Zusammenfassung
Qualitative Einzelinterviews bieten ein für viele Fragestellungen der Opfer-, Täter- oder Zeugenschaft gut auswertbares Material. Bei einer nicht zu strukturierten Interviewführung haben die Interviewten genug Raum, um ihre eigene Sichtweise zu entfalten. So können subjektive Sichtweisen in ihrer Vielfalt abgebildet und zu Mustern geordnet und gruppiert werden (Typenbildung). Auswertungen können sowohl die Inhalte als das, was erzählt wurde, aufnehmen, als auch über eine Analyse dessen, wie erzählt wurde, hermeneutisch-rekonstruktiv Sinn herausarbeiten. Hermeneutisch ausgewertet, bieten qualitative Einzelinterviews einen besonderen Zugang zum Verständnis, wie Machtrelationen und Gewaltbeziehungen der Geschlechter, die im Kern der hier ausgewählten Gewaltformen stehen, konstituiert und aufrechterhalten werden. Der Beitrag geht auf methodologische Besonderheiten der qualitativen Gewaltforschung ein und diskutiert Probleme und „best practice“ der Stichprobengewinnung, der Gestaltung der Interviewsituation und der Leitfadenerstellung. Zwei ergiebige, konversationsanalytische orientierte, hermeneutische Auswertungsvorgehen werden vorgestellt.
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Notes
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Weiter fanden Gruppendiskussionen mit unterschiedlichen Gruppen Verwendung, die kollektive Orientierungen zu unterschiedlichen Fragestellungen erhoben (siehe der Beitrag von Sandra Glammeier in diesem Bd. ). Die Methoden der Teilnehmende Beobachtung, Diskursanalyse, Bild- oder Videoanalyse sind eine Option für bestimmte Fragestellungen, sie sind aber derzeit wenig verbreitet. Gloor und Meier haben die Ergiebigkeit von Dokumentenanalysen anhand der Auswertung von Polizeiakten vorgeführt und methodisch reflektiert, aber auch dieses Procedere wird selten genutzt (Gloor und Meier 2013).
- 2.
Auch Bilder oder Videos oder beobachtete Situationen können als Text, definiert als nicht zufällige Anordnung von Symbolen, „gelesen“ werden, um daraus Sinn zu rekonstruieren. Wenn von „textförmigen Daten“ die Rede ist, ist dieses weite Verständnis von Text gemeint.
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Kann man z. B. Gewalttäter in einem rekonstruktiven Zugang „zu gut“ verstehen und damit eine eigene moralische Ordnung gefährden?
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Qualitative Interviews mit Experten und Expertinnen werden hier nicht einbezogen, da sie methodisch vergleichsweise einfach zu handhaben sind.
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Dies dient dem Forschungsziel, bewusst Vielfalt zu erzeugen.
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Ein solches Element ist z. B. das Kontrastieren und das generative Fragen bei Grounded Theory.
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Eine Ausarbeitung des übergreifenden Rahmens narrativer Analysen findet sich bei Lucius-Hoene 2010. Ein Bezug zur diskursiven Psychologie ist nicht zwingend. Die hier anschließende Diskussion zum spezifisch psychologischen Verständnis von Bewältigung wird ausgelassen (s. Lucius-Hoene 2002, S 194 ff).
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Dies spielt auf die Charakterisierung von Grounded Theory als Methode an, die sich ohne den vermittelnden Theoriebezug den Daten zuwenden möchte.
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Dies ist anders als das vom Inhalt her verwandte Konzept der Kontrollüberzeugungen, die nur eine externale und eine internale Kontrolle kennen.
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Diese müssen nicht faktischen Machtverhältnissen entsprechen, sind aber insofern „wirklich“, als die Konsequenzen real sind.
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zusammen mit den zwei anderen sprachlichen Textbesonderheiten der Zeitvorstellung und der Konstruktion des Verhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
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Ein Querbezug zur Erklärung von Gewaltgeschehen über Konfigurationen von unterschiedlichen beteiligten Rollen (z. B. der potenziellen Unterstützung des Opfers, der Anfeuernden etc.) bietet sich an dieser Stelle an (Forschung zu Bullying: Scheithauer et al. 2003).
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Helfferich, C. (2016). Qualitative Einzelinterviews zu Gewalt: Die Gestaltung der Erhebungssituation und Auswertungsmöglichkeiten. In: Helfferich, C., Kavemann, B., Kindler, H. (eds) Forschungsmanual Gewalt. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06294-1_7
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