Zusammenfassung
Der Beitrag diskutiert Wahlen im Lichte ausgewählter Demokratietheorien. Für diese Theorien zeichnen sich demokratische Wahlen dadurch aus, daß alle Bürger in regelmäßigen Abständen eine freie Wahl zwischen mindestens zwei Kandidaten oder Parteien treffen können und das Wahlergebnis verbindliche Wirkung hat. Die Theorien unterscheiden sich jedoch darin, welchen Wert sie Wahlen für die Verwirklichung demokratischer Werte zuschreiben. Elitistische oder ökonomische Theorien (Weber, Schumpeter, Downs) sehen Wahlen als notwendige und hinreichende Bedingung für die Verwirklichung demokratischer Werte. Für sozialliberale und republikanische Theoretiker (Rawls, Pettit) sind Wahlen nur eine notwendige Bedingung, für Anhänger kommunitaristischer und deliberativer Theorien sind sie weder notwendig noch hinreichend zur Verwirklichung demokratischer Werte.
Schlagworte: Demokratietheorie; Wahl; Legitimation; elitistische Theorie; ökonomische Theorie; sozialliberale Theorie; republikanische Theorie; kommunitaristische Theorie; deliberative Theorie.
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Notes
- 1.
Etwa: Egalité, Liberté, Fraternité!
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In seiner Einleitung zu „Reflective Democracy“ (2003) vermutet etwa Robert Goodin: „But while voting might constitute a necessary condition of democratic rule, it is not necessarily sufficient. It may not even be what matters most in ensuring the sort of systematic responsiveness towards one another which characterizes a genuinely democratic polity“ (Goodin; 2003, 1).
- 3.
„Demokratietheorie“ und „Demokratiemodell“ werden im weiteren als Synonyme verwendet. Bei den Demokratietheorien, die hier vorgestellt werden, handelt es sich vorwiegend um normative Theorien der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.
- 4.
Wie groß die Abstände zwischen Wahlen sein sollen, hängt allerdings von der zugrundeliegenden Demokratieauffassung ab. Die vorgeschlagenen Intervalle sind um so kürzer, je mehr Wert der Verwirklichung von Wählerwünschen zugesprochen wird; sie sind um so länger, je mehr Wert auf die Einräumung von Spielräumen gelegt wird, die es den Regierenden erlauben, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Das amerikanische Wahlsystem ist ein Beispiel für einen Kompromiß zwischen beiden Überlegungen: die Repräsentanten, die nur auf zwei Jahre gewählt sind, fühlen sich eher ihrem Wahlkreis verpflichtet, während die auf sechs Jahre gewählten Senatoren bei ihren Entscheidungen nicht nur die Wünsche der Wähler ihres Heimatstaates, sondern auch die Interessen des Bundes berücksichtigen können. (Fast) alle Gesetze müssen aber gleichlautend von beiden Häusern verabschiedet werden.
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Dolf Sternberger zählt zu den definierenden Merkmalen von Wahlen zudem die Revidierbarkeit ihres Ergebnisses. Nach Sternberger stellt die Wahlentscheidung einen „Akt der Anvertrauung“ dar, der voraussetzt, „daß das Mandat nach gewisser Frist zurückgefordert werden kann.“ Denn: „Anvertrauung ist nicht Entäußerung“ (Sternberger; 1986, 127). Was aber, wenn die Mehrheit oder gar alle Wahlberechtigten sich für die Angebotsalternative entscheiden, die verkündet, die Demokratie abschaffen zu wollen, um einen starken Führer mit der Leitung der Staatsgeschäfte zu betrauen? Nach Sternberger handelt es sich dabei um einen Akt der Entäußerung, und der sei mit dem Begriff der Wahl unvereinbar. Popper hält diese Einschränkung des Wahlbegriffs für unangebracht. Es sei eine Sache, die Bezeichnung „Wahl“ sinnvoll zu definieren, und eine andere, das Ergebnis tatsächlicher Wahlen bedauerlich zu finden: „Und sollte [der Demokrat] alt genug werden, um den Tag zu erleben, an dem die demokratischen Institutionen durch Mehrheitsbeschluß zerstört werden, dann wird er aus dieser traurigen Erfahrung nur lernen, daß es keine sichere Methode zur Vermeidung der Tyrannei gibt“ (Popper; 1980, 176).
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- 7.
Damit ist in der Regel gemeint, daß wahlberechtigt nur Personen sind, die die Staatsangehörigkeit besitzen und nicht dauerhaft außerhalb des Staates leben, also von den zu treffenden politischen Entscheidungen auch betroffen sind (Ausnahmen sind etwa das Ausländerwahlrecht auf Kommunalebene, das mit dem Argument der dauerhaften Betroffenheit ausländischer Mitbürger von kommunalen Entscheidungen erteilt wurde).
- 8.
In Anlehnung an Lockes Formulierung (Locke; 1988, § 55).
- 9.
Die sogenannten „Wahlen“ in sozialistischen Staaten, bei denen die Bürger nur die Alternativen hatten, für die Einheitsliste zu stimmen oder am „Wahl“‐Tag zu Hause zu bleiben, sind, wie Sternberger es formuliert, nichts weiter als „organisierte Akklamationen“ (zitiert nach Vogel et al.; 1971, 15) und keine demokratischen Wahlen nach dem hier zugrunde liegenden demokratietheoretischen Grundverständnis. Nun gibt es allerdings Entscheidungssituationen, in denen nur ein Kandidat zur Verfügung steht und die dennoch den Kriterien für eine demokratische Wahl genügen (bei wissenschaftlichen Fachvereinigungen etwa – wie bei der DVPW, der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft – steht der künftige Vorsitzende häufig schon vor der Wahl fest, da nur eine Person kandidiert, und diese sich zuvor der Unterstützung der Mehrheit versichert hat). Dieser Fall liegt genau dann vor, wenn mögliche Konkurrenten nicht mit unzulässigen Mitteln an einer Kandidatur gehindert wurden.
- 10.
Wie aber die Diskussion über die Möglichkeit des Parteienverbots nach Art. 21.2 GG zeigt, mag es dennoch legitime Gründe geben, Parteien aus dem Wettbewerb auszuschließen. Welche Gründe das sein mögen, hängt allerdings von der spezifischen demokratietheoretischen Sicht ab, aus der man dieses Problem angeht.
- 11.
Das Wahlmännerkollegium, das den US‐amerikanischen Präsidenten wählt, ist folglich insofern eine undemokratische Einrichtung, als nach Angaben der US National Archives and Records Administration 24 der 50 Staaten „ihre“ Wahlmänner nicht per Gesetz dazu verpflichten, ihre Stimmen für einen bestimmten – etwa den mehrheitlich gewählten – Präsidentschaftskandidaten abzugeben. Siehe: http://www.archives.gov/federal_register/electoral_college/laws_2000.html(6.10.2003)
- 12.
Für Kelsen dient das Mehrheitsprinzip nicht nur der Herstellung von Handlungsfähigkeit; für ihn folgt es logisch aus der demokratischen Verpflichtung gegenüber der gleichen Freiheit der Bürger: „[D]er Gedanke, daß – wenn schon nicht alle – so doch möglichst viele Menschen frei sein, d. h. möglichst wenige Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen, führt auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip“ (Kelsen; 1981, 10).
- 13.
Anders ausgedrückt, ist auch Schumpeters Theorie mit dem Grundsatz der gleichen Wahl vereinbar; er wird nur nicht als definierendes Merkmal von Demokratie vorausgesetzt.
- 14.
Eine Auseinandersetzung mit den Argumenten, die den „Online-Wahlakt“ an sich betreffen, findet sich etwa in dem von Hubertus Buchstein und Harald Neymanns 2002 herausgegebenen Band „Online-Wahlen“.
- 15.
Für einen Überblick zu den Funktionen demokratischer Wahlen im allgemeinen vgl. Nohlen (2004), 28–31.
- 16.
Für einen umfassenden Überblick zur neueren Literatur siehe Schmidt (2000), 552–608.
- 17.
Vgl. auch Goodin (2003), 59–66.
- 18.
Für einen „neueren“ deutschen Beitrag zu den Grundlagen eines solchen „realistischen“ Demokratieverständnisses siehe Becker (1982).
- 19.
Die „Kompetenz“ der Eliten betrifft folglich weniger ihre sachliche Befähigung als ihre Behauptungskraft im politischen Machtkampf.
- 20.
Unter „Plebiszit“ versteht Weber vor allem die Direktwahl des Reichspräsidenten, die dadurch eine besondere inhaltliche Qualität erhalte, als es sich um einen Akt der Anvertrauung an den gewählten Führer handele. Mit „Plebiszit“ ist allerdings nicht „Volksentscheid“ in Sachfragen gemeint; gegenüber dieser Form der Bürgerpartizipation hatte Weber größte Bedenken (vgl. Weber 1980, 865).
- 21.
[…] und nicht, entgegen möglicher Erwartungen, von Rawls’ „Widersacher“ Robert Nozick. Nozick konzentriert sich nämlich in seinem politikwissenschaftlichen Hauptwerk „Anarchy, State, and Utopia“ (1974) vor allem auf die Frage nach den legitimen Funktionen von Staat, nämlich als Schutzvereinigung zur Bewahrung natürlicher, individueller Freiheiten; welche konkrete politische Ordnungsform dieser Minimalstaat annehmen soll, interessiert ihn nur am Rande: zur Demokratie sagt er wenig und zur Bedeutung von Wahlen nichts.
- 22.
Dabei sind die Rechtfertigungsgründe recht unterschiedlich: Während liberale Theoretiker wie Rawls, Brian Barry oder Bruce Ackerman für die Freiheit des Individuums eintreten und sich dem Schutz seiner Fähigkeit zur autonomen Entscheidungsfindung verpflichten, weil sie die Alternative, eine bestimmte Auffassung vom Guten zur verbindlichen Norm zu erheben, für das größere Übel halten, ist Meinungs‑ und Handlungsfreiheit für utilitaristische Denker wie John Stuart Mill notwendige Bedingung dafür, daß Individuen „ihren fairen Anteil am Glück“ erhalten und „die geistige, moralische und ästhetische Größe entwickeln, zu der sie von Natur aus befähigt sind“ (Mill; 1985, 133). Während also die einen Freiheit als Voraussetzung für Autonomie schützen wollen, weil Autonomie im Vergleich zu den Alternativen „das beste ist, was wir haben“ (Ackerman; 1980, 368), sehen andere darin einen unabhängigen Wert, von dessen Schutz das Glück des einzelnen und der Fortschritt der Gesellschaft abhängt. Einer dritten Sichtweise zufolge, wie sie John Locke vertritt, handelt es sich bei den liberalen Freiheitsrechten um vorstaatliche Rechte, die der Mensch von Natur aus besitzt. Die zentrale Aufgabe des Staates besteht nun darin, diese Rechte zu schützen, oder, wie Locke es formuliert: „The great and chief end therefore, of Men uniting into Commonwealths, and putting themselves under Government, is the Preservation of their Property“ (Locke; 1988, § 124).
- 23.
Wie Gutmann zu Recht bemerkt, hängt die Frage, ob man einen solchen Konfliktfall durch ein Verfassungsgericht entscheiden lassen soll, davon ab, ob man die kleine Gruppe von Richtern für zuverlässiger hält als die Mehrheit der Wähler oder der von ihnen gewählten Repräsentanten (Gutmann 1993, 414; vgl. auch Waldron 1999, 269–270).
- 24.
- 25.
Das Prinzip der Repräsentation sei nämlich „im Wesen oligarchisch […] und zerstör[e], was es rettet“ (Barber; 1994, 271), indem es die Entscheidungs‑ und Handlungsfähigkeit in Massendemokratien zum Preis der bürgerlichen Selbstregierung erkaufe.
- 26.
Autoren wie Barber und Fishkin, so sehr sich ihre Überlegungen auch unterscheiden mögen, sind Vertreter der Theorie deliberativer Demokratie (siehe hierzu Dryzek 2000).
- 27.
Die politische Willensbildung der Bürger dient nach dieser Auffassung von Demokratie zu „mehr als bloße[r] Legitimation“ der Machtausübung von seiten der Regierenden, aber zu „weniger als Konstituierung der Macht“, sondern dazu „den Gebrauch der […] Macht in bestimmte Richtungen [zu] lenken“ (Habermas; 1992, 364).
- 28.
- 29.
- 30.
- 31.
Diese Ausführungen sind nicht als Kritik an Fishkin, sondern lediglich als logische Weiterführung seiner Überlegungen zu verstehen. Inzwischen gibt es an der University of Texas, Austin, ein Center for Deliberative Polling unter der Leitung von James Fishkin, das seit 1994 vor allem in Großbritannien, aber auch in den USA und Australien deliberative Meinungsumfragen zu aktuellen Themen (Reform der Monarchie, Großbritannien und die Europäische Union, Reform der Verfassung von Australien etc.) durchführt. Die Ergebnisse zeigen, daß sich die intensive Beschäftigung mit den Themen signifikant auf deren Beurteilung auswirkt, und in vielen Fällen scheint sie auch zu einer differenzierteren Einschätzung der Sachlage zu führen. Siehe http://www.la.utexas.edu/research/delpol (18.08.2004).
- 32.
Dieses Wunder ist allerdings an bestimmte empirische Bedingungen geknüpft: In Ländern mit einem Pro‐Kopf‐Einkommen von weniger als $1000 haben demokratische Institutionen nachPrzeworski eine durchschnittliche „Lebenserwartung“ von rund acht Jahren (Przeworski; 1999, 49) – das Wahlrecht hat also, wie schon Rawls und vor ihm Hermann Heller und viele anderen ausführten, nur dann einen Wert, wenn bestimmte materielle Voraussetzungen gegeben sind.
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