Zusammenfassung
Die Weltgesellschaft erfährt einen Prozess bedeutender Veränderungen, die auf drei eng miteinander verbundenen Ebenen ablaufen: der demographischen Alterung der Bevölkerungen, der wirtschaftlichen Globalisierung und der kulturellen Bewertung des Alters. Diese Veränderungen gestalten sich zeitlich und regional äußerst verschieden. Der Alterungsprozess vollzieht sich in den wohlhabenderen Gesellschaften bereits seit dem 18. Jahrhundert, im Rest der Welt seit dem 20., und heute sind nur noch wenige Länder übrig, in denen er noch nicht eingesetzt hat. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialkulturellen Voraussetzungen zur Bewältigung der mit diesen Veränderungen auftretenden Probleme sind höchst unterschiedlich verteilt. In der ungünstigsten Lage befinden sich wahrscheinlich große Teile Afrikas sowie einzelne Regionen in Lateinamerika und Asien.
Es ist abzusehen, dass in 20 Jahren in der sogenannten Dritten Welt in absoluten Zahlen mehr alte Menschen leben werden als in allen industrialisierten Ländern zusammen. Zudem werden die Verhältnisse noch durch weltweite Wanderungsströme vielgestaltiger, über die keine genauen Zahlen existieren. Im öffentlichen Diskurs über die Globalisierung wird das Gewicht vor allem auf die ökonomische Perspektive gelegt. Unter ihr geht es um die weltweite Durchsetzung eines standardisierten Wirtschaftssystems, in dem der freie und von keinen wesentlichen Einschränkungen mehr behinderte Verkehr von Information, Kapital, Arbeitskraft und Dienstleistungen gilt.
Prozesse der Globalisierung sind aber auch politischer und soziokultureller Art. Bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts fand wirtschaftliche Innovation auch breite Unterstützung durch die Politik. Doch staatliche Interventionen stoßen zunehmend und deutlich auf den Widerstand privater Investoren, wo diese eine Schmälerung der Kapitalrendite befürchten. Dass die Globalisierung auch kulturelle Dimensionen erfasst, lässt sich am Wandel der international veränderten Bewertung des Alters ablesen. Die wichtigste international bereits durchgesetzte und akzeptierte und den meisten inzwischen als unabänderliche soziale Tatsache erscheinende soziale Konstruktion ist die Belastung der nationalen Budgets durch die Alten.
Drei Gesichtspunkte lassen sich hier unterscheiden: a) der Einfluss der Globalisierungsvorstellungen auf die Ideen, die beschreiben sollen, wie und was das Alter ist; b) die neue Konstruktion des Alters als eine besondere Form des „Risikos“, c) der Einfluss der Globalisierungstendenzen und -vorstellungen auf globale Ungleichheiten im Alter. Dieser komplexe, von mächtigen Einrichtungen gespeiste, von der Wirtschaft, Teilen der Wissenschaft und von der Politik immer wieder mitgestaltete und vom Neoliberalismus pointierte Diskurs hat zu einer neuen Weltsicht geführt, die die Rahmenbedingungen für die weiteren Politiken des Alters abgeben.
Notes
- 1.
Diese Bemerkung soll die Anstrengungen und die Verdienste z. B. der UNO oder auch von NGOs in keiner Weise schmälern, die seit Jahren zumindest ihre Dokumentationen ständig zu verbessern suchen.
- 2.
In der weiteren Diskussion wird „regional“ im Sinne von Weltregionen verwendet, wie sie in den demographischen Veröffentlichungen der UN definiert sind.
- 3.
Über die Hälfte der Weltbevölkerung hat ein Geburtenniveau unterhalb der so genannten Nettoreproduktionsrate mit 2,1 überlebenden Kindern pro Frau. Hier ist auch gleich dem verbreiteten Vorurteil über die geburtenfreudigen islamischen Bevölkerungen entgegenzutreten: Der Iran hat in den letzten 20 Jahren das schnellste Absinken der Geburtenrate in der Menschheitsgeschichte erlebt (soweit wir dies überprüfen können). Alle genannten Werte nach: Lutz et al. (2008b).
- 4.
Projekt: „Altersbilder und Sozialpolitik für das Alter“ im Sonderforschungsbereich 186 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Universität Bremen).
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