Zusammenfassung
Der in Tunesien begonnene Protest des „Arabischen Frühlings“, welcher durch einen präzedenzlosen Ansteckungseffekt zu einem regionalen Protest wurde und sich jeweils nationalen Rahmenbedingungen anpasste und diese befruchtete, verlief im Nahen Osten höchst unterschiedlich. Alleine der exemplarische Befund, dass es in erster Linie die Republiken der Region waren, die von den Protesten betroffen waren, wohingegen die Monarchien Jordanien und Marokko nur von kleineren Protesten und die arabischen Golfmonarchien von keinen signifikanten Protesten betroffen waren (Ausnahme Bahrain), wirft zahlreiche Fragen nach den Hintergründen und Entwicklungsperspektiven der Länder des Nahen Osten im Zuge des Arabischen Frühlings auf. Diesen empirischen Befund in einem ersten Schritt erarbeitend, versucht dieser Beitrag die Frage nach den Ursachen und Hintergründen der politischen Veränderung jenseits von kurz- und mittelfristigen Analysezeiträumen herzuleiten und in einem zeithistorischen und politisch-normativen Zugang (Legitimität der jeweiligen staatlichen Ordnung und der Regime) nach Erklärungskraft zu suchen.
Der Autor dankt den Herausgebern des Bandes und Christoph Schumann für die wertvolle Kommentierung des Manuskripts. Ihm, Christoph Schumann, der im September 2013 viel zu früh von uns gehen musste, sei dieser Beitrag in tiefster Verbundenheit und Freundschaft gewidmet.
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Notes
- 1.
Für eine weiterführende Beschäftigung mit der Rolle neuer Medien im Zuge politischer Transformationsprozesse am Beispiel des Arabischen Frühlings, vgl. Kneuer und Demmelhuber 2012, S. 30–38.
- 2.
Ursprünglich zurückgehend auf den österreichischen Staatsrechtler Georg Jellinek, 1851–1911, vgl. dazu Anter (2004)
- 3.
Zum Beispiel: libyscher ‚Volksmassenstaat‘ unter Revolutionsführer Ghaddafi.
- 4.
Für eine unterschiedliche Kategorienbildung von ‚politischer Ordnung‘ als ‚normative und symbolische Verfasstheit der Gesellschaft‘, vgl. Schumann 2013a, S. 35.
- 5.
Von West nach Ost: Marokko, Jordanien, Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Katar, Vereinigte Arabische Emirate (sieben zu einer Föderation vereinigte Emirate, also de facto Monarchien) und das Sultanat Oman.
- 6.
Für eine alternative Typenbildung, welche die Monarchien der arabischen Halbinsel noch subdifferenziert in ‚Nationalmonarchien‘ (bspw. Bahrain) und ‚patriarchalische Familienmonarchien‘ (bspw. Vereinigte Arabische Emirate), vgl. Schumann 2013b, im Erscheinen.
- 7.
Für eine Studie der Modernisierung der Tradition am Beispiel der Nutzbarmachung des Internets durch die Herrschenden, vgl. Demmelhuber 2012b, S. 51–53.
- 8.
Im Allgemeinen bezeichnet Tradition die Weitergabe von Vorstellungen, Handlungsmustern, Wertevorstellungen und Stilrichtungen (auch zum Beispiel in Kunst und Architektur) innerhalb einer sozialen Gruppe oder zwischen Generationen. Tradition umfasst dabei mehr als Gewohnheit, Brauchtum und Sitte, da dem Traditionsbegriff konventionalisierte Regelmäßigkeiten und Formen von übertragener Sinnhaftigkeit des sozialen Handelns einer Gruppe zugrunde liegen. Diese Regelmäßigkeiten des sozialen Handelns sind wiederum nicht als statisch sondern qua Reflektion darüber in der Gegenwart auch als anpassbar zu verstehen (Hammer 1992) und somit konstitutiver Bestandteil der Gegenwart (Shils 1981, S. 13). Tradition soll im Folgenden den Rückgriff auf historisch gewachsene, überlieferte Herrschafts- und Organisationsprinzipien der tribalen Stammes- und Clanstrukturen auf der arabischen Halbinsel umfassen, die einerseits religiös determiniert sind und andererseits auch auf überlieferte Handlungsmuster der Stämme auf der arabischen Halbinsel rekurrieren (im Vergleich dazu die ‚erfundene Tradition’ von Hobsbawm und Ranger 2006).
- 9.
Majlis ist eine soziopolitische Versammlungstradition (‚Sitzrunde’) in traditionell clan- und stammesorganisierten Gemeinschaften, in welcher ein Mitglied des herrschenden Stamms oder der königlichen Familie Untergebene von assoziierten Familien oder anderen Stammesgruppen empfängt und deren Anliegen aufnimmt (vgl. Encyclopaedia of Islam (1986), Bd. V: 1031–1082).
- 10.
Shūrā steht für Konsultation und ist eine überlieferte Methode wie vorislamische, arabische Stämme ihre Stammesführer auswählten und für Entscheidungen mit einbanden. Das Shūrā-Prinzip wird auch an zwei Stellen im Koran angeführt (vgl. Koran, 42:38 und 3:159; zusätzlich eine Stelle der innerfamiliären Konsultation, vgl. 2:233), sodass es als vorislamische Tradition nun auch eine religiös legitimierte Tradition (Sunna) wurde und dementsprechend auch in der Geschichte islamischer Reiche ab dem 7. Jahrhundert häufig verwendet wurde (vgl. Encyclopaedia of Islam (1997), Bd. IX: 504–506).
- 11.
Diese Überlegung steht hier in der Tradition von Shmuel N. Eisenstadt und seiner „Tradition der Moderne“ (Eisenstadt 1979, S. 280) beziehungsweise in Abgrenzung zu der exklusiveren Begriffspaarung bei Max Weber (1972, S. 12), was das Verhältnis oder Nicht-Verhältnis von Moderne und Tradition betrifft.
- 12.
Zur Veranschaulichung der Personalisierung des Monarchen als ‚Vater der Nation‘, der den Weg in die Moderne beschritt, siehe auch das Beispiel des 2004 verstorbenen ‚Gründungsvaters‘ Sheikh Zayed bin Sultan Al Nahyan der Vereinigten Arabischen Emirate unter der offiziellen Website: http://www.ourfatherzayed.ae (zuletzt eingesehen am 10. Januar 2013).
- 13.
Für die kleineren Golfmonarchien (Kuwait, Katar, VAE, Bahrain und Oman) liegt die Staatsbürgerpopulation im niedrigen, einstelligen Millionenbereich.
- 14.
Empirische Revolutionsstudien zeigen aber, dass das nicht ein überraschender Befund sondern eher die Regel als die Ausnahme ist (vgl. Pawelka 2012, S. 6).
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Demmelhuber, T. (2014). Der Arabische Frühling seit 2011: Pluralität der Veränderung und die Suche nach Erklärungsansätzen. In: Cavuldak, A., Hidalgo, O., Hildmann, P., Zapf, H. (eds) Demokratie und Islam. Politik und Religion. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19833-0_12
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