruppe gelegt wird und die Grenzen von innen klar gegeben sind, dann ist eine Gesamtnetzwerkanalyse besonders gut geeignet. Die egozentrierte Netzwerkforschung hat ihre Vorteile, wenn Personen einer bestimmten Gruppe (z. B. Drogenabhängige, alte Menschen) und ihre allgemeine Einbettung, auch im Vergleich zu anderen Gruppen, untersucht werden sollen. Neben der methodischen Dimension kann auch zwischen quantitativer und qualitativer Netzwerkforschung unterschieden werden. Die standardisierte Netzwerkforschung kann zwischen strukturbeschreibenden Verfahren und Verfahren zur Analyse von Kausalzusammenhängen differenziert werden. Die strukturbeschreibenden Verfahren beschreiben das Netzwerk, hierzu gehören z. B. die Größe eines Netzwerkes oder auch die Dichte. Stochastische Verfahren, z. B. Exponential Random Graph Models (ERGMs) und SIENA, versuchen überzufällige Zusammenhänge aufzudecken. Beide Ausrichtungen können sowohl das ganze Netzwerk (z. B. Dichte, Netzwerkgröße) oder auch einzelne Knoten oder Kanten (z. B. Zentralitätsmaße) umfassen.

Hinsichtlich der qualitativen Netzwerkforschung wurden unterschiedliche visuelle Verfahren vorgestellt. Dabei wurde zwischen Netzwerkzeichnungen und Netzwerkkarten unterschieden. Netzwerkzeichnungen sind freie Visualisierungen, die keine Vorstrukturierung durch den Forscher bzw. die Forscherin beinhalten. Bei den Netzwerkkarten werden Vorgaben wie z. B. konzentrische Kreise getroffen. Hierbei können Strukturierungen auch durch Zuweisung von Werten standardisiert werden. Dadurch wird es auch möglich, die Daten quantitativ auszuwerten, während dies bei Netzwerkzeichnungen nicht möglich ist. Für die Kopplung von Interviews und die Visualisierungen gibt es kaum wissenschaftliche Handreichungen oder Standardwerke. Auf die qualitative Forschung sollte zurückgegriffen werden, wenn eher idiografische Konstrukte, wie Deutungsmuster, Sinnstrukturen oder subjektive Wahrnehmungen von Netzwerken und Beziehungen im Fokus stehen. Auch bei Phänomenen, die nicht oder nur wenig bekannt bzw. erforscht wurden, eignen sich qualitative Instrumente wegen ihrer thematischen Offenheit besser. Nicht selten werden in qualitativen Studien Hypothesen für die quantitative Netzwerkforschung generiert. Bei Kausalzusammenhängen oder wenn repräsentative Aussagen getroffen werden sollen, eignen sich die unterschiedlichen quantitativen Verfahren. Wichtig ist hier, dass die Erhebungsmethoden dem Forschungsfeld und der Forschungsfrage angepasst werden müssen. Besonders in der Gesundheitsforschung, gibt es z. B. bei den Namensgeneratoren kein einheitliches Vorgehen, und damit noch viel Spielraum für eigene Ideen.

Durch die wenigen Studien die im Bereich Netzwerkforschung und gesundheitliche Ungleichheiten existieren, sind getestete Akteursgeneratoren oder andere Vorarbeiten, auch im qualitativen Bereich, sehr selten. Daher müssen Forschungsfragen selbst konstruiert und getestet werden. Dies macht es notwendig z. B. eigene Akteursgeneratoren zu entwickeln oder bereits getestet Fragen der eigenen Forschung anzupassen. Zentral ist es, die eigenen Fragen, qualitativ wie quantitativ, an die theoretischen Konzepte (siehe Kap. „Netzwerktheorie(n)“) anzubinden. Hier eignen sich besonders Paradigmen wie der sozialen Unterstützung, der Diffusionsforschung und des Sozialkapitals, die mit Gesundheitsfragestellungen und Netzwerken gut kombiniert werden können. Grenzen zeigen sich im Allgemeinen hinsichtlich der Dauer der Befragungen. Qualitative und quantitative Verfahren der Netzwerkforschung sind sehr zeitaufwendig und nehmen in der Befragung viel Raum ein. Daher sollte im Vorhinein genau bedacht werden, welche Rolle Netzwerke für die Antwort der Forschungsfrage zur gesundheitlichen Ungleichheit essenziell sind. Darauf aufbauend sollte der Teil der Netzwerkanalyse getestet werden, um die Dauer der Befragung einschätzen zu können. Wie die wenigen Studien zeigen, ist ein Zusammenhang zwischen Gesundheit und Netzwerken in vielen Feldern (z. B. Weitergabe von Krankheiten, Gesundheitsverhalten) von großer Wichtigkeit und sollte noch viel stärker, auch methodisch, berücksichtigt werden.

Leseempfehlungen

Carrington, P. J., Scott, J., & Wasserman, S. (Hrsg.) (2005). Models and methods in social network analysis. Cambridge University Press. Einführung in die Methoden der Netzwerkanalyse mit einem Fokus auf quantitative Verfahren.

Gamper, M., & Schönhuth, M. (2016). Ansätze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung. In K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung (S. 1–27). Wiesbaden: VS. Überblick über die unterschiedlichen visuellen Netzwerkforschungsverfahren in komprimierter Form.

De Nooy, W., Mrvar, A., & Batagelj, V. (2011). Exploratory social network analysis with Pajek. Cambridge University Press. Englisches Handbuch für die Software Pajek, ein kostenloses Tool zur Analyse von Gesamtnetzwerken, mit dem die Berechnung einer Reihe von Maßzahlen möglich ist.

Heidler, R., & Gamper, M. (2017). Ein Freund, ein guter Freund? Oder: Über blinde Flecken der stochastischen Modellierungsverfahren ERGM und SIENA am Beispiel von Freundschaften in Schulklassen. In M. Emirbayer & H. Löwenstein (Hrsg.), Netzwerke, Kultur und Agency. Problemlösungen in relationaler Methodologie und Sozialtheorie (S. 355–380). Weinheim: Beltz. Kurze Hinführung zu den zwei wohl wichtigsten stochastischen Verfahren der Netzwerkforschung und deren blinde Flecken.

Domínguez et al. (Hrsg.) (2014). Mixed methods social networks research: Design and applications. Cambridge University Press. Englischer Sammelband über die Verbindung von qualitativen und quantitativen Verfahren in der Netzwerkforschung.