Zusammenfassung
Innerhalb bestehender Theorien zur Landschaft (Joachim Ritter, Georg Simmel) ist der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und lebensweltlicher Perspektive auf Landschaft bzw. Umwelt bekannt und ausgearbeitet. Aber erst in der Phänomenologie Edmund Husserls wurde darüber intensiv nachgedacht, warum mit der Wissenschaft eine mit der „Wahrheit des vorwissenschaftlichen Lebens“ (Husserl) konkurrierende Wahrheit historisch aufkommen konnte und welche Folgen diese Situation für eine Theorie der Landschaftswahrnehmung heute hat. Husserl führt dazu zentrale Begriffe wie Geschichtlichkeit, Motivation und Einstellung ein. Bei ihm gewinnt der Zustand der Selbstreflexion der neuzeitlichen Wissenschaften und des unkritisch vollzogenen Wechsels von natürlicher, lebensweltlicher Einstellung zu wissenschaftlicher Konstruktion krisenhaften Charakter, insofern das vor-wissenschaftliche Motiv dieses Übergangs dunkel bleibt und nicht selbst wiederum thematisiert wird. Damit verliert die moderne Wissenschaft ihren lebensweltlichen Sinn, von dem sie doch einst ausgegangen ist, aus den Augen. Denn eine Wissenschaftstheorie auch der Landschaft muss sich damit beschäftigen, wie sie adäquat damit umgehen möchte, dass jeder professionelle Umgang mit Landschaft schon von einer Einstellung und Haltung geprägt ist, die ihren Bezug zu den Lebensfragen vorwissenschaftlichen Weltverstehens eingebüßt hat. Will man als Landschaftsarchitekt nicht an den Gebrauchs- und Umgangserfahrungen derjenigen, denen eine Landschaft zugleich „natürliche Lebensumwelt“ ist, vorbeiplanen, muss sich eine Landschaftstheorie methodologisch fundieren.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Das ist das Thema von Flecks Hauptwerk: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1993).
- 2.
Auf diesen Aspekt des „Anlasses“, Selbstverständliches zu hinterfragen, ist Hans Blumenberg eingegangen. Auch er diskutiert die möglichen Motive einer „theoretischen Einstellung“: „Man muß mit einem Motivationsschub rechnen, wenn die motorischen Impulse der Theorie nicht mehr unmittelbar aus der ‚Lebenswelt‘ kommen, nicht mehr aus dem menschlichen Interesse der Orientierung in der Welt nicht mehr aus dem Willen zur / Erweiterung der Wirklichkeit oder dem Bedürfnis nach Integration des Unbekannten“ (Blumenberg 1973, S. 9 f.; vgl. auch Blumenberg 2010).
Literatur
Biemel, W. (1996). Reflexionen zur Lebenswelt-Problematik. In W. Biemel (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 1). Stuttgart (Bad Cannstatt): Frommann-holzboog.
Blumenberg, H. (1973). Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“. Dritter Teil. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Blumenberg, H. (2010). Theorie der Lebenswelt. (Hrsg. von M. Sommer). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fleck, L. (1993). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (Mit einer Einleitung von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, 2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fleck, L. (2011). Über die wissenschaftliche Beobachtung und Wahrnehmung im allgemeinen (1935). In L. Fleck (Hrsg.), Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse (S. 211–238) (Herausgegeben und kommentiert von S. Werner und C. Zittel). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Groh, R., & Groh, D. (1991). Weltbild und Naturaneignung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hahn, A. (2017). Empirische Architekturtheorie? Reflexionen über den Anfang. In K. Berr (Hrsg.), Architektur- und Planungsethik. Zugänge, Perspektiven, Standpunkte (S. 87–109). Wiesbaden: Springer VS.
Hemingway, E. (1977). Der alte Mann und das Meer. In E. Hemingway (Hrsg.), Gesammelte Werke in 6 Bänden (Bd. 3). Gütersloh: Bertelsmann.
Husserl, E. (1954). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (S. 314–348) (Hrsg. von Walter Biemel. HUA 6 [= Husserliana Bd. 6]). Den Haag: Nijhoff.
Husserl, E. (1993). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Erg.-Bd. Texte aus dem Nachlass 1934–1937 (Hrsg. von R. N. Smid). Dordrecht: Kluwer.
Mainzer, K. (1976). [Artikel] Konstruktion. In J. Ritter & K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd. 4, S. 1009–1019). Basel: Schwabe & Co.
Ritter, J. (1974). Landschaft (1963). In J. Ritter (Hrsg.), Subjektivität. Sechs Aufsätze (S. 141–163). Frankfurt a. M.: Bibliothek Suhrkamp.
Simmel, G. (1984). Philosophie der Landschaft (1913). In G. Simmel (Hrsg.), Das Individuum und die Freiheit. Essais (S. 130–139). Berlin: Wagenbach.
Welter, R. (1986). Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt. München: Fink.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2018 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Hahn, A. (2018). Was war Landschaft vor ihrer Konstruktion durch die Wissenschaft?. In: Berr, K. (eds) Landschaftsarchitekturtheorie. RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18838-2_7
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-18838-2_7
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-18837-5
Online ISBN: 978-3-658-18838-2
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)