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Verfassungsinterpretation im Spannungsfeld realpolitischen Effektivitätsdenkens und verfassungsrechtlicher Ordnung: Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz

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Die Grenzen der Demokratie
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Zusammenfassung

In einem auf der Gewaltenteilung basierenden Verfassungssystem haben die Judikative und insbesondere die Verfassungsgerichte die wichtige Funktion effektivitätsorientierte Maßnahmen der öffentlichen Gewalt am Maßstab der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu prüfen und zu korrigieren, zu bestätigen oder zu negieren. Deren Verfassungsinterpretation ist jedoch gerade im sicherheitspolitischen Bereich ebenso im Spannungsfeld zwischen Politik und Recht angesiedelt und kann eine schmale Gratwanderung zwischen einem Verfassungswandel und einer faktischen Verfassungsänderung bedeuten. Am exemplarischen Beispiel der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz von 2006, 2012 und 2013 kann zum einen die Rolle des Rechts als etwaige Begrenzung und als Gestaltungsmittel politischer Entscheidungen verdeutlicht und zum anderen die Vielfältigkeit der um diese Grenzen bemühten, zugleich jedoch ebenfalls die Effektivitätsgebote berücksichtigenden Verfassungsinterpretation aufgezeigt werden. Das Bundesverfassungsgericht setzte dem effektivitätsbezogenen Ansatz klare Grenzen, indem es die gesetzliche Regelung, welche den Abschuss eines entführten und mit Unbeteiligten besetzten Flugzeugs erlaubte, für verfassungswidrig erklärte. Zugleich suchte es die Verfassungslage an die realpolitischen Notwendigkeiten anzupassen, indem es Einsätze der Bundeswehr im Inneren zur Abwehr terroristischer Bedrohung mit militärischen Mitteln als für mit der Verfassung vereinbar erachtete.

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Notes

  1. 1.

    Zu beachten ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld Recht – Politik jedoch nicht sowie z. B. der US-amerikanische Supreme Court eine Entscheidung unter Berufung auf die – sinngemäß – Political-Question-Doctrine verweigern kann. Es ist aber durchaus anerkannt, dass der Legislative beim Erlass von gesetzlichen Regelungen Gestaltungsspielraum zukommt, der gerichtlich nicht überprüft wird (u. a. BVerfGE 38, 154 (166)).

  2. 2.

    Vgl. auch „Die Entscheidung des Plenums entfaltet […] die Wirkung einer Verfassungsänderung“ (abweichende Meinung Richter Galer, BVerfGE 132, 1 (24)).

  3. 3.

    Gerade in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt dies bei der sog. Wesentlichkeitstheorie, wonach grundrechtsrelevante Entscheidungen eines Parlamentsgesetzes bedürfen (u. a. BVerfGE 47 (79); BVerfGE 49 (127)) oder bei dem Parlamentsvorbehalt für die Auslandseinsätze der Bundeswehr zum Ausdruck (BVerfGE 90 (383)).

  4. 4.

    Im Sinne John Lockes (1977, S. 124) ist es die „Macht, ohne Gesetzesvorschrift – bisweilen sogar gegen das Gesetz – zum öffentlichen Wohl nach dem eigenen Ermessen zu handeln“.

  5. 5.

    Als wesentliche Merkmale des formellem Rechtsstaates werden die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Schutz durch unabhängige Gerichte und die Gewährleistung eines Entschädigungssystems für staatliches Unrecht ausgewiesen (Zippelius und Würtenberger 2008, § 12 Rz. 1).

  6. 6.

    Nach dem französischen Verfassungsmodell gehört z. B. nur das Republikprinzip zum abänderungsfesten Kern, vgl. Art. 89: „Die republikanische Regierungsform darf nicht Gegenstand einer Verfassungsänderung sein.“

  7. 7.

    § 13 LuftSiG: „(1) Liegen auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vor, die im Rahmen der Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Artikel 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 des Grundgesetzes bevorsteht, können die Streitkräfte, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Unglücksfalles eingesetzt werden.

    (2) Die Entscheidung über einen Einsatz nach Art 35 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes trifft auf Anforderung des betroffenen Landes der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern. Ist sofortiges Handeln geboten, ist das Bundesministerium des Innern unverzüglich zu unterrichten […]“.

  8. 8.

    § 14 LuftSiG: „(1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben […].

    (3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist […]“.

  9. 9.

    Insgesamt sind nur fünf Plenums-Beschlüsse in der Judikatur des BVerfG zu verzeichnen und hiervon betraf nur die Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz materielle Verfassungsfragen.

  10. 10.

    Abweichend hiervon jedoch die Fraktion Bündnis90/Die Grünen (vgl. BVerfGE 115, (130)).

  11. 11.

    Interessant in diesem Zusammenhang ist die – durchaus anders klingende – Begründung der Ablehnung des Antrags auf einstweilige Anordnung im Fall der Schleyer-Entführung aus dem Jahr 1977. Das Bundesverfassungsgericht formulierte knapp: „Die Eigenart des Schutzes gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen ist dadurch gekennzeichnet, daß die gebotenen Maßnahmen der Vielfalt singulärer Lagen angepaßt sein müssen. Sie können weder generell im voraus normiert noch aus einem Individualgrundrecht als Norm hergeleitet werden. Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger. Eine wirksame Wahrnehmung dieser Pflicht setzt voraus, daß die zuständigen staatlichen Organe in der Lage sind, auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles angemessen zu reagieren; schon dies schließt eine Festlegung auf ein bestimmtes Mittel aus. Darüber hinaus kann eine solche Festlegung insbesondere deshalb nicht von Verfassungs wegen erfolgen, weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde“ (BVerfGE 46, 160 (165)).

  12. 12.

    Die Zuständigkeit der Länder für die polizeiliche Gefahrenabwehr folgt aus Art. 70 ff. GG; die weiteren materiellen Inhalte des Trennungsgebots (von Polizei, Militär und Nachrichtendiensten), welches allgemein aus der Systematik der grundrechtlichen Vorschriften herausgelesen wird, sind allerdings umstritten.

  13. 13.

    Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG: „Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern.“

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Mrozek, A. (2017). Verfassungsinterpretation im Spannungsfeld realpolitischen Effektivitätsdenkens und verfassungsrechtlicher Ordnung: Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. In: Förster, A., Lemke, M. (eds) Die Grenzen der Demokratie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16295-5_3

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