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Auf dem Weg zum urbanen Intellektuellen Heines Berliner Identitätskrise und ihre Deutung durch Ludwig Marcuse

  • Chapter
Heine Jahrbuch 2014
  • 176 Accesses

Zusammenfassung

Berlin war neben Breslau, Königsberg und Wien eines der »frühen Zentren jüdischer Akkulturation«.1 Diesen »Annäherungs- und Angleichungsprozeß«2 an die christliche Mehrheitsgesellschaft personifziert unter den Intellektuellen des 18. Jahrhunderts insbesondere Moses Mendelssohn; ihn führte sein reges Interesse an den Ideen der europäischen Aufklärung nach Berlin und dort zur Philosophie sowie in freundschaftliche Nähe Lessings. Dass das »Bündnis der beiden Zuwanderer« wohl auch »etwas mit der Selbstfndung junger Stadtmenschen zu tun« hatte, hat kürzlich der Literaturwissenschaftler Conrad Wiedemann in seinem Plädoyer für ein Lessing-Mendelssohn-Denkmal in Berlin vermutet.3 Indem Wiedemann »etwas entschieden Städtisches« in der Freundschaft Lessings und Mendelssohns erkennt4, werden Urbanität und Judentum bereits für die Zeit um 1750 aufeinander bezogen. Nachhaltig präsent ist diese epochale Verbindung aber weder in der einschlägigen Forschung noch in Form von Erinnerungsorten.5 In Friedrich Schinkels Schauspielhaus am Gendarmenmarkt beispielsweise, wo 1783 »Nathan der Weise« aufgeführt wurde, blieben »die Namen Lessing und Mendelssohn […] ausgespart«, was dazu beitrug, »Leerstellen in der historischen Erinnerung« zu schafen, die sich »zwangsläufg in die Gegenwart [prolongieren]«, argumentiert Wiedemann.6

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Anmerkungen

  1. Michael A. Meyer: Die problematische Aneignung der deutschen Kultur. — In: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. Hrsg. im Auftr. des Leo-Baeck-Instituts von Michael A. Meyer unter Mitw. von Michael Brenner. Frankfurt a. M. 1996, Bd. II, S. 208–217, hier S. 212.

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  2. So defniert »Akkulturation« der Politikwissenschaftler und Migrationsforscher Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992, S. 169.

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  3. Conrad Wiedemann: Die Leerstelle. Plädoyer für ein Lessing-Mendelssohn-Denkmal in Berlin. — In: Süddeutsche Zeitung, München, Nr. 60, 12. März 2012, S. 13.

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  4. Selbst in der »Deutsch-jüdischen Geschichte seit der Neuzeit«, die zweifellos als Standardwerk gelten darf, wird die Kategorie der Urbanität erst für die Kaiserzeit ab 1871 aufgegriffen. Vgl. Meyer (Hrsg.): Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit [Anm. 1], Bd. III, S. 28–38 [Kap. I.1. »Mobilität und Urbanisierung«] und S. 124–127 [Kap. V.1. »Probleme der Urbanisierung«]. Und Joachim Schlörs Habilitationsschrift widmet sich den »Debatten über Judentum und Urbanität«. Vgl. Joachim Schlör: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822–1938. Göttingen 2005. Was die Urbanisierung für die jüdische Tradition, Identität und das Alltagsleben, aber auch für die Entwicklung des Antisemitismus bedeutete, rekonstruieren die Beiträge in: People of the City. Jews and the Urban Challenge. Hrsg. von Ezra Mendelsohn. New York, Oxford 1999.

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  5. Vgl. Jost Hermand: Der junge Heine. Ein Kommentar zu den »Reisebildern«. München 1976, S. 28.

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  6. Zu Heines Modernität allg. vgl. Sabina Becker: Heine und die Moderne. — In: Harry … Heinrich … Henri. Heine. Deutscher, Jude, Europäer. Hrsg. von Dietmar Goltschnigg, Charlotte Grollegg-Edler, Peter Revers. Berlin 2007, S. 289–299; dies.: »… fortgerissen in Bewegung«. Heinrich Heine und die Moderne. — In: Heinrich Heine. Neue Lektüren. Hrsg. von Werner Frick. Freiburg, Berlin, Wien 2011, S. 297–311.

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  8. Hinrich C. Seeba: Ironie des Unsystematischen. Heinrich Heine in Berlin und der urbane Blick des Flaneurs. URL: http://www.apario.com.br/forumdeutsch/revistas/vol4/HEINEFD.pdf [letzter Zugriff: 10.12.2013], S. 2. Zur Flaneurfigur in Heines »Lutezia« vgl. die Erläuterungen in DHA XIII, 1725, und Anne Stähr: »… eine Mischung von Sinnlichkeit und Witz…« Ironische Inszenierung der Geschlechter in Heinrich Heines Lutezia. Bielefeld 2012, S. 147–162; zur literarischen Flanerie allgemein: Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeption der Moderne. Würzburg 1999.

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  10. hier S. 151. Vgl. auch den kanonischen Befund Walter Benjamins, demzufolge es »der Typus des Flaneurs« war, der »Paris erschaf[en]« hat, das wiederum durch seine Passagen und Trottoirs den Flaneur-Typus ermöglicht hat. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. — In: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. V/1. Frankfurt a. M. 1978, S. 525.

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  11. Ludwig Börne: Der Greve-Platz. — In: ders.: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf 1964, Bd. II, S. 34–39, hier S. 34. Vgl. zu dieser Parallele Seeba: Ironie des Unsystematischen [Anm. 13], S. 4.

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  12. Vgl. ebd. und Hans-Georg von Arburg: Alles Fassade. Oberfäche in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870. München 2008, S. 106–142.

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  14. E. T. A. Hofmann: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. III: Nachtstücke. Berlin, Weimar 1983, S. 168.

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  15. Solche und ähnliche Passagen legen es nahe, Heine gewissermaßen als Vorläufer Sigmund Freuds anzusehen, wie es der Sammelband von Stephan Braese und Sigrid Weigel vorführt. Vgl. Heine und Freud. Die Enden der Literatur und die Anfänge der Kulturwissenschaft. Hrsg. von Stephan Braese und Sigrid Weigel. Berlin 2010.

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  16. Ludwig Marcuse: Heinrich Heine. Ein Leben zwischen Gestern und Morgen. Berlin 1932, S. 83.

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  17. Im Folgenden wird aus der weitgehend identischen Neuausgabe (3. Auf.) zitiert: Ludwig Marcuse: Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer. Rothenburg o. d. T. 1970, S. 100. Abweichungen finden dabei Berücksichtigung, sofern sie thematisch relevant sind.

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  18. Über den Verfasser informiert Dieter Lampings Artikel: Ludwig Marcuse. — In: Killy-Literaturlexikon. Neuausgabe. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. Berlin, New York 2010. Bd. VII, S. 683f.

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  19. Vgl. Wolfgang Hädecke: Heinrich Heine. Eine Biographie. München, Wien 1985, S. 142. Gubitz wird von Heine auch in den »Briefen aus Berlin« erwähnt, vgl. DHA VI, 45.

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  20. Vgl. das letzte Kapitel »Aus dem Judentum kommt man nicht heraus (1820–1833)« in Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München, Frankfurt a. M. 1981, S. 201–211; dazu Barbara Hahn: Jüdische Existenzen. — In: Arendt Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Heuer, Bernd Heiter, Stefanie Rosenmüller. Stuttgart, Weimar 2011, S. 23–28, die im Anschluss an Arendts Lesart des »Buchs des Andenkens« von »einer gescheiterten Assimilation« ausgeht. Ebd., S. 24.

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  21. Zur Kritik an dieser Sichtweise und an der Tatsache, dass Marcuse dadurch auch Heines politische Bedeutung vernachlässige, vgl. z. B. George F. Peters: Te Poet as Provocateur. Heine and his Critics. New York 2000, S. 143f., und

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  22. Jost Hermand: Streitobjekt Heine. Ein Forschungsbericht 1945–1975. Frankfurt a. M. 1975, S. 80.

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  23. Vgl. Émile Zola: J’accuse … ! La vérité en marche. Hrsg. von Henri Guillemin. Brüssel 1996. »Heine kann noch kein Intellektueller im Sinne der Dreyfus-Partei sein, weil er von der politischen Meinungsbildung in den deutschen Bundesstaaten auf doppelte Weise ferngehalten wird: physisch durch sein Exil und geistig durch die Zensur«, argumentiert Habermas.

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  24. Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. — In: ders.: Eine Art Schadensabwicklung. Frankfurt a. M. 1987, S. 25–54, hier S. 29. Für ihn ist Heine lediglich ein »potenzieller Intellektueller« und »Protointellektueller«. Ebd., S. 30.

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  25. Zum Typus des Intellektuellen vgl. den entsprechenden Artikel von Winfried Mackenthun und Kurt Röttgers in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Darmstadt 1976, Bd. IV, Sp. 454–458.

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  26. Zu Heine vgl. auch Gerhard Höhn: Heinrich Heine und die Genealogie des modernen Intellektuellen. — In: Heinrich Heine. Ästhetischpolitische Profile. Hrsg. von Gerhard Höhn. Frankfurt a. M. 1991, S. 66–84.

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  27. Vgl. Jean Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1935–1973. Neuübersetzung von Hilda von Born-Pilsach u. a. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 90–148, hier S. 107f.: »Als Produkt gespaltener Gesellschaft legt der Intellektuelle Zeugnis über sie ab, denn er hat ihre Zerrissenheit verinnerlicht.«

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  28. Diese Koinzidenz hat bereits Seeba bemerkt. Vgl. ebd., S. 5. Hinzuzufügen ist, dass sich Benjamin immerhin auf Heine als »Physiognom[]« von Paris bezieht, der »das Unheimliche […] der großen Stadt gespürt« hat. Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. — In: ders.: Gesammelte Schriften [Anm. 18], Bd. 1/2, S. 605–653, hier S. 629. Vor diesem Hintergrund verwundert es, wie wenig bislang die Analogien und Differenzen zwischen Heines und Benjamins Stadtbildern untersucht wurden. Hinweise zur Paris-Wahrnehmung und -schilderung beider gibt Karl Ivan Solibakke: Visionen des Urbanen. Heinrich Heines und Walter Benjamins Pariser Schriften. — In: Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen. Hrsg. von Bernd Witte. Würzburg 2008, S. 235–247.

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  29. Genauer zu prüfen bliebe, ob ggf. eine implizite Auseinandersetzung stattfand und Benjamin Heines Texte womöglich ähnlich ›überschrieb‹ wie Wilhelm Raabes Berliner Erstlingsroman. Vgl. zu Letzterem Detlev Schöttker: Lebensgeschichte als Weltgeschichte. Walter Benjamin überschreibt Raabes Chronik der Sperlingsgasse. — In: Text + Kritik 31/32: Walter Benjamin. 3. Auf., Neufassung 2009, S. 19–30.

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  30. Zu diesem Tema habe ich 2012/13 an einem Forschungsprojekt gearbeitet, das von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde und in dessen Rahmen auch der vorliegende Aufsatz entstand. Zur inhaltlich-methodischen Ausrichtung vgl. meinen Projektbericht: Diagnostik der Gegenwart. Kritik und Essay in der Weimarer Republik (Ludwig Marcuse [1894–1971] und Hans Sahl [1902–1993]). — In: Zeitschrift für Germanistik NF 22 (2012), S. 656–658.

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  31. Vgl. Ludwig Marcuse: Heinrich Heine in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rein-bek bei Hamburg 1960.

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  32. Vgl. Christian Liedtke: Heinrich Heine in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rein-bek bei Hamburg 1997. Zu diesem Vorgang vgl. Peters: Te Poet as Provocateur [Anm. 62], S . 17 7.

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  33. Marcuses Essays, etwa zu Heine und Börne, Heine und Marx und zur Heine-Rezeption, wurden neu abgedruckt in: Ludwig Marcuse: Essays, Porträts, Polemiken. Die besten Essays aus vier Jahrzehnten. Hrsg. von Harold von Hofe. Zürich 1979;

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  34. Ludwig Marcuse: Wie alt kann Aktuelles sein? Literarische Porträts und Kritiken. Hrsg. mit einem Nachwort und einer Auswahlbibliographie von Dieter Lamping. Zürich 1989.

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Krause, R. (2014). Auf dem Weg zum urbanen Intellektuellen Heines Berliner Identitätskrise und ihre Deutung durch Ludwig Marcuse. In: Brenner-Wilczek, S. (eds) Heine Jahrbuch 2014. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01375-0_5

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