Spätestens seit dem Strukturalismus gilt die Befassung mit formalen Eigenschaften literarischer Texte nicht nur für die literaturwissenschaftliche Befassung mit lyrischen Texten als ein methodisches sine qua non. Auch in Hinblick auf Texte der dramatischen und epischen Gattung ruht eine wissenschaftliche, rational argumentierenden Auseinandersetzung nach dem gegenwärtigen Selbstverständnis moderner Literaturwissenschaften, wo sich diese als Textwissenschaften definieren, mittlerweile notwendig auf einer methodisch ausgewiesenen Textanalyse auf.

Unter den Begriff „Textanalyse“ fallen dabei allerdings zweierlei Dinge – die Textanalyse als Textsorte, und die Textanalyse als geregeltes Verfahren. Der Fokus der gegenwärtigen Sektion liegt auf dem Verfahrensaspekt. Was aber ist ein textanalytisches Verfahren, und warum ist eine Verständigung über das Konzept im Rahmen einer digitalen Literaturwissenschaft angezeigt? Dazu seien einleitend drei Thesen formuliert:

  1. 1.

    Was unter den Begriff „Analyse“ – und also auch: Textanalyse – fällt, lässt sich sowohl unter dem Gesichtspunkt der argumentativen & strategischen Funktion wie unter dem der methodischen Organisation betrachten. Ich möchte hier die These wagen, dass wir im wissenschaftlichen Diskurs der digitalen Literaturwissenschaften gegenwärtig dazu tendieren, umstandslos auf die Organisation und die Verfahrenslogik textanalytischer Verfahren im Sinne angewandter Methoden zu fokussieren. Das ist im Sinne der Optimierung und Professionalisierung der digitalen Literaturwissenschaften zwar gut und wichtig – aber wir sollten diese Verfahren durchaus auch unter dem Gesichtspunkt ihres rhetorischen und institutionellen Profils innerhalb des methodischen Gesamtspektrums der Textwissenschaften befragen. Auch und gerade formale Gegenstandsanalysen operieren immer vor dem Hintergrund einer Gegenstandstheorie, zu der sie sich konzeptionell affirmativ oder kritisch positionieren; sie fungieren zudem oftmals als das zentrale interdisziplinäre Interface, über das nicht allein Konzepte und Verfahren ausgetauscht werden, sondern auch die unterschiedlichen disziplinären Praktiken der sozialen Organisation von Forschung untereinander vermittelt werden können.

  2. 2.

    Eine der spannendsten Fragen im Zusammenhang der literaturwissenschaftlichen Methodenreflexion ist die Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen explorativen und hypothesengeleiteten, experimentellen Textanalysen. Indem die digitale Literaturwissenschaft sich dieser Frage widmet, forciert sie nun allerdings durchaus keinen ‚Paradigmenwechsel‘, im Gegenteil: sie schreibt eine weitaus ältere Tradition fort. So lesen wir etwa in Jochen Vogts weit verbreiteter Einladung zur Literaturwissenschaft aus dem Jahr 1999 zum Thema Hermeneutik:

    Sie wird einerseits, den hermeneutischen Regeln von Schleiermacher bis Habermas folgend, den Sachgehalt ihrer Texte im Kommentar erschließen. Sie muss aber andererseits immer die prinzipielle Vieldeutigkeit literarischer Texte bedenken und aus ihren jeweiligen Kommentaren nur behutsame Deutungen ableiten. Jede einzelne muss sich dabei um Plausibilität und Nachvollziehbarkeit bemühen, d. h. möglichst viele Aspekte eines gegebenen Textes integrieren und dabei anderen, konkurrierenden Deutungen standhalten können. Vor allem aber wird diese literarische Hermeneutik darauf achten müssen, durch welche Kunstmittel ein Text Bedeutung, besser: Bedeutungen, Sinn-Potentiale erzeugt.Footnote 1

    Was Vogt hier mit Blick auf die hermeneutische Texterschließung hervorhebt, ist die erforderliche Sensibilität für die textuellen, semantisch produktiven „Kunstmittel“. Einige dieser ‚Kunstmittel‘ lassen sich heute mittels digitaler Verfahren durchaus im Zuge eines textanalytischen preprocessing fassen. Nur: viele dieser digitalen Verfahren greifen dabei auf Modellierungen von Textphänomenen zurück, die aus der Linguistik, der kognitivistisch orientieren Informatik oder der mathematisch-statistischen Stochastik stammen. An die Stelle der expliziten, inhaltsbezogenen Deutungshypothese traditioneller Textauslegungen tritt so im Zuge der digitalen Operationalisierung literaturwissenschaftlicher Konzepte eine implizite Modellhypothese. Diese Modell- und Modellierungshypothesen kritisch zu reflektieren und sich darüber Klarheit zu verschaffen, inwiefern sie möglicherweise das jeweils thematische Textphänomen und ‚Kunstmittel‘ konzeptionell verfremden, ist für die digitalen Literaturwissenschaften von zentraler Bedeutung.

  3. 3.

    Das Konzept ‚Analyse‘ ist per se nicht selbstexplikativ. Im einleitenden Abschnitt des Eintrags der Stanford Encyclopedia of Philosophy zu dem Lemma lesen wir dazu:

    If asked what ‘analysis’ means, most people today immediately think of breaking something down into its components; and this is how analysis tends to be officially characterized. (…) This conception may be called the decompositional conception of analysis (…) But it is not the only conception, and indeed is arguably neither the dominant conception in the pre-modern period nor the conception that is characteristic of at least one major strand in ‘analytic’ philosophy. In ancient Greek thought, ‘analysis’ referred primarily to the process of working back to first principles by means of which something could then be demonstrated. This conception may be called the regressive conception of analysis (…). In the work of Frege and Russell, on the other hand, before the process of decomposition could take place, the statements to be analyzed had first to be translated into their ‘correct’ logical form (…). This suggests that analysis also involves a transformative or interpretive dimension.Footnote 2

    Bei der Lektüre der Beiträge in der Sektion „Textanalyse“ bleibt diese wichtige Unterscheidung im Hinterkopf zu behalten: wir sollten die im einzelnen vorgestellten Verfahren also darauf befragen, ob sie auf eine Textanalyse im Sinne der (wohlgemerkt logisch, nicht generativ oder genealogisch gemeinten) dekompositionellen, der regressiven oder der transformativen bzw. interpretativen Analysekonzeption hinauslaufen. Insbesondere der Hinweis auf den transformationellen, interpretativen Effekt der logischen Formalisierung, die der analytischen Dekomposition vorausgeht, scheint mir dabei einer zu sein, der für eine reflektierte Praxis wie für die weitere Methodenentwicklung im Feld der digitalen Textanalyse wichtig ist.

Damit zu den Beiträgen in dieser Sektion. In den nachfolgend präsentierten Überlegungen zu einer digitalen Textanalyse begegnen uns vier Konstellationen von Gegenstand und Methode:

  • erstens die Anwendung von an Korpora entwickelten bzw. trainierten digitalen textanalytischen Verfahren auf Einzeltexte, deren Profilierung oder Strukturierung analysiert werden soll (Berenike Hermann: Operationalisierung der Metapher zur quantifizierenden Untersuchung deutschsprachiger Texte im Übergang vom Realismus zur Moderne);

  • zweitens die korpusanalytische Textanalyse, die summarische oder differentielle Befunde zur untersuchten Textgesamtheit erarbeitet und dabei u. a. auch kanonisiertes ‚Expertenwissen‘ auf den Prüfstand stellt (Marcus Willand & Nils Reiter: Quantitative Analyse zur thematischen Figurenkonzeption im Drama; Thomas Weitin: Distanzmaße und Netzwerkanalysen bei einem mittelgroßen literarischen Korpus);

  • drittens die Erprobung und Diskussion neuer quantitativer und statistischer Verfahren, die als einzelne (Christof Schöch: Quantitative Semantik: word2vec für literaturwissenschaftliche Fragestellungen) oder in Kombination (Peer Trilcke: Small Worlds, Change Rates und die Netzwerkanalyse dramatischer Texte) als Kandidaten für das digitale literatur-wissenschaftliche Methodenrepertoire infrage kommen;

  • viertens die Selektion und partielle Abbildung dieses Repertoires, wie sie in der Konzeptionierungsphase z. B. eines DH-Projektes zur historischen Korpusanalyse erforderlich ist (Maciej Maryl: Operationalising the Change: Theoretical Foundations for the Quantitative History of Polish Literature 1989–2000).

Auffällig ist bei dieser Gesamtschau, dass das Thema „digitale Textanalyse“ zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend korpusbezogen verhandelt wird. Das hat einerseits plausible methodologische und technische Gründe, z. B. dort, wo statistische Verfahren involviert sind. Diese „korpuszentrierte“ Orientierung unseres Nachdenkens über die digitale Textanalyse wirft aber zugleich auch eine methodologische Grundsatzfrage auf, die nicht zuletzt strategische Konsequenzen für die Positionierung der digitalen Literaturwissenschaften vis-à-vis den traditionellen Philologien haben könnte. Zugespitzt und bewusst polemische gefragt lautet ein möglicher Einwand: Haben wir uns in der textanalytischen Praxis der digitalen Literaturwissenschaften faktisch bereits von der Kategorie des Einzeltextes als überhaupt legitimem Gegenstand, an dem man etwas lernen kann, verabschiedet? Können in der digitalen Literaturwissenschaft die in der traditionellen Philologien im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Einzeltexte von uns aus methodischer Notwendigkeit nur noch differentiell bzw. relational analysiert werden?

Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann hieße dies, dass der Einzeltext für die Weiterentwicklung digitaler Methoden der Textanalyse eine mittlerweile wegzuwerfende epistemische Leiter geworden ist und insofern einer Gegenstandsklasse angehört, über die wir nicht mehr reden können, sondern schweigen müssen. Im Nachdenken und Reden über das Thema „digitale Textanalyse“ ist nicht zuletzt zu dieser Frage eine klare, explizite Positionierung anzustreben – denn sie ist eine, die viele Vertreter der traditionellen berechtigter Weise an die digitale Literaturwissenschaft richten.