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„Vermittlung trotz(t) Zwang?“ Einige Einsichten aus der empirischen Analyse geschlossener Unterbringung für eine Perspektive der Grenzbearbeitung

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Vermitteln

Zusammenfassung

Pädagogische Arbeit ist Vermittlungstätigkeit. Diese Formel kann auf fast allen relevanten Erkenntnisebenen in Bezug auf Bildungs-, Erziehungs- und Sorgeverhältnisse als gültig angesehen werden: Gesellschafts- resp. sozialisationstheoretisch, professionstheoretisch wie lern- und bildungstheoretisch, wie die folgende Auflistung zeigen kann. (a) Pädagogisches Tun kann als Vermittlung von Individuum und Gesellschaft bestimmt werden, dieser Vermittlungsprozess daher auch als das für Bildungs-, Erziehungs- und Sorgeprozesse zentrale Prinzip der Sozialisation: Die Einbindung der Akteur_innen in den gesellschaftlichen Zusammenhang und damit immer auch deren Anbindung an diese; (b) die Vermittlung von Theorie und Praxis resp. die Vermittlung unterschiedlicher Wissensformenv.a. des wissenschaftlichen und des organisationalen Routinewissens – stellt in einflussreichen Professionstheorien die professionelle Strukturlogik dar; und (c) die Vermittlung von Wissen und Erkenntnissen und Fähigkeiten resp. Kompetenzen wird immer wieder als eigentlicher didaktischer Moment beschrieben: Didaktik wird dann zur Unterrichtstechnik oder zur optimalen Ausgestaltung des Lehr-Lern-Settings.

Der Beitrag sucht von einer Kritik der systematischen Verkürzung von Vermittlung als ausschließlicher Transferstrategie aus eine erweiterte Perspektive zu skizzieren, wie sie sich im Horizont einer Bestimmung des (sozial)pädagogischen Tuns als Grenzbearbeitung ausloten lässt.

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Notes

  1. 1.

    Auch wenn die Genealogie der Vermittlung bis heute nicht geschrieben ist, so lassen sich doch Marker dafür ausmachen, auf die z. B. Andreas Poenitsch (2002) verweist. Auch auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer ‚Theorie der Vermittlung‘ wird an manchen Stellen verwiesen (vgl. z. B. Koch 2014).

  2. 2.

    Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf den Abschlussbericht des Forschungsprojektes (vgl. Koch und Kessl 2012)

  3. 3.

    Alle genannten Eigennamen und Ortsbezeichnungen sind pseudonymisiert.

  4. 4.

    In der Analyse der Befunde wurden zwei Muster fachlicher Haltungen unterschieden: Zum einen findet sich eine personen- und situationsorientierte Haltung. Die pädagogischen Fachkräfte, die diese Haltung aufweisen, lassen sich in ihrem pädagogischen Handeln stark von aktuellen Gegebenheiten und Anforderungen leiten, die den Gruppenalltag bestimmen. Sie berücksichtigen dabei nach eigener Einschätzung die Gesamtsituation der Gruppe, achten aber insbesondere auf die Bedürfnisse und Wünsche der einzelnen Kinder, denn diese seien in ihrer Individualität wahr und ernst zu nehmen. Ihr fachliches Handeln ist entsprechend von Flexibilität, Offenheit und Spontaneität geprägt. Wichtig ist ihnen, den Kindern eine Teilhabe am alltäglichen (Gruppen-)Geschehen sowie Selbsterfahrungen zu ermöglichen, und außerdem, in der Beziehung zu den Kindern authentisch zu sein; und zum anderen lässt sich eine strukturorientierte Haltung rekonstruieren. Die in diesem Sinne handelnden pädagogischen Fachkräfte orientieren sich deutlich an strukturellen Vorgaben wie der Umsetzung des vorgegebenen Tagesablaufs (inklusive der Förder- und Projektangebote), der Einhaltung von Regeln und Absprachen sowie der Arbeit mit den individuellen Stufen- und Verstärkerplänen. Ihr professioneller Blick richtet sich somit vor allem auf die konkreten Verhaltensmuster der Kinder. Das hat ein deutlich distanzierteres Verhältnis zu den Kindern zur Folge. Alles, was dabei nicht den strukturellen Vorgaben entspricht bzw. deren Umsetzung entgegen steht, wird von den pädagogischen Fachkräften entsprechend als problematisch und belastend für die eigene Arbeit eingeschätzt.

  5. 5.

    Der Tagesablauf gestaltet sich in der Wohngruppe in der folgenden Weise: 6:30–8:00 Wecken und gemeinsames Frühstück; 8:00–12:00 Schulunterricht; 12:00–13:30 Vorbereitung des Mittagessens und gemeinsames Mittagessen in der Gruppe; 13:30–14:30 Ruhezeit; 14:30–16:30 verpflichtende Teilnahme an Projekten und Therapie; 16:30–18:30 frei verfügbare Zeit; 18:30–19:30 Vorbereitung des Abendessens und gemeinsames Abendessen in der Gruppe; 19:30–21:00 Tagesabschlussrunde mit allen Kindern, gemeinsame Abendgestaltung; 21:00 Vorbereitung der Nachtruhe; 21:30 Nachtruhe.

  6. 6.

    Die grundlagentheoretischen Schwierigkeiten der Dichotomisierung von ‚Individuum und Gesellschaft‘ bleiben an dieser Stelle ausgeblendet (vgl. dazu Kessl 2015/i.E.).

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Kessl, F. (2016). „Vermittlung trotz(t) Zwang?“ Einige Einsichten aus der empirischen Analyse geschlossener Unterbringung für eine Perspektive der Grenzbearbeitung. In: Zipperle, M., Bauer, P., Stauber, B., Treptow, R. (eds) Vermitteln. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-08560-5_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-08560-5_3

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

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