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Erinnern und Vergessen als Momente einer kritischen Theorie der Weltverhältnisse: Hartmut Rosa und Walter Benjamin

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Die Sozialität des Erinnerns
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Zusammenfassung

Hartmut Rosa greift im Rahmen seiner ‚Kritik der Zeitverhältnisse‘ für sein Konzept von Entfremdung an zentraler Stelle auf Walter Benjamins These eines mit Beschleunigung und Reizüberflutung einhergehenden Erfahrungsverlustes zurück. Dabei besitzt Erinnerung als konstitutives Strukturmoment von Erfahrung und Subjektivität einen enorm hohen Stellenwert, und umgekehrt führt eine Störung des Zusammenhangs von Erinnerung und Erfahrung zur Entfremdung. Für die weitere Bestimmung dieses Zusammenhangs sowie die Unterscheidung von Entfremdung und nicht-entfremdeter Erfahrung wird der Begriff des Vergessens als produktives und erfahrungskonstitutives Grundprinzip des Erinnerns sowie als Voraussetzung von Verdinglichung zentral

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Notes

  1. 1.

    Neben seinem Beschleunigungsbuch (Rosa 2005) beziehe ich mich auf den Aufsatz Entfremdung in der Spätmoderne. Umrisse einer Kritischen Theorie der sozialen Beschleunigung (Rosa 2011), in dem Rosa sein Entfremdungskonzept weiter entfaltet. Bei Benjamin ist der grundlegende Text Über einige Motive bei Baudelaire (Benjamin 1974b).

  2. 2.

    Auch sein neues Buch Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik (Rosa 2012) bringt in dieser Hinsicht nichts Neues. Die Stichworte Erinnerung, Vergessen und Gedächtnis tauchen im Register nicht einmal mehr auf und der Bezug auf Benjamin wird lediglich noch einmal kurz zusammengefasst. Dies scheint mir an einer auf die Beschleunigungsthese verengten Lektüre zu liegen, auf die Rosa im Zusammenhang mit seinen späteren Überlegungen zur Entfremdung zurückgreift, ohne eine erneute Lektüre mit dem Fokus auf die neue Thematik vorzunehmen.

  3. 3.

    Es handelt sich um Adornos Reaktion auf Benjamins Über einige Motive bei Baudelaire vom 29. Februar 1940 (Adorno und Benjamin 1994, S. 415–424).

  4. 4.

    Vgl. Rosa2011 , S. 235. Vgl. dazu auch das Buch von Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems (Jaeggi 2005), in dem Jaeggi Entfremdung ähnlich wie Rosa als eine Störung in der Weltaneignung bestimmt. Rosa stellt diesem Verständnis von Entfremdung ein zweites zur Seite und bestimmt Entfremdung als Zustand, „in welchem Subjekte Ziele verfolgen oder Praktiken ausüben, die ihnen einerseits nicht von anderen Akteuren oder äußeren Faktoren aufgezwungen wurden – sie verfügen durchaus über praktikable alternative Handlungsmöglichkeiten – welche sie aber andererseits nicht ‚wirklich‘ wollen oder unterstützen. […] Jedes Mal handeln wir zugleich ‚freiwillig‘ und gegen unseren ‚eigentlichen‘ Willen. Wenn ein solcher Zustand andauert, werden wir früher oder später (individuell wie kollektiv) ‚vergessen‘, was unsere ‚eigentlichen‘ Ziele und Absichten waren – und doch bleibt ein vages Gefühl der Fremdbestimmung ohne Unterdrücker. “ (Rosa 2011, S. 234 f.). Diese zweite Bestimmung von ‚Entfremdung‘ spielt in Rosas weiterer Entfaltung von Entfremdungsphänomenen jedoch eine untergeordnete Rolle und ist auch für den vorliegenden Zusammenhang zu vernachlässigen.

  5. 5.

    Dies hat Rosa bei einem Vortrag im Hamburger Institut für Sozialforschung am 02.07.2012 mündlich bestätigt. Bei dieser Gelegenheit ist zudem deutlich geworden, dass es sich bei Rosas Konzept von Entfremdung und von nicht-entfremdeter Erfahrung zu diesem Zeitpunkt noch eher um vage Ideen als um ausgearbeitete und theoretisch fundierte Überlegungen handelt. Sein neues Buch (vgl. Fußnote 2) präsentiert Rosa dementsprechend als Vorstudie zu einer ‚Soziologie der Weltbeziehung‘.

  6. 6.

    Vgl. Rosa 2005, S. 235 f.: Als Kehrseite von Reizüberflutung und Beschleunigung des Lebenstempos wird im 19. Jahrhundert ein Gefühl des Stillstands, der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ beschrieben, das Benjamin als Zeiterfahrung der ‚leeren homogenen Zeit‘ schildert und das sich unschwer als Entfremdungserfahrung deuten lässt. Auch Rosa berücksichtigt diese paradox-komplementäre Kehrseite der Beschleunigung mit der Metapher des rasenden Stillstands: „Die Zeit rast, weil im Raum der Ströme die sozialen Veränderungsraten steigen und weil die De-Kontextualisierung und das Episodisch-Werden von Erlebnissen und Handlungen tendenziell die Erinnerungsspuren schrumpfen lassen und daher […] die Erfahrung des beschleunigten Vergehens der Zeit begünstigen. Sie steht still, weil sich in der zeitlosen Zeit hinter den Veränderungen keine Entwicklung mehr erkennen lässt, sodass das Leben aufgrund der fehlenden zeitlichen Gestaltungsperspektive wie eine ziellose Drift durch wechselnde Situationen, und damit: wie die Wiederkehr des immer Gleichen erscheint“ (Rosa 2005, S. 385 f.).

  7. 7.

    So lassen wiederholte Ortswechsel die räumliche Weltbeziehung zunehmend zu einer rein instrumentellen werden, so dass die Räume nicht mehr im Sinne einer Intimitätsbeziehung als vertrautes ‚zu Hause‘ empfunden werden und die eigene Identität nicht berühren. Die Beschleunigung der Austauschraten der Dinge, die ‚Wegwerfgesellschaft‘, macht außerdem Prozesse des identitätskonstituierenden ‚Anverwandelns‘ von Alltagsgegenständen zunehmend unwahrscheinlich. Durch das Überangebot an bereitstehenden Informationen und Optionen sind die Subjekte zudem im eigenen Handeln beständig mit Vorgängen konfrontiert, die sie nicht völlig durchschauen und denen gegenüber sie keine Routinen ausgebildet haben, die sie sich also nicht angeeignet haben. Auch haben die Menschen in ihrem Alltag so viele soziale Kontakte, dass es ihnen schwerfällt, sie sich ‚anzuverwandeln‘. Dies macht es unwahrscheinlich, dass Interaktionsbeziehungen konstitutiv werden. Vgl. dazu mit vielen Beispielen Rosa 2011, S. 236 ff.

  8. 8.

    Benjamin schreibt in einer Notiz zu seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“ (Benjamin 1974a, S. 1232).

  9. 9.

    Die ‚mémoire volontaire‘, die „sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet“, stellt Proust und Benjamin zufolge zwar einen Datenspeicher bereit, auf den das Bewusstsein jederzeit Zugriff hat, die registrierten Daten sind aber nichtssagend für das Selbst (Benjamin 1974b, S. 609 f.). Vgl. dazu Proust 2004, S. 65–71. ‚Mémoire volontaire‘ ließe sich dementsprechend besser mit ‚Gedächtnis‘ bzw. ‚ins Gedächtnis rufen‘ übersetzen, während ‚mémoire involontaire‘ die genuine Erinnerung meint.

  10. 10.

    Das Gedächtnis weist Benjamins Begriff zufolge zwei verschiedene Dimensionen auf: zum einen den willentlichen und bewussten Abruf von Wissen, die Proustsche ‚mémoire volontaire‘, die Benjamin dem ‚Erlebnis‘ zuordnet, andererseits den unbewussten Hintergrund, der der zufällig auftretenden und erfahrungsbildenden ‚mémoire involontaire‘ die Inhalte liefert. Vom Gedächtnis ist hier also lediglich im Zusammenhang mit der Erinnerung als Bewusstseinsleistung die Rede, nicht von ‚nicht-deklarativen‘ Formen des Gedächtnisses.

  11. 11.

    Adorno und Benjamin 1994, S. 417. Adorno kann sich für seine Verbindung von Vergessen und Verdinglichung durchaus auf die Tradition der Verdinglichungstheorie berufen, vgl. dazu Hofer 2011. Die für Benjamin grundlegenden Texte zur Verdinglichungstheorie sind das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis (Marx 1969, S. 85–98) und Georg Lukács’ Text über Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats (Lukàcs 1968).

  12. 12.

    Vgl. dazu Benjamins Hinweis: „Warum soll ich Ihnen verheimlichen, daß ich die Wurzel meiner ‚Theorie der Erfahrung‘ in einer Erinnerung aus der Kindheit finde. Meine Eltern machten an den Orten, wo wir auf Sommerwohnung waren, wie natürlich, mit uns Spaziergänge. Wir Geschwister waren zu zweit oder zu dritt. Der, an den ich hier denke, ist mein Bruder. Wenn wir von Freudenstadt, von Wengen oder von Schreiberhau aus irgendeines der obligaten Ausflugsziele besucht hatten, so pflegte mein Bruder zu sagen: ‚Da wären wir nun gewesen‘. Das Wort hat sich mir unvergesslich eingeprägt“ (Adorno und Benjamin 1994, S. 424 f.).

  13. 13.

    Vgl. Benjamin 1974b, S. 644, 647. Zu den verschiedenen – und teilweise widersprüchlichen – Verwendungen des ‚Aura‘-Begriffs bei Benjamin vgl. Fürnkäs 2000.

  14. 14.

    Den von Hofer (vgl. Fußnote 39) genannten Dimensionen des Vergessens in der Verdinglichung, von denen im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die ‚Entstehungsvergessenheit‘ und die ‚Qualitätsvergessenheit‘ hervorzuheben sind, wäre vor diesem Hintergrund eine weitere hinzuzufügen, die mit dem Ausdruck ‚Beziehungsvergessenheit‘ wohl am deutlichsten bezeichnet werden könnte.

  15. 15.

    Den Ausdruck ‚Verlusterfahrung‘ übernehme ich von Wolfgang Bock, vgl. Bock 2010.

  16. 16.

    Zu diesem Ansatz vgl. auch die Einführung in zur Lippe 1974, S. 9 ff.

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Denschlag, F. (2014). Erinnern und Vergessen als Momente einer kritischen Theorie der Weltverhältnisse: Hartmut Rosa und Walter Benjamin . In: Dimbath, O., Heinlein, M. (eds) Die Sozialität des Erinnerns. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03470-2_8

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