Zusammenfassung
Peter L. Berger und Thomas Luckmann beschrieben einst die voraussetzungsvolle Ordnungsleistung von Institutionen vor dem Hintergrund der Robinsonade. Heinrich Popitz entwickelt eine ganze Machttheorie aus der Erfahrung des Kampfes um Liegestühle an Deck eines Kreuzfahrtschiffes. Und Pierre Bourdieu erfährt das Soziale im algerischen Bürgerkrieg unmittelbar und im wörtlichen Sinne als Kampffeld: Im analytischen Zentrum vieler Theorien steht eine unverwechselbare „Gründungsszene“, ein reales und begrenztes Bezugsproblem, das die Theoriebildung motiviert, anleitet und erdet. Gründungsszenen sind prägnante Miniaturen soziologisch virulenter Fragen und Phänomene. Sie durchkreuzen, das zeigen schon die Eingangsbeispiele, die zentrale disziplinäre Unterscheidung von Theorie und Empirie: Weder sind sie den Begriffen vorgelagerte und unmittelbare ‚Daten‘, noch sind sie nachgelagerte und artifizielle Illustrationen. Sie stiften im weitesten Sinne des Wortes einen „Realitätsbezug“, der sich nicht in die Kategorien der methodisch gesicherten Erhebung empirischer Tatbestände übersetzen lässt. Sie können literarischen, biographischen oder anekdotischen Ursprungs sein und sind dennoch nicht bloßes ‚Decorum‘. Vielmehr verweisen sie noch im allgemeinsten theoretischen Rahmen auf den Erfahrungs- und Sinnhintergrund jeder theoretischen Abstraktion. Gründungsszenen sind – so könnte man vorläufig formulieren – Fetzen von „Weltstoff“, die in das theoretische Netz der Begriffe, Modelle, Konzepte eingewoben werden. Sie exemplifizieren, plausibilisieren und realisieren Theorien. Denn selbst die allgemeinste, abstrakteste und universellste Theorieaussage kann nur durch den Verweis auf einen konkreten ‚Fall‘ legitimiert werden. Theorien entstehen nicht aufgrund abstrakter Modellierungsfragen, sondern nehmen ihren Ausgang von virulenten Ereignissen, Kontroversen und Problemlagen. Sie adressieren, beschreiben und inszenieren einen Ausschnitt der sozialen Welt, der ohne ihre Hilfe unsichtbar oder unverständlich bliebe. Diese episodischen Beobachtungen, Schilderungen, Referenzen fundieren den Anspruch der Soziologie auf den Status einer Wirklichkeitswissenschaft gerade dort, wo sie theoretisch argumentiert. Anders als rückbezogene Verfahren der methodisch kontrollierten Theorie-Testung durch empirische Forschung ermöglicht die Analyse des scheinbar unmittelbaren Auftauchens von Realitätsbezügen eine genauere Beleuchtung des Verhältnisses von Theorie und Wirklichkeit.
There is no abstract art. You must always start with something. Afterward you can remove all traces of reality.Pablo Picasso
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Notes
- 1.
Vgl. zu Ersterem auch den Beitrag von Hella Dietz in diesem Band. Einen Überblick über die anglo-amerikanische Debatte geben Simons (1990) und McCloskey et al. (1987). Eine explizit soziologische Perspektive erläutern Knoblauch und Reichertz (2005), die auch die – verspätete – deutschsprachige Rezeption resümieren.
- 2.
Neben Kuhns stark auf die Naturwissenschaften bezogener Perspektive könnte hier auch eine Auseinandersetzung mit Hans Blumenbergs Arbeiten instruktiv sein. So untersucht er in seinen metaphorologischen Studien das beständige Auftauchen bestimmter Bilder aber auch Szenen in der Philosophie. „Das Lachen der Thrakerin“ (1987) bspw. verfolgt die Genese und Verwandlung der Thales-Anekdote durch die Ideengeschichte und thematisiert damit das auch hier angesprochene Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit.
Literatur
Blumenberg, Hans. 1987. Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fischer, Joachim, und Michael Makropoulos, Hrsg. 2004. Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München: Fink.
Heeg, Günther. 1999. Szene. In Literaturwissenschaft: Einführung in ein Sprachspiel, Hrsg. Heinrich Bosse und Ursule Renner, 251–269. Frankfurt a. M.: Rombach.
Hirschauer, Stefan. 2008. Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Hrsg. Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer, und Gesa Lindemann, 165–187. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Joas, Hans, und Wolfgang Knöbl. 2004. Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Kuhn, Thomas S. 1970. The structure of scientific revolutions. 2. Aufl. Chicago: University of Chicago Press.
Lindemann, Gesa. 2005. Theorievergleich und Theorieinnovation. Plädoyer für eine kritisch-systematische Perspektive. In Was erklärt die Soziologie?, Hrsg. Rainer Greshoff und Uwe Schimank, 44–64. Berlin: LIT.
Luhmann, Niklas. 2005. Unverständliche Wissenschaft. Probleme einer theorieeigenen Sprache. In Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Hrsg. Niklas Luhmann, 193–201. Wiesbaden: VS.
McCloskey, Deirdre, Allan Megill, und John Nelson, Hrsg. 1987. The rhetoric of the human sciences: Language and argument in scholarship and public affairs. Wisconsin: University of Wisconsin Press.
Reichertz, Jo. 2003. Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Qualitative Sozialforschung. Bd. 13. Opladen: Leske und Budrich.
Simmel, Georg. 1916/1917. Der Fragmentcharakter des Lebens. Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik. LOGOS. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 6 (1): 29–40.
Simons, Herbert W., Hrsg. 1990. The rhetorical turn: Invention and persuasion in the conduct of inquiry. Chicago: University of Chicago Press.
Strübing, Jörg. 2004. Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. Wiesbaden: VS.
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Farzin, S., Laux, H. (2014). Was sind Gründungsszenen?. In: Farzin, S., Laux, H. (eds) Gründungsszenen soziologischer Theorie. Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19801-9_1
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