1 Präskript

Der folgende Beitrag behandelt die neugermanistische Digitale Edition in ihren theoretischen Prämissen sowie ihren strukturellen und methodischen Gegebenheiten. Die technologischen Rahmen der Digitalen Edition werden auf dieser Basis mitbedacht; es stehen aber nicht technische Einzelheiten in Hinblick auf divergente Software-Grundlagen oder spezifische Tools im Zentrum des hier vorgelegten Diskussionsbeitrags. Er versteht sich daher als philologischer, nicht als informatikzentrierter Blick auf das in Rede stehende Objekt.Footnote 1 Dies erscheint deshalb angemessen, weil die philologisch-phänomenologische Perspektive helfen kann, die im Titel des Beitrags annoncierte Reformulierung der neugermanistischen Edition vor dem Hintergrund auch der Geschichte von Theorie und Praxis der weit über ein Jahrhundert alten Historisch-kritischen Ausgabe und ihrer historischen Errungenschaften und Standards anzugehen. Damit sollen die Gewinne, die die Digitale Edition erzielen kann,Footnote 2 nicht gegen die Printedition ausgespielt, sondern in ein produktives Verhältnis zu ihr gesetzt werden. Insofern versteht der Beitrag den Medienwandel, der sich durch das Digitale vollzogen hat und immer noch weiter vollzieht, für die Editorik nicht als Revolution, sondern als Evolution.Footnote 3

2 Die Digitale Edition im literaturwissenschaftlichen Feld

Als 2007 das dreibändige Handbuch Literaturwissenschaft erschien, konnte es seinen zweiten Band Methoden und Theorien mit einem Großabschnitt Textkritik und Textbearbeitung eröffnen, in dem sich allein zwei Kapitel befanden: dasjenige zu Editionsphilologie und dasjenige zu Computerphilologie.Footnote 4 Die nächsten Großabschnitte beschäftigten sich dann mit Textanalyse und Textinterpretation, Textbewertung sowie Literaturgeschichtsschreibung.Footnote 5 In dieser Ordnung spiegelt sich nahezu eins zu eins die Sortierung der Germanistik in die drei „disziplinären Kerne[ ]“ ‚Editionsphilologie‘, ‚Literaturgeschichtsschreibung‘ und ‚Interpretation‘, die Peter Strohschneider und Friedrich Vollhardt 2002 in den Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes ansetzten, wobei sie bekanntlich der Editionsphilologie einen „in legitimatorischer Hinsicht insgesamt vergleichsweise unangefochtenen Status“ zuschrieben und sie als ersten dieser drei Grundpfeiler positionierten.Footnote 6 In der Ordnung des literaturwissenschaftlichen Feldes war durch die Struktur des Handbuchs Literaturwissenschaft nun die ‚Computerphilologie‘ mit der ‚Editionsphilologie‘ auf eine Ebene gestellt, und damit waren beide als Pfeiler der literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung situiert. Die Aufteilung der Wissensfelder, die die beiden Artikel im Handbuch Literaturwissenschaft bedienen, weist nun allerdings eine Überschneidung auf, die zwar den vorgegebenen Artikelrahmen geschuldet ist, die nun aber zugleich für die in Rede stehende Sachlage bezeichnend ist. Gemeint ist der Bereich der Digitalen Edition. Im Editionsphilologie-Artikel nur angerissen,Footnote 7 nimmt er im Computerphilologie-Artikel nicht nur einen größeren Raum ein,Footnote 8 sondern er wird auch zu einem Kerngeschäft des behandelten Teilfelds erklärt: „Die Erstellung digitaler Editionen ist eines der Hauptarbeitsgebiete für Computerphilologen.“Footnote 9 Zehn Jahre später hat sich das Feld der ‚Computerphilologie‘ weiter konturiert und kann mit der nunmehrigen Namensgebung Digital Humanities eine Eigenständigkeit im Rahmen der Geisteswissenschaften beanspruchen, wie z. B. die gleichnamige rezente Einführung aus dem Jahr 2017 ausweist.Footnote 10 Die Digitale Edition erhält in dieser Einführung innerhalb des Großabschnitts Digitale Objekte ein eigenes Kapitel. Zwar macht dieses Kapitel nur etwa ein Achtzehntel des Buches aus, doch gilt die Digitale Edition – ganz ähnlich wie zehn Jahre zuvor – als eines der „prominentesten Themen der Digital Humanities“.Footnote 11

Die Wertigkeit, die der Digitalen Edition in den Digital Humanities zukommt, hat offensichtlich mit zwei Aspekten zu tun: Zum einen kann das Arbeitsfeld der Digital Humanities seine Leistungsfähigkeit natürlich besonders gut an einem Bereich der literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung zeigen und so seine besondere Bedeutung für ein Kerngebiet der Geisteswissenschaften verdeutlichen. Damit erhalten die Digital Humanities eine hochqualitative Wertigkeit für die Literaturwissenschaft. Zum anderen ist die ‚Edition‘ allerdings ein Objekt, das aufgrund seiner Bestandteile und seiner Struktur den Digital Humanities vielfältige Erprobungs- und Entwicklungsmöglichkeiten der digitalen Technologie anbietet. Zu nennen sind aus den zentralen Anliegen der Edition nur die Bereiche Bild-Text-Bezüge, differente, auch zu parallelisierende Textansichten, nicht in gewöhnlicher, linearer Fließtextform, sondern durch spezifische Darstellungen sichtbar zu machende Variantenverhältnisse bzw. textgenetische Prozesse, interne und externe Verweise sowie Verknüpfungen mit Kontextmaterialien.

Es sind also die neuen technischen Möglichkeiten des Digitalen, die spezifische Ausprägungen der Edition im digitalen Medium erlauben. Verbunden mit diesen neuen technischen Möglichkeiten wurde in den Diskussionen der Digital Humanists die Ausstellung eines vollständigen qualitativen Wechsels, eines qualitativen Schubs, der die Digitale Edition von der Printedition in jeglichen Belangen unterscheide. Sie findet sich gebündelt in Patrick Sahles Definition der Digitalen Edition: „Scholarly digital editions are scholarly editions that are guided by a digital paradigm in their theory, method and practice.“Footnote 12 Dieser Definition liegt folgende Vorannahme zugrunde: „A digital edition cannot be given in print without significant loss of content and functionality.“Footnote 13 In Anschlag gebracht ist also ein Mehrwert der Digitalen Edition mit Bezug auf ihren Inhalt und ihre Funktionalität, der in Verbindung mit einem spezifischen theoretisch, methodisch und praktisch gegründeten Paradigma des Digitalen stehe. Doch gilt es gerade vor dem Hintergrund der Geschichte der neugermanistischen Printedition, die angeführten Elemente ‚Inhalt‘ und ‚Funktionalität‘ sowie die Bestandteile des annoncierten digitalen Paradigmas genauer in Hinblick auf ihre ursächlich digitale Spezifität zu betrachten.

3 Spezifischer Mehrwert der Digitalen Edition: Inhalt und Funktionalität

Ohne Zweifel darf für die Kategorien ‚Inhalt‘ und ‚Funktionalität‘ der Digitalen Edition ein spezifischer Mehrwert aufgrund ihrer medientechnologischen Leistungsfähigkeit gegenüber der Printedition zugesprochen werden. Dabei ist allerdings zwischen quantitativem und qualitativem Mehrwert zu differenzieren. Unter ‚quantitativem Mehrwert‘ sei ein Mehrwert verstanden, der sich auf einen größeren Umfang, eine zeitliche Beschleunigung bezieht, die die Nutzung eines Editionsteils angenehmer, praktischer, unaufwändiger und zeitsparender macht. Ein ‚qualitativer Mehrwert‘ meint einen solchen, der sich ursächlich aus einer bestimmten Darstellungs- oder Vermittlungsmöglichkeit der Digitalen Edition ergibt, die aufgrund der andersmedialen Bedingungen des Digitalen allein in der Digitalen Edition realisierbar und durch die Printedition grundsätzlich nicht einlösbar ist.

Für die Kategorie ‚Inhalt‘ trifft nun zunächst einmal der Quantitätsaspekt zu. Digitale Editionen können problemloser als Bucheditionen große Mengen an Texten oder Bildern aufnehmen. Das betrifft nicht nur Volltextwiedergaben etwa aller für die Edition relevanten Überlieferungsträger in Bild und Text, sondern auch Volltextwiedergaben von Kontextdokumenten, etwa zur Entstehung und (zeitgenössischen) Rezeption. Hinzu können umfangreiche Auszüge oder gar ebenfalls Volltextwiedergaben von Quellen, aber auch von literarischen Folien bzw. Referenztexten kommen. Zugleich können Erläuterungen ebenfalls umfassender angelegt werden, indem Verweistexte, zum Beispiel Wörterbuchartikel für sprachliche Erläuterungen oder Lexikonartikel für Sacherläuterungen, im Volltext – falls sinnvoll und rechtlich unbedenklich – in die Edition eingebettet werden. Dieser quantitative Inhaltsaspekt kann durch einen qualitativen Inhaltsaspekt ergänzt werden. Er betrifft vor allem die Integration solcher Dokumente in die Edition, die nicht zum Bereich der Text- oder der Bilddokumente gehören; letztere können ja prinzipiell auch durch die Printedition wiedergegeben werden. Andersmediale Dokumente mit Ton- oder Bewegtbildelementen können jedoch allein im digitalen Medium repräsentiert werden, weil das Printmedium kein Speicher- und Ausgabeformat für Audio- und Videodokumente bietet. Der qualitative Mehrwert der Kategorie ‚Inhalt‘ betrifft also solche Dokumente, die nicht dem statisch-visuellen Speicher- und Ausgabeformat der Printedition entsprechen. Insofern beruht dieser Mehrwert auf der Fähigkeit des Digitalen, andere nicht-statisch-visuelle Medienformate aufgrund der dem Digitalen inhärenten multimedialen Speicher- und Ausgabeoptionen zu inkorporieren. Dies wird nicht nur für den Erläuterungsteil einer Edition hilfreich sein, sondern kann die zentralen Objekte der Edition betreffen, nämlich genau dann, wenn das Werk oder Teile von ihm (auch) aus Ton- und/oder Filmdokumenten bestehen, es also nicht oder nicht nur schrifttextlich überliefert ist bzw. überhaupt nicht oder nicht nur schrifttextuell ist.Footnote 14

Die Elemente der Kategorie ‚Funktionalität‘ lassen sich weniger deutlich als die des ‚Inhalts‘ in eine quantitative und eine qualitative Merkmalsgruppe differenzieren, weil sich hier die Zuordnung bei den je einzelnen ElementenFootnote 15 als changierend erweist. So sind z. B. einfache Suchen nach Personen-, Orts- oder Werknamen bei einer Volltextsuche in einer Digitalen Edition nur quantitativ in Hinblick auf die Suchzeit gegenüber einer Printedition besser, wenn die Printedition ein entsprechendes Register von Personen-, Orts- oder Werknamen enthält. Die Printedition kann sogar in Hinblick auf die Suchergebnisse qualitätshaltiger sein, wenn sie indirekte Erwähnungen solcher Namen im Register ebenfalls erfasst und die Digitale Edition solche Stellen in einer einfachen Suche nicht auswirft, es sei denn, diese Stellen sind ebenfalls im Sinne einer registerartigen Erfassung entsprechend ausgezeichnet. Andererseits ermöglicht schon die einfache Volltextsuche in Digitalen Editionen oder – soweit die Suchparameter das erlauben – in Editionsteilen die beliebige Suche nach Wörtern, Begriffen, allemal jeglichen Zeichenketten, die der Benutzer bildet, einschließlich der Regulierung nach unterschiedlichen Schärfegraden der Suchen, was sämtlich eine qualitative Differenz zu den entsprechenden Möglichkeiten im Printmedium ausmacht. Herkömmliche Register und Indizes, die klassische Bestandteile der Printedition bilden, sind dann für die Digitale Edition nicht mehr nötig.

Die Verweisoptionen der Digitalen Edition unterscheiden sich auf quantitativer Ebene von denjenigen der Printedition dadurch, dass erstens editionsinterne Links die verknüpfte Stelle mit einem Klick ohne das umständlichere Blättern sichtbar machen, und zwar auch als Ansicht (in einem neuen Fenster o. ä.), die die Ursprungsansicht auf dem Bildschirm und damit vor den Augen des Nutzers hält, was beim Verschlagen von Buchseiten im gleichen Band nicht möglich wäre. Zweitens erlauben editionsexterne Verweise bei Referenzen zunächst einen quantitativen Zuwachs, indem sie sich des knapperen Raums für Zitate in der Buchedition entledigen und die Referenzstelle als ausführlicheres Zitat in die Edition integrieren oder mit einem externen Link auf diese an einem anderen digitalen Ort verweisen können, sodass der Nutzer den Umgebungstext der referenzierten Textstelle bzw. den zugehörigen Volltext (auch Bild, Ton, Film) direkt vorliegen hat, ohne ihn nach der bibliographischen Angabe in der Printedition erst an einem anderen Ort (in einer Bibliothek o. ä.) gegenständlich aufsuchen zu müssen. Wirklich qualitativ wird der externe Link in der Digitalen Edition erst dann, wenn er auf ein sich im Laufe der Zeit veränderndes, etwa aktualisiertes, aber unter der gleichen Adresse aufrufbares digitales Dokument bzw. eine solche Webseite verweist. Hier kann er nämlich durch die Hyperlinkstrukturoption des Digitalen zu einem je anderen Ergebnis führen, während der Verweis einer Printedition auf ein anderes Printobjekt zum immer gleichen Resultat führt.

Die Möglichkeit der sukzessiven Veröffentlichung bzw. der fakultativen Unabgeschlossenheit ist nun ein vorherrschend qualitatives Element, allerdings nur insofern, als mit ihm nicht die Verführbarkeit einhergeht, ein digitales Editionsprojekt auf dauerhafte Vorläufigkeit zu stellen, also es breit anzulegen, obwohl die Mittel und Detailkonzeption nicht ausreichen, es zu beenden. Dauerhafte Projektruinen oder besser Projektfragmente sind für die Außenwahrnehmung nicht hilfreich. Die Nachbesserungsmöglichkeit bei neuen Forschungserkenntnissen ist allerdings ein nicht zu unterschlagender Gewinn. Doch können Printeditionen solche Nachbesserungen zu einzelnen Bänden einer Edition auch noch vornehmen, solange der letzte Band, der Korrekturen und Ergänzungen zu früheren Bänden aufnehmen kann, noch nicht erschienen ist. Erst ab diesem zeitlichen Publikationsmoment schlägt der quantitative Aspekt dieses Elements für die Digitale Edition in einen qualitativen Aspekt um. Dies kann auch schon für das inzwischen häufiger angewandte Verfahren gelten, von nahezu fertigen Editionsprojekten vorab eine Beta-Version zu publizieren, um zum einen den Stand des Projekts öffentlich zu machen und zum anderen Kritik für die endgültige Fassung berücksichtigen zu können.

Das vielgenannte Element der Kollaboration ist eines, das sich ganz eigentlich schon in allen Printeditionen jüngeren Datums findet, die sämtlich von Editionsteams aus mehreren oder gar von einer ganzen Reihe von Mitarbeitern erarbeitet werden. Neu für die Digitale Edition ist allerdings, dass sich Mitarbeiter nach dem Crowdsourcing-Prinzip über ein einfaches Einschreibsystem selbst anbieten und Teile der Edition übernehmen können. Ein besonders bekanntes Beispiel dafür ist das Transcribe-Bentham-Projekt.Footnote 16 Ob dies tatsächlich ein echter qualitativer Wechsel ist oder ob es sich doch eher um eine quantitative Verbesserung handelt, wäre genauer abzuwägen, denn auch Printeditionen könnten Mitarbeitersuchen annoncieren und Editionsaufgaben an Interessenten vergeben.

Das allerdings wohl grundlegendste Element der Funktionalität einer Digitalen Edition ist ihre Transmedialität.Footnote 17 In ihr liegt das wesentliche Spezifikum der Digitalen Edition überhaupt, das in das Schlagwort „Daten vor Medien“Footnote 18 gefasst werden kann. Es ist auch das einzige Element in der Kategorie ‚Funktionalität‘, das allein und vorbehaltlos als qualitativer Mehrwert der Digitalen Edition bezeichnet werden kann. Mit ihr verbunden ist die Einschätzung, dass die Edition aus ihren Daten besteht, die wiederum eine Übertragung in verschiedenmediale Ausgabeformate (etwa Bildschirmdarstellung oder Print) ermöglichen. Solche Optionen kann die Printedition nicht aufweisen, weil die Bedingungen des Printmediums nur einen untrennbaren Zusammenfall von Daten und Ausgabemedium erlauben. Man wird die Annahme, dass die Digitale Edition bloß aus den Daten besteht,Footnote 19 also als Datenbank figuriert, in dieser Absolutsetzung dennoch infrage stellen können. Die Benutzerschnittstelle einer Digitalen Edition, das Interface, ist nämlich keineswegs eine beliebig austauschbare Komponente, sondern sie allein ermöglicht erst die Wahrnehmung der Editionsinhalte, und es ist gerade die spezifische gestalterische Funktionalität der Editionsoberfläche, die die Editionsinhalte adäquat zugänglich macht und damit die Gesamtfunktionalität der Digitalen Edition nicht gering beeinflusst. Schon in der Printedition dienen ja etwa ein hochdifferenziertes Layout und im Speziellen die Typografie als wesentliche Transporteure von Informationen an den Editionsnutzer.Footnote 20

4 Spezifischer Mehrwert? Das digitale Paradigma und die Frage von Theorie, Methodik und Praxis der Edition

Lässt sich der quantitative oder qualitative Mehrwert der Digitalen Edition in Hinblick auf die Kategorien ‚Inhalt‘ und ‚Funktionalität‘ nur aufgrund eines genauen Vergleichs mit den Gegebenheiten und Möglichkeiten der Printedition ermitteln, so ist die Frage nach dem qualitativen Wechsel der Editorik aufgrund des digitalen Paradigmas, das eben auf den Funktionalitäten des Digitalen beruht, erst vor dem Hintergrund der Geschichte der Editorik zu beantworten. Die in Anschlag gebrachten wissenschaftlichen Grundkategorien der Theorie, Methodik und Praxis sind also in dieser Hinsicht zu untersuchen.

Was das digitale Paradigma bewirken könnte, ist aus der Perspektive der Digitalen Edition im Grundlagenwerk von Patrick Sahle so beschrieben worden: „Letztlich erfordert der Übergang zu digitalen Editionsformen einen so allgemeinen Wandel der Grundannahmen und Zielsetzungen, dass die Gültigkeit der bisherigen Methodologie grundsätzlich in Frage gestellt scheint.“Footnote 21 Edward Vanhoutte hat vor einem solchen Hintergrund schon vor etwa 20 Jahren insbesondere die germanistische Editorik als Innovationsverweigerer ausgemacht: „The theory and practice of the creation of an electronic edition is being countered by resistance from the side of the hard-copy focussed German school of Editionswissenschaft.Footnote 22 Vanhoutte hat dies mit der Annahme begründet, dass im Gegensatz zur Printedition in der Digitalen Edition „the dogma of the solid text as presented by the editor is undermined and replaced by the tolerant acceptance of a text as a contextualized possibility.“Footnote 23 Gerade in Hinblick auf den Textbegriff sieht auch Sahle die Innovationskraft der Digitalen Edition: „Damit haben technische Veränderungen letztlich einen grundlegenden Einfluss darauf, was wir eigentlich unter den zu edierenden Texten verstehen und wie wir mit ihnen umgehen. Technologien verändern unseren Textbegriff.Footnote 24 An anderer Stelle hat er schlagwortartig formuliert: „Die Evolution der Techniken ist eine Evolution der Textbegriffe.“Footnote 25

Der historische Blick auf die Theoriediskussion zumindest der neugermanistischen Editorik und ihre Auswirkungen auf die Edition kann diese Annahmen allerdings nicht bestätigen. Schon 1924 hatte Reinhold Backmann, der Grillparzer-Editor, die Hierarchisierung von herausgehobener Textfassung im Volltext (sog. edierter Text) und Apparat mit den Varianten aller anderen Fassungen grundsätzlich infrage gestellt und dem Apparat „seinen selbständigen Wert gegenüber dem Textabdruck“, ja sogar „ein Übergewicht an Bedeutung über den letzteren“ zugesprochen.Footnote 26 In Fortführung Backmanns hatte Gunter Martens 1971 aus der Überlieferungslage für die Lyrik Georg Heyms die Theorie der Textdynamik entwickelt. Dabei verstand Martens „die über variante Stadien verlaufende Entwicklung eines Werkes […] als eine wichtige textspezifische Aussage, ja sogar als spezifische Qualität von Text schlechthin.“Footnote 27 Wenn dann die „Textvarianz eine zentrale Rolle“ einnimmt („sie repräsentiert somit die Textdynamik“),Footnote 28 ist schon 1971 der vormalige Apparat zum „Kernstück“ der Edition erklärt; der edierte Text wird dagegen zum „Superadditum zur Variantendokumentation“ reduziert und nur noch als „notwendige Konzession an den Leser“ verstanden,Footnote 29 eine Konzession, die dann die Heym-Ausgabe aus dem Jahr 1993 auch nicht mehr als „notwendig[ ]“ verstand und auf die sie zugunsten der Repräsentation des Werktextes in rein zeilensynoptischen Darstellungen gar ganz verzichtete.Footnote 30

Spätestens in den 1980er Jahren war der Werkbegriff in diesen texttheoretischen Umschlag eingebunden. 1982 hatte Siegfried Scheibe definiert: „Der T e x t  e i n e s  W e r k e s im editorischen Sinne besteht aus den Texten sämtlicher Textfassungen, die im Laufe des Entstehungsprozesses eines Werkes vom Autor oder in seinem Auftrag zu diesem Werk hergestellt wurden“.Footnote 31 Dass der Werkbegriff später auch wieder mit der Öffentlichkeitsbestimmung verbunden oder auf die Veröffentlichung zugespitzt wurde,Footnote 32 tut dieser theoretischen Ausfaltung des Textbegriffs keinen Abbruch. Wichtig für die Edition ist ja vor allem, dass nicht mehr der herkömmliche edierte Text, die Lesetextfassung einer Edition, als ausschließliche Repräsentation des Werkes begriffen war.

Zwei weitere Beispiele für texttheoretische Überlegungen, die im Bereich der neugermanistischen Printedition entwickelt wurden, seien noch kurz angeführt: Die eine ist Roland Reuß’ Maxime ‚Ein Entwurf ist kein Text‘, die aus der Vorstellung hergeleitet ist, Text sei durch Linearität gekennzeichnet, weshalb ein Entwurf mit seinen nicht-linear platzierten paradigmatischen Elementen des ursprünglich Niedergeschriebenen (über, unter, neben die Zeile gesetzte Änderungen) keinen Textstatus aufweise.Footnote 33 Die Konsequenz dieser Prämisse ist, dass die Edition nur noch Faksimiles und raummimetische Transkriptionen, aber keinen aus einem Entwurf konstituierten Text mehr enthalten soll.Footnote 34 Das andere Beispiel ist Herbert Krafts Verfahren der Fragmentedition. Es steht unter der Leitmaxime der „Räumlichkeit als Theorem der Fragmentedition“.Footnote 35 Da nach Kraft das „Fragmentarische […] in seiner räumlichen Semantik“ erscheint und daher die „Anordnung eine strukturelle Wertigkeit besitzt“,Footnote 36 wird die Räumlichkeit zum Kern des Kraft’schen Verständnisses von der Fragmentedition. Sie ist in der Edition in Hinblick auf ihre strukturelle, nicht aber ihre zufällige Ausprägung in der Entwurfshandschrift wiederzugeben.Footnote 37 Anders als bei Reuß ist Krafts Textpräsentation in der Edition daher „von einer Nachbildung der Handschrift kategorial verschieden.“Footnote 38

So bleibt festzuhalten, dass die Infragestellung des edierten Textes als des Leittextes einer Edition zugunsten der Pluralität von Textdarstellungen keineswegs ein Charakteristikum der Digitalen Edition ist, sondern seit einem Jahrhundert in der neugermanistischen Editorik umfassend diskutiert und in den Printeditionen in einer reichen Anzahl an Facetten ausgeprägt ist.Footnote 39 Es wundert deshalb nicht, dass grundsätzliche Fragen an den Textbegriff gerade aus der neugermanistischen Editorik heraus im Zusammenhang mit den zeitgenössisch verfügbaren Printeditionen gestellt wurden.Footnote 40 Dies führte sogar dazu, dass ein Editionswissenschaftler den Grundlagenartikel Text für die zweite Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte verfasste.Footnote 41

Wie aber sieht es mit der Feststellung eines grundsätzlichen ‚Shifts‘ auch für die Methodik der Digitalen Edition aus? Folgende Abfolge der Textordnung ist als Kennzeichen der Digitalen Edition genannt worden:

Eine umfassende Transkription nach Möglichkeit aller Textzeugen […] ist die Basis für eine wissenschaftliche Edition und gehört unbedingt auch mit in die Publikation. Einen anderen Status hat dagegen heute eine kritische Fassung. Diese kann vom Editor erstellt werden, es haben aber auch Ausgaben als wissenschaftliche Editionen zu gelten, die auf eine solche Fassung verzichten und sich ganz auf die Erarbeitung der textlichen Grundlagen aus der Überlieferung und auf ihre kritische Erschließung konzentrieren. […] Das Verhältnis der einzelnen Formen der Textwiedergabe hat sich im Vergleich zur Druckkultur damit umgekehrt, […] bildet aber nun genau die Abfolge der editorischen Arbeitsschritte ab.Footnote 42

Schon der obige Abriss aus den Theorie-Diskussionen der neugermanistischen Editorik hat gezeigt, dass die in diesem Zitat genannten methodischen Verfahren der Digitalen Edition nicht ursächlich mit ihr zusammenhängen. Die printeditorische Diskussion um den Textbegriff etwa hat die Herstellung einer „kritische[n] Fassung“, also des sog. edierten Textes, je nach Textkonzept des Editors als ganz unterschiedlich gewichtig bis hin zu obsolet klassifiziert. Was die Methodik der editionsinternen Ordnung betrifft, so hat keineswegs die Digitale Edition eine Anordnung nach den editorischen Arbeitsschritten eingeführt. Die neugermanistische Printedition kennt diese schon seit 1975, als die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe zu erscheinen begann.Footnote 43 Es ist diese Druckausgabe, die die Hierarchie vom edierten Text als Kopf der Edition und dem Apparat als nachgeordnetem Editionsteil aufgehoben hat, indem schon sie die Ordnung ‚Faksimile – Transkription – genetische Darstellung – konstituierter Text‘ anbot. Sie setzt dabei Hans Zellers Editionsformel der Trennung von Befund und Deutung in eine Abfolge um, die für die einzelnen Textdarstellungen eine sukzessive Abnahme an befundshaltigen und eine entsprechende Zunahme an deutungshaltigen Elementen aufweist. Die Befund-Deutung-Formel ist aber weit in der vordigitalen Zeit, nämlich 1971,Footnote 44 entwickelt worden und hat mit der Diskussion um die mediale Form der Edition nichts zu tun. Der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe ist im Übrigen eine Anzahl an neugermanistischen Printeditionen gefolgt, die das Prinzip der gestaffelten mehrfachen Textwiedergabe ebenfalls umsetzte, wenn auch nicht immer – allerdings eben nicht aus medialen, sondern aus texttheoretischen Gründen (s. o.) – sämtliche Textsichten, etwa gelegentlich nicht die textgenetische und insbesondere nicht die textkonstituierende, zur Verfügung stellte.Footnote 45

Der Wandel der Editionsordnung gründet damit auf einer methodischen Einsicht, die der dokumentnahen wie der konstituierend-emendierenden Präsentation schon ihr gleichgewichtiges Recht für die Buchedition gegeben hat. Die damit verbundene Offenlegung der Editionsgrundlagen, die wiederum eine Offenheit für benutzerseitige Kritik impliziert, ist folgerichtig schon die Zielsetzung der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe gewesen. Das Hölderlin-Zitat „Komm ins Offene, Freund!“ zum Abschluss des Vorläufigen Editionsberichts 1977 bildet ganz in diesem Sinne das Motto für die methodische Anlage der Edition, die als „offene editorische Darstellung […] jedem Leser eine eigene Erkenntnis überläßt“.Footnote 46 Und selbst diese unautoritäre Editionshaltung gründet bloß auf die noch ein Jahrzehnt ältere Zielsetzung Hans Zellers: „Die Edition soll offen sein, sie hat nicht um jeden Preis eine Lösung, noch viel weniger eine runde Lösung zu geben, sondern die Möglichkeit zu Lösungen, indem sie das Material vermittelt.“Footnote 47 Auch diese Zielsetzung hat also mit der Entwicklung der Digitalen Edition und ihren Möglichkeiten zunächst einmal nichts zu tun, auch wenn sie gern – als Vorbereitung der Diskussion um die kollaborativen Optionen der Digitalen Edition – als ein Eigenwert des neuen Mediums eingebracht wird.Footnote 48

Von den drei in Rede stehenden wissenschaftlichen Grundkategorien Theorie, Methodik und Praxis kann am ehesten noch die Editionspraxis als Bestandteil eines digitalen Paradigmas gelten, das die Digitale Edition gegenüber der Printedition zu einem grundsätzlich anderen Editionstyp macht. Doch ist daran zu erinnern, dass ja nicht nur die methodische Frage der „mehrfache[n] Textwiedergaben auf der Skala zwischen Quellennähe und BenutzernäheFootnote 49 von der Printedition schon erprobt wurde, sondern die mehrfache Textwiedergabe überhaupt. Das betrifft dann etwa diejenige von mehreren Fassungen als Volltext. Allein die Geschichte der Goethe-Philologie zeigt, wie dies schon in der Weimarer Ausgabe 1887–1919 realisiert wurde, nämlich als Abdruck in verschiedenen Bänden.Footnote 50 Der Paralleldruck von Fassungen fand ebenfalls schon immer Anwendung in kritischen Printausgaben, etwa in der Goethe-Akademie-Ausgabe der 1950/60er Jahre beim WertherFootnote 51 oder bei Faust I. Bei letzterem Werk wurden drei Fassungen parallel produziert.Footnote 52 Auch wurden noch mehr Fassungen schon vor weit mehr als einem Jahrhundert im Buch parallelisiert, was durchaus nicht zur Unübersichtlichkeit führte. Ein Beispiel ist die Edition von Goethes Iphigenie auf Tauris von 1883, in der vier Fassungen parallel erscheinen.Footnote 53

Neben der Frage der Textangebote kann ebenso die Aufgabe der Vernetzung zur Editionspraxis gezählt werden. Die Printedition hat auch in diesem Fall schon Lösungen für komplexe Fälle angeboten. So hat die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe mit einer ausgefeilten Zählung von Manuskriptzeilen in der Marginalspalte der den Zeilenfall der faksimilierten Handschrift wiederspiegelnden Transkription die genetische Darstellung mit der Transkription verknüpft, sodass der Benutzer jede Einzelstelle zwischen den verschiedenen Textdarstellungen referenziert erhält und somit problemlos verbinden kann. Die Innsbrucker Trakl-Ausgabe zum Beispiel hat dieses Verfahren dann übernommen. Die Marburger Büchner-Ausgabe wiederum hat es sich u. a. zur Aufgabe gemacht, die Bezüge zwischen Autortext und Quellen detailliert nachzuweisen. Das tut sie nicht nur durch umfangreiche Abdrucke der Quellentexte, sondern auch sie arbeitet mit einer minutiösen Verknüpfung, die bis auf die Wortebene reicht. Die Bezüge werden durch Marginalspaltenverweise im Quellenteil und beim Abdruck eines ‚Quellenbezogenen Textes‘ hergestellt und durch typografische Kennzeichen im abgedruckten Quellentext wie im quellenbezogenen Werktextabdruck im Detail sichtbar gemacht.Footnote 54

Die Printeditionspraxis hat also auch für komplexere, scheinbar das Buchmedium sprengende editorische Darstellungsnotwendigkeiten praktische Lösungen gefunden. Ohne Zweifel hat hier die Digitale Edition allerdings grundsätzlich mehr Möglichkeiten anzubieten, weil sie noch mehr Sichten anlegen kann und gleichzeitig nach Benutzerwunsch etwa in verschiedenen Kombinationen aufrufbar bzw. ein- und ausblendbar gestalten kann. Dies hat aber wiederum mit der schon erörterten medial bedingten Funktionalität der Digitalen Edition zu tun. Eine individuelle Generierbarkeit durch den Benutzer kann die Printedition in diesem Maße nicht anbieten. Doch auch in der Digitalen Edition ist vom Benutzer nur aufrufbar, was zuvor implementiert bzw. kodiert wurde. Das entspricht im Allgemeinen zunächst aber dem interessegeleiteten Abruf von Informationen, die der Benutzer in einer mit reichen Angeboten versehenen Printedition selektiert.

Eines aber ist aus der obigen Betrachtung von Theorie, Methodik und Praxis in Hinblick auf das in Anschlag gebrachte ‚digitale Paradigma‘ festzuhalten: Die Qualitätsinnovation dürfte – zumindest was die neugermanistische Edition betrifft – deutlich geringer sein, als es zunächst den Anschein hat.Footnote 55 Das soll die Digitale Edition aber keineswegs abwerten; sie ist allemal die Zukunft des Edierens.Footnote 56 Zudem ist zu bedenken, dass die angeführten Fälle aus dem Bereich der theoretisch und methodisch herausragenden Printeditionen, quasi der neugermanistischen Leuchtturm-Editionen stammen. In der Breite sind die Printeditionen, erst recht auf dem Feld der Studienausgaben, den ausgestellten Paradigmen aber nicht immer unbedingt gefolgt. Das könnte bei der Digitalen Edition anders sein, weil die erörterten Paradigmen aufgrund der medialen Bedingungen der Digitalen Edition in diese in der ganzen Breite der Ausgabentypen eingehen dürften. Eine besondere Spezifität der Digitalen Edition dürfte schließlich auf dem Feld der Nachnutzbarkeit ihrer Daten liegen, die in ihren je spezifischen Teilen Grundlagen für andere Anwendungsbereiche der digitalen Literaturwissenschaft bereitstellen können, etwa für annotierende Erschließungsverfahren narratologischer, stilistisch-rhetorischer oder formal-strukturaler (für die Lyrik z. B. die Metrik oder das Reimschema betreffender) Interessen. Zudem kann die Digitale Edition ihre Daten als Teilmenge kleinerer oder größerer Korpora zur Verfügung stellen, die nach Maßgaben von Distant-Reading-Verfahren für quantitative Analysen ausgewertet werden könnten. Zumindest eröffnet die durch das Digitale neu und anders gegebene Interoperabilität der Editionsbestandteile die Möglichkeit für solche Nachnutzungen.Footnote 57 Auf jeden Fall aber kann die Digitale Edition gegenüber der Printedition mit der Quantität ihrer Editionseinheiten aufwarten, die auf der Funktionalität ihrer medienspezifischen Modi beruht.

5 Selbstverständnis des Präsentierten: Edition, Archiv, Portal u. a

Die Modi der Digitalen Edition hängen nun aber zunächst einmal von den Rahmen und leitenden Charakteristika ab, die sich die Edition gibt. Auf ihnen beruht das Selbstverständnis des Präsentierten. Und es ist innerhalb der editorischen Praxis des Digitalen noch nicht klar, welche Leitcharakteristika für die wissenschaftliche Edition als wesentlich empfunden werden – und vor allem, ob das herkömmliche, in der Geschichte der Printedition entwickelte Verständnis von ‚Edition‘ im neuen Medium überhaupt erhalten bleibt. Das Spektrum der Ausgabentypen ist schon in der Printedition breit, wenn man allein auf die – rasterartige – Typologie ‚Historisch-kritische Ausgabe – Kritische Ausgabe – Studienausgabe – Leseausgabe‘ schaut.Footnote 58 Solche Differenzierungen haben für die Digitale Edition bisher allerdings keine Rolle gespielt. Die Diskussion und die Praxis der Digitalen Edition beruhen stattdessen auf der Grundsatzfrage der Unterschreitung oder der Überschreitung der bisherigen Rahmen der Printedition.

Bemerkbar wird dies an den Namensgebungen, die schon anzeigen, dass sich im digitalen Medium neue Typen von Überlieferungspräsentationen entwickelt haben. Der maßgeblichste ist der des ‚Archivs‘, der gerade im englischsprachigen Raum gehäuft auftritt. Schon die Namen der Projekte sind sprechend, z. B. Shakespeare Electronic Archive, Blake Archive, Rossetti Archive, Dickinson Electronic Archives, Shelley-Godwin Archive, Beckett Archive.Footnote 59 Gelegentlich ist eine solche elektronische Sammlung auch nach dem Modell der Bibliothek angedacht worden.Footnote 60 Im Prinzip heißt das Konzept aber Electronic Archive.Footnote 61 Es kann in seinen Inhalten durchaus denjenigen der Historisch-kritischen Ausgabe ähneln,Footnote 62 sieht aber im Regelfall die Sammlung der Überlieferungsträger als eine Hauptaufgabe an. Gerade bei literarischen Autoren, die auch in anderen Künsten tätig waren (wie bei Blake und Rossetti), ist ein Schwerpunkt auf der visuellen Zurverfügungstellung von Bildern und Handschriftenfotografien verständlich. Das strenge Archiv-Konzept in seiner Differenz zu demjenigen der Historisch-kritischen Ausgabe ist im Übrigen vor einem halben Jahrhundert schon für die neugermanistische Printedition vorgeschlagen worden.Footnote 63 Im digitalen Bereich liegen auch Mischformen vor, etwa wenn für Nietzsche unter dem Namen Nietzsche Source neu hergestellte digitale Faksimiles neben der retrodigitalisierten historisch-kritischen Printausgabe zur Verfügung gestellt werden.Footnote 64

Der Name ‚Source‘ umgeht die Bezeichnungen ‚Archiv‘ und ‚Edition‘ möglicherweise, um den Verbund beider Charakteristika anzuzeigen. Er hat sich allerdings ansonsten nicht durchgesetzt. Wie die digitale Präsentation edierten Materials zu bezeichnen ist, ist in der Tat noch völlig ungeregelt. Für die Zusammenführung von Material wird auch der Name ‚Portal‘ verwendet, wie etwa beim Heinrich-Heine-Portal, das zwei historisch-kritische Heine-Printausgaben verbindet und mit Digitalisaten der Textträger anreichert.Footnote 65 Das Georg-Büchner-Portal wiederum versammelt Informationen, Dokumente und Aufsätze zu Büchner auf Grundlage der historisch-kritischen Marburger Büchner-Ausgabe und kündigt zugleich an, diese Printedition zu retrodigitalisieren und in das Portal einzubinden.Footnote 66 Werkmaterialien in Kombination mit Forschungsbeiträgen legt dagegen das Projekt Handkeonline unter der Bezeichnung ‚Plattform‘ ab.Footnote 67 Gerade in Hinblick auf die Einbindung unterschiedlicher Kontextmaterialien sind im anglo-amerikanischen Raum für die Digitale Edition auch noch ganz andere Namen vorgeschlagen worden, neben den Bezeichnungen ‚database‘, ‚project‘ oder ‚thematic research collection‘ etwa ‚arsenal‘Footnote 68 oder ‚knowledge site‘.Footnote 69 Während ‚database‘ deshalb problematisch ist, weil die Digitale Edition im Ganzen nicht nur aus ihren Daten besteht, sondern auch aus ihrer Präsentationsoberfläche, über die die Daten für den Benutzer erst zugänglich werden, sind ‚project‘ und ‚thematic research collection‘ so allgemein, dass sie kaum als markante und spezifische Bezeichnung für die Digitale Edition nutzbar sind. Für ‚arsenal‘ dürfte dasselbe gelten. Peter Shillingsburgs Vorschlag ‚knowledge site‘ ist dagegen des Öfteren – skeptisch oder zustimmend – in der editorischen Diskussion aufgegriffen worden.Footnote 70 Doch kann auch er nicht wirklich den Charakter der Digitalen Edition bezeichnen. Eine ‚Wissensstätte‘ oder ein ‚Wissensspeicher‘ war ja auch schon die Historisch-kritische Printedition; und die „knowledge site“ soll ja auch explizit nicht-editorische Textsorten – wie Interpretationen – enthalten.Footnote 71 Insofern geht es primär um eine dem Inhalt der Edition adäquate Benennung.

Solange das Format ‚Edition‘ als wissenschaftliches Produkt im Mittelpunkt steht, muss es keinen Streit um die Ausbildung synonym gebrauchter Bezeichnungen geben, wie sie im englischsprachigen Raum auftauchen, etwa Digital Scholarly EditionFootnote 72 und Digital Critical Edition.Footnote 73 Die Edition sollte stattdessen jenen Ort selbst markieren, an dem sie innerhalb von digitalen Wissensrepräsentationen steht, d. h. hinsichtlich dessen, was sie enthält und wessen Teil sie ist. So können Editionen zwar als ‚virtuelle Archive‘ verstanden werden,Footnote 74 doch wird man überlegen müssen, warum sich Digitale Editionen vielfach der Archivfunktion annähern.Footnote 75 Weil die Funktionalität des Mediums es erlaubt, Digitalisate als Abbildungen der Textträger in großer Menge in die Edition einzubinden (quantitativer Mehrwert gegenüber der Printedition), heißt dies ja noch nicht, dass sich die Digitale Edition darin erschöpfen sollte oder dies zu ihrem Hauptmerkmal erklärt. Ganz in diesem Sinne hat Peter Robinson 2013 den Unterschied zwischen einem Digitalen Archiv und einer Digitalen Edition gekennzeichnet:

[T]he common first error made by digital humanists, – and, I fear, by many editors: that the needs of the textual scholars, and indeed the interests of readers, can be perfectly served by digital archives. They cannot. An edition is an argument about a text. We need arguments; without arguments, our archives are inert bags of words and images.Footnote 76

Insofern darf ein kritischer Blick zu Recht auf der annoncierten Präferenz von vor allem dokumentarisch-faksimilierenden – und damit dem Archivgedanken Vorrang einräumenden – Editionsmodellen liegen.Footnote 77

6 Reformulierung des neugermanistischen Editionstypus: Die Digitale Historisch-kritische Ausgabe im Wissensverbund

Vorgeschlagen werden soll hier ein Editionstypus, der im digitalen Medium nicht hinter die editorischen Standards der Historisch-kritischen Printausgabe zurückfällt und zugleich die Möglichkeiten von Wissensordnungen und Wissenspräsentationen im digitalen Medium nutzt. Die in den theoretischen Diskussionen immer wieder durchscheinende Charakterisierung der Historisch-kritischen Ausgabe als eines dem digitalen Medium inadäquaten Modells, das sich letztlich schon im 19. Jahrhundert entwickelt hat, sollte vor dem Hintergrund der neugermanistischen Editionsgeschichte des letzten halben Jahrhunderts als grobe Verzeichnung, ja als Fehldeutung erkennbar geworden sein. Insofern ist es ganz in diesem Sinne wegweisend, dass sich – nach Diskussionen – die digitale Ausgabe von Goethes Faust (3. Beta-Version 2017) explizit Historisch-kritische Edition nennt.Footnote 78

In Hinblick auf die Position der Digitalen Historisch-kritischen Ausgabe (DHKA) in der digitalen Wissensdarbietung ließe sich folgende Ordnung anbieten: Primär archivalisch angelegte oder dokumentzentrierte Ausgaben bilden aus struktureller Perspektive nur ein Teilelement der DHKA.Footnote 79 Sie sind dann als Bestandteil jenes Elementenbaukastens des historisch-kritischen Ausgabentyps zu verstehen, wie er schon für die Printedition ausdifferenziert wurde.Footnote 80 Eng zusammen gehörende, an sich selbstständige Editionen können als DHKA wiederum in einer größeren Umgebung zusammengebunden werden, wie es etwa das Propyläen-Projekt für die in Arbeit befindlichen verschiedenen Teilausgaben zu Goethes Biographica plant.Footnote 81 Darüber hinaus kann die DHKA selbst ein Teilelement umfangreicherer, nicht allein editorisch ausgerichteter digitaler ‚Wissensstätten‘ bilden, etwa wenn sie in ein Portal, eine Plattform, eine Knowledge Site, die durch welchen Rahmen auch immer konturiert sind, inkorporiert wird. Insofern kann die DHKA in einer zunehmend digitalen Literaturwissenschaft leichter zu anderen literaturwissenschaftlichen Themenfeldern – etwa im Sinne eines „Dokumentknoten[s]“Footnote 82 – in ein Verhältnis gesetzt werden, z. B. zu interpretativen oder literaturgeschichtlichen Projekten, was die mangelhafte Nutzung kritischer Ausgaben in der printgestützten Literaturwissenschaft schrittweise zu beheben geeignet sein könnte.Footnote 83 Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten ist in ähnlichem Sinne das Konzept einer literarischen Epochendatenbank formuliert worden, deren einer Teil aus einer Digitalen Edition bestehen würde.Footnote 84 Allerdings sollte die DHKA in ihren Umgebungen – als untergeordnetes Teilelement einer digitalen ‚Wissensstätte‘ oder als selbstständiges Element innerhalb der allgemeinen literaturwissenschaftlichen digitalen Ordnung – immer klar identifizierbar sein. Nur so ist auch für den Benutzer auf den ersten Blick ersichtlich, wo die Qualitätsstandards der Historisch-kritischen Ausgabe – skrupulöse Textkritik für jedwede Textdarstellung und Vollständigkeit der Textgenese sowie aller entstehungsgeschichtlichen wie die Historizität des Editionsobjekts betreffenden Sachverhalte – in einer digitalen ‚Wissensstätte‘ auf jeden Fall gültig sind. Das ist auch deshalb von besonderem Belang, weil unter Digitalen Editionen gerade im Teilbereich Briefedition solche Projekte auf den Weg gebracht sind, die z. B. das Kriterium der ‚kritischen Textkonstitution‘ zugunsten anderer Interessen, etwa Briefnetzwerkdarstellung oder Textmengenerfassung, zurückstellen.Footnote 85 Insofern sollte die DHKA – wenn sie in ihrer vollen Breite realisiert wird – archivalisch-dokumentierende von textkonstituierenden (im Sinne des statischen wie auch des dynamischen Textverständnisses) und diese wiederum von kommentierend-erschließenden Teilen abgrenzen und all diese im Sinne des für die Printedition entwickelten Baukastensystems (s. o.) jeweils deutlich ausweisen. Dadurch wären nicht nur innerhalb der Spannweite der Edition und zwischen den Polen von Befund und Deutung die je einzelnen Bestandteile differenziert verortet, sondern die Edition könnte den in jüngeren Historisch-kritischen Printausgaben häufiger festzustellenden Verzicht auf Kommentar und Erläuterungen wieder aufheben.Footnote 86 So könnten gerade über die erschließenden Editionsanteile Vermittlungsbrücken zu anderen, stärker interpretativen Anteilen von digitalen ‚Wissensstätten‘, deren Teil die DHKA bilden oder mit denen sie verknüpft werden kann, gebaut werden; Brücken, die Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft wieder stärker zusammenführen könnten,Footnote 87 weil diese im digitalen Medium ihre jeweiligen Leistungen als abgegrenzt-gestaffelte, aber enger aufeinander zu beziehende – und dafür digital verlinkbare, somit benutzerseitig leichter als ein größerer Zusammenhang wahrnehmbare – verstehen könnten.

In Anknüpfung an die Standards der Printedition und in Nutzung der Möglichkeiten des digitalen Mediums enthält die DHKA folgende Elemente:

  • vollständige Präsentation aller relevanten Textträger als Digitalisate;

  • vollständige diplomatische Transkription aller Handschriften; im Ideal auch vollständige zeilengetreue Transkription aller Drucke; beide als Paralleldarstellung zu den Digitalisaten anzeigbar, die Handschriftentranskription im Idealfall auch zusätzlich positionsgenau im Digitalisat als überlagernde Darstellung ein- und ausblendbar;

  • vollständige Darstellung der Textgenese, sodass geringe wie umfangreiche Änderungsprozesse sichtbar werden;

  • konstituierte Texte von Fassungen oder Textstadien, soweit dies editorisch angemessen ist;

  • ausführliche Beschreibung der Textträger (Metadaten) einschließlich möglicher grafischer Darstellungen (etwa Lagenbeschreibung bei Handschriften) und textträgerkontextualisierender Informationen (etwa druckanalytischer Fragen, je nach Sachlage auch typografiekritischer Aufarbeitungen bei Drucken);Footnote 88

  • Präsentation sämtlicher Dokumente zu Entstehung und zeitgenössischer Rezeption (zu Lebzeiten des Autors);

  • ausführliche Entstehungs- und zeitgenössische Rezeptionsgeschichte in Auswertung der Dokumente zur Entstehung;Footnote 89

  • Volltextdarstellung aller Quellen und ihrer Bezugsintensität, eventuell mit Digitalisaten der Textträger;

  • optional: Überblickskommentar und Einzelstellenerläuterungen; hier wären wiederum Referenzen auf historische und literarische Folien, direkte und indirekte (bzw. auch markierte und nicht markierte) Zitate, Anspielungen etc. durch Verlinkungen idealerweise auf die Digitalisate von zeitgenössischen bzw. – falls nachweisbar – vom Autor benutzten Drucken ein Gewinn.

Den besonderen Mehrwert der Digitalen Edition bietet zum einen die intensive Verlinkung, zunächst einmal vor allem die editionsinterne, die Bezüge – etwa zwischen der Überlieferungsbeschreibung und den Digitalisaten, den verschiedenen parallel oder separat aufrufbaren Textdarstellungen oder auch zwischen verschiedenen Fassungen mit Varianzmarkierungen – benutzerseitig sofort aufrufbar macht. Insofern erlaubt die DHKA zum anderen vom Benutzer nach seinen Interessen steuerbare Sichten auf die unterschiedlichen Textdarstellungen und Fassungen, wie sie in diesem Umfang in der Printedition nicht erzeugt werden können.Footnote 90 Zudem ist es ein Zugewinn, wenn der archivalische Teil der DHKA dem Benutzer durch hochauflösende, zoombare Digitalisate noch eher als die Printedition für viele – keineswegs natürlich für sämtliche – Fragen den Weg ins Archiv ersparen kann, ja die Handschrift gelegentlich besser als am Original lesbar machen kann (und in der Folge zu einer materiellen Schonung der Originale führen kann).

Auf der anderen Seite ist bei den erst langsam an die Öffentlichkeit tretenden neugermanistischen Digitalen Editionen genauer zu betrachten, wie sie mit einem Herzstück der neugermanistischen Printedition, der präzisen, minutiösen textgenetischen Darstellung, umgehen. Während für den eher archivalischen Teil der Digitalen Edition, Faksimile und Transkription, ausgefeilte Präsentationen entwickelt worden sind, bleibt bei der Textgenese ein Mangel gegenüber den in der Printedition genutzten Verfahren festzustellen. Denn auch in den jüngsten Werkeditionen zu Goethes Faust oder Koeppens Jugend werden Einzelstellenänderungen zwar – unterschiedlich – sichtbar gemacht, doch die Darstellung zusammenhängender Änderungskomplexe bleibt un(ter)repräsentiert.Footnote 91 Solche Stellen der Mikrogenese bieten noch eine Herausforderung für die Digitale Edition, während Elemente der Makrogenese besonders gut etwa durch verlinkte grafische Übersichten – auch im interaktiven Format wie im Fußteil der Textdarstellungsseiten innerhalb der Edition von Hermann Burgers LokalberichtFootnote 92 – wiedergegeben werden können. Außerhalb des Bereichs der Neugermanistik, nämlich in der Antwerpener Beckett-Edition, findet sich auch eine animierte grafische Darstellung des Niederschriftverlaufs, deren einzelne Farbpunkte jeweils einen einzelnen Satz repräsentieren.Footnote 93

Gerade die Textgenese also stellt noch Aufgaben an die Digitale Edition. Es verwundert daher auch nicht, dass die Digitale Werkausgabe bei der Entwicklung der neugermanistischen Edition – trotz der Pilotprojekte etwa des Jungen Goethe, der elektronischen Komponente zur Keller-Ausgabe oder der digitalen Musil-AusgabeFootnote 94 – nicht nachdrücklich in den Vordergrund trat, sondern zuletzt vor allem die Digitale Briefedition ambitionierte Projekte entwickelt hat, etwa zum Briefnetz der exilierten Autoren der NS-Zeit, zu den August-Wilhelm-Schlegel-Briefen oder zum Gelehrten-Briefwechsel Sauer – Seuffert,Footnote 95 die sich wiederum an wegweisenden nicht-germanistischen digitalen Briefeditionen wie denjenigen zu van Gogh, Escher oder Weber orientieren konnten.Footnote 96 Das dürfte vor allem mit der gegenüber Werken eher geringeren Problemlage in Hinblick auf Textkritik und Textgenese (und damit den Zentren der Historisch-kritischen Ausgabe) zu tun haben, die sich aus der Medienspezifik und den Überlieferungsgegebenheiten des Briefes herleitet, sodass Briefe in dieser Hinsicht editorisch etwas einfacher zu behandeln sind.

7 Postskript

Ob die DHKA von einer Printedition, die Teile der Digitalen Edition enthält, begleitet wird oder nicht, ist keine prinzipielle Frage, denn die strukturierten Daten der Digitalen Edition erlauben allemal Druckderivate auch zu späterer Zeit. De facto sind die allermeisten der oben genannten neugermanistischen Digitalen Editionen (etwa Faust, Jugend, Lokalbericht) als Hybridausgaben angelegt. Trotz aller Bemühungen um die Datenauszeichnung in nicht-proprietären Umgebungen und mithilfe zunehmend standardisierter Verfahren – Vorreiter bildet derzeit die Text Encoding Initiative (TEI)Footnote 97 – ist letztlich nicht sicher, wie lange eine Digitale Edition einschließlich all der in ihr angelegten Funktionalitäten tatsächlich zugänglich bleibt. Das Schicksal der digitalen Musil-Ausgaben von 1992 und 2009,Footnote 98 die beide – zuvorderst aufgrund ihrer Bindung an proprietäre, seit längerem nicht mehr weiterentwickelte Software (FolioViews) – auf gegenwärtig aktuellen Computern bzw. Betriebssystemen, neuerdings auch aufgrund ihrer Hardware-Bedingungen in Zeiten, in denen Rechner ohne CD-Laufwerke hergestellt werden, nicht mehr bzw. nur mit Umständen gängig sind, ist immerhin ein bedenkliches Beispiel.

An der Frage der Langzeitarchivierung und vor allem auch -gangbarhaltung wird zwar intensiv gearbeitet, doch bleiben Grundsatzfragen ein Problem. So wird die Trennung von Daten und Präsentation der Digitalen Edition als Vorteil für die Transmedialisierung begreifbar.Footnote 99 Dies führt jedoch auch dazu, dass sich die Langzeitarchivierung nur auf den Datenkern, nicht aber die Präsentation, also die Benutzeroberfläche, das Interface, ausrichtet.Footnote 100 Ob also in einigen Jahren die Edition noch so aufrufbar ist, wie sie ursprünglich ausgesehen hat, ist keineswegs sicher – und damit auch nicht, ob die Diskussionen, die anhand des Erscheinungsbilds einer Digitalen Edition heute geführt werden, in einigen Jahren noch nachvollzogen werden können. So wird sich das Problem der Langzeitarchivierung vielleicht noch als die letztlich entscheidende Frage für das Arbeitsgebiet der Digitalen Historisch-kritischen Ausgabe erweisen, eines Ausgabentypus, der von seinem wissenschaftlichen Anspruch her im Sinne der Grundlagenforschung auf lange Dauer – viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte – ausgerichtet ist. So dient die Weimarer Goethe-Ausgabe in ihren bis heute nicht ersetzten umfangreichen Teilen noch immer als wissenschaftlich verbindliche Referenz. Ihre 143 Bände haben vor 130 Jahren zu erscheinen begonnen und wurden zwischen 1887 und 1919 veröffentlicht.Footnote 101 Wird entsprechend im Jahr 2147 eine Digitale Historisch-kritische Ausgabe aus dem Jahr 2017 noch nutzbar sein, ja überhaupt noch existieren?