Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der anhaltenden Debatte über den Umgang mit geflüchteten Kindern und vor allem beim Anblick der jüngsten Rezeption der PISA-Studie 2015 ist der Beitrag von Miriam Sitter mehr als aktuell. Denn er beleuchtet, wie der Ausdruck ‚Kinder mit Migrationshintergrund‘ in bildungsbezogenen Auseinandersetzungen routinemäßig zu einer allgemeinen Projektionsfläche für (Re-)Problematisierungen im Bildungsbereich wird. Was immer sich da in den letzten Jahren nach PISA 2000 als ressourcenorientiert und Bildungschancen schaffend für alle Kinder ausbuchstabiert hat, formt sich im Zuge von alten und neuen PISA- oder Flüchtlings-Krisen als stigmatisierend für Kinder mit Migrationshintergrund. Miriam Sitter hinterfragt deshalb die vermeintlich positiv intendierten und so selbstverständlichen Betonungen von Förderungen, die im PISA-Kontext regelmäßig und explizit an diese Klientel adressiert werden. Denn es stellt sich heraus, dass ‚Kinder mit Migrationshintergrund‘ dabei zu einem leeren Signifikanten werden, in dem sich sämtliche defizitäre Deutungsmuster versammeln lassen, die eine enorme Stabilität, aber genau aufgrund dieser immer wenig(er) Erklärungskraft besitzen.
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Notes
- 1.
Diese Formulierung wird in Anlehnung an Stengers Begriff der „Erwartungsenttäuschung“ (Stenger 1997, S. 165 ff.) gewählt, die er in seiner Auseinandersetzung mit Deutungsmustern der Fremdheit beschreibt.
- 2.
Es handelt sich hierbei um Erkenntnisse, die ich im Rahmen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2008) der Nach-PISA-Bildungsdebatte ermitteln konnte. S. dazu in Sitter (2016). Die Nach-PISA-Bildungsdebatte wurde hier als ein heuristisches Konzept gefasst, um die Verflechtung von Wissenskonstruktionen und -produktionen für das deutsche Erziehungs- und Bildungssystem infolge der PISA 2000-Ergebnisse zu analysieren. In dieser Diskursanalyse wurde sich der spezifischen Relation von bildungsbenachteiligten Kindern zum diskursiven Ereignis PISA und vice versa zugewandt, um zu ermitteln, was die Bezugnahmen auf PISA für das (Un-)Wissen über bildungsbenachteiligte Kinder bedeuten und evozieren können. Als Datengrundlage, die im vorliegenden Artikel gelegentlich als Belegmaterial aufgeführt wird, dienten 1) Pressemitteilungen auf Länderebene der regelmäßigen Kultusministerkonferenzen sowie Beschlüsse der Jugend(familien)ministerkonferenzen, 2) interdisziplinäre Fachzeitschriften wie „DISKURS bzw. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung“ und „Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation“ sowie 3) elementarpädagogische Fachzeitschriften wie „Kindergarten heute“, „Kita aktuell“ und „Zeitschrift frühe Kindheit“. Da die Diskursfragmente aus den zwei letztgenannten Zeitschriften über ein Internet-Archiv der Zeitschriften bezogen wurden, welches keine genaue Seitenangabe beinhaltete, wird auf eine konkrete Seitenangabe sowohl bei der Zitation dieser Artikel als auch in der Bibliografie verzichtet.
- 3.
Unter Kollektivsymbolen wurden in der bereits erwähnten Studie und unter Bezug auf Jürgen Link (u. a. Link 2013) allgemeine Sinnbilder verstanden.
- 4.
Laclaus Beschreibungen zum leeren Signifikanten basieren auf den gemeinsamen Arbeiten zusammen mit Chantal Mouffe (u. a. Laclau und Mouffe 2006). Für beide bestand das Interesse, gesellschaftliche Strukturen und damit verbundene Machtverhältnisse zu hinterfragen, um aufzuzeigen, dass diese immer das Ergebnis von politischen Aushandlungsprozessen sind. Dabei sind Identitätsbildungsprozesse entlang antagonistischer Grenzen erkennbar, die durch den Bezug auf einen privilegierten Signifikanten auch gleichzeitig eine Abgrenzung nach außen betreiben (vgl. Glasze und Mattissek 2009, S. 153 ff.).
- 5.
Die Logik eines Interdiskurses stellte sich für die analysierte Nach-PISA-Bildungsdebatte entlang des Ergebnisses ein, dass sich in „fragmentarischen und stark imaginären Brückenschlägen über Spezialgrenzen hinweg“ (Link 2005, S. 87) von heterogenen AkteurInnen auf PISA bezogen wird. Auch die Beobachtung, dass die Verkündung der ersten PISA-Ergebnisse einige Zeit hinter sich hat, dennoch aber dazu genutzt wird, um sich bildungsreformpolitisch zu positionieren, stützt die interdiskursive Charakteristik der Nach-PISA-Bildungsdebatte.
- 6.
KOMDAT steht für „Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe“.
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Sitter, M. (2017). Kinder mit Migrationshintergrund als leerer Signifikant. In: Baader, M., Freytag, T. (eds) Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14999-4_9
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