Zusammenfassung
Die am 11. Oktober 1810 erstmals in Kleists eigenen ›Berliner Abendblättern‹ erschienene Erzählung ›Das Bettelweib von Locarno‹ ist bis heute eine Verlegenheit für die Interpreten. Der kurze Text hat so viele unterschiedliche Deutungen über sich ergehen lassen müssen, dass man aus ihnen mühelos eine Geschichte literaturwissenschaftlicher Methodenapplikation erstellen könnte. Eine Legion von Interpreten sah sich herausgefordert, einer knappen, eigentlich ganz einfach-verständlichen Erzählung tiefere Bedeutungen abzulauschen. ›Das Bettelweib von Locarno‹ sollte mehr sein als nur eine Brotarbeit des Journalisten Kleist für seine kurzlebigen Zeitungsprojekte oder ein Haschen nach dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack mittels trivialer Gespenstermotive. Im Zeichen der Textimmanenz hat Emil Staiger die Erzählung 1942 von der Schweiz aus zum Gegenstand einer mustergültigen Stilanalyse gemacht; es gehe um die »reine«, die »dramatische Form an sich«, in der Kleist »das Höchste erreicht« habe: »Der Stoff ist weiter nichts als eine Schauermär«.1 Diese provokative Einseitigkeit Staigers2 hat die Literaturwissenschaft nicht ruhen lassen, im ›Bettelweib‹ mehr zu sehen als eine meisterhafte, aber inhaltslose Stilübung; in den 1950er und 60er Jahren versuchten die Forscher daher eine ›Aufwertung des Gehalts‹,3 einen tieferen Sinn oder gar Kleists Rechtsverständnis nachzuweisen. Aus diesem Geist des Widerspruchs richtete sich der geschärfte Blick dann auf die Darstellung des ›Gespenstischen‹.4 Eine materialistisch ausgerichtete Interpretation wollte zeigen, indem sie die Trivialität von Stoff und Geschichte bestätigte, dass es im Kern um den Gegensatz von arm und reich gehe und dass der Marchese sogar ein »Verbrechen« am armen Bettelweib begangen habe.5
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Emil Staiger, Heinrich von Kleist: ›Das Bettelweib von Locarno‹. Zum Problem des dramatischen Stils. Zit. nach Jost Schillemeit (Hg.), Deutsche Erzählungen von Wieland bis Kafka, Frankfurt a.M. 1966, S. 87–100, hier S. 100.
Vgl. Egon Werlich, Kleists ›Bettelweib von Locarno‹. Versuch einer Aufwertung des Gehalts. In: Wirkendes Wort 15 (1965), S. 239–257;
Christian Grawe, Kleists ›Das Bettelweib von Locarno‹ — Eine Geschichte, die »eines tieferen ideellen Gehalts entbehrt«? In: Ders., Sprache im Prosawerk, Bonn 1974, S. 89–97.
Vgl. Jürgen Schröder, ›Das Bettelweib von Locarno‹. Zum Gespenstischen in den Novellen Heinrich von Kleists. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17 (1967), S. 193–207.
Peter Horn, Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung, Königstein 1978, S. 148–167 (Kap. ›Wie trivial ist die Gespenstergeschichte ›Das Bettelweib von Locarno‹?‹), hier S. 164.
Vgl. Klaus Müller-Salget, Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 286: »eben jene Kausalität von Schuld und Strafe«.
Vgl. Ulrike Landfester, ›Das Bettelweib von Locarno‹. In: Walter Hinderer (Hg.), Interpretationen. Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 141–156, hier S. 145.
Vgl. Georg Mein, Fantastik als Korrektiv der Wirklichkeit. Überlegungen zur Theorie des Fantastischen und zu Kleists ›Bettelweib von Locarno‹. In: Der Deutschunterricht 58 (2006), H. 3, S. 10–20, hier S. 19.
Vgl. Eckart Pastor und Robert Leroy, Die Brüchigkeit als Erzählprinzip in Kleists ›Bet-telweib von Locarno‹. In: Études Germaniques 34 (1979), S. 164–175.
So Bernd Fischer, Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists, München 1988, S. 84–90 (Kap. ›Das Bettelweib von Locarno‹).
Vgl. Gero von Wilpert, Der Ausrutscher des Bettelweibes von Locarno. »Capriccio con fuoco«. In: Seminar 26 (1990), S. 283–293.
Vgl. Thomas Dutoit, Ghost Stories, the Sublime and Fantastic Thirds in Kant and Kleist. In: Colloquia Germanica 27 (1994), S. 224–254.
Vgl. Michael Niehaus, ›Das Bettelweib von Locarno‹. Vorschlag für eine neue Nutzung eines Lesebuchtextes. In: Der Deutschunterricht 60 (2008), H. 5, S. 80–88.
Vgl. Jürgen Kreft, Kleists ›Bettelweib von Locarno‹ — naiver oder kritischer Geisterdiskurs? In: KJb 1997, S. 185–201;
Rolf Selbmann, Finales Erzählen. Wie aus Kleists ›Das Bettelweib von Locarno‹ Bedeutungen durch die Literaturgeschichte wandern. In: Jürgen Förster (Hg), Schulklassiker lesen in der Medienkultur. Stuttgart u.a. 2000, S. 152–179;
Jochen Schmidt, ›Das Bettelweib von Locarno‹. Die Katastrophe einer überlebten Ordnung. In: Ders: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 256–260;
Iris Hermann, Prolegomena einer Ästhetik des Schmerzes in Literatur, Musik und Psychoanalyse, Heidelberg 2006, S. 332–345; zuletzt
Christian Moser, ›Das Bettelweib von Locarno‹ [Art.]. In: Ingo Breuer (Hg.), Kleist-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung, Stuttgart und Weimar 2009, S. 128–133.
Im Folgenden fasse ich — absichtlich überzeichnend — zusammen: Gerhard Schulz, Kleists ›Bettelweib von Locarno‹ — eine Ehegeschichte? In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 431–440.
Vgl. dazu Johannes F. Lehmann, Geste ohne Mitleid. Zur Rolle der vergessenen Marquise in Kleists ›Das Bettelweib von Locarno‹. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 16 (2006), S. 57–76.
Vgl. jetzt Gerhard Oberlin, Der Erzähler als Amateur. Fingiertes Erzählen und Surrealität in Kleists ›Bettelweib von Locarno‹. In: KJb 2006, S. 100–119, hier S. 106; schon früher
Klaus Müller-Salget, Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen. In: Walter Müller-Seidel (Hg), Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978, Darmstadt 1981, S. 166–199.
So nämlich Hellmuth Himmel, Musikalische Fugentechnik in Kleists ›Bettelweib von Locarno‹. In: Sprachkunst 2 (1971), S. 188–210, der die Staiger’sche Stilanalyse nur weiterführt, mit nebulösen Andeutungen, dieser Wiederholungsstruktur werde »höherer Stilwert zuerkannt«; diese geschehe nicht »vom Ereignishaften, sondern vom Bewußtsein her«; der Spuk werde dabei zur »Instanz inneren Geschehens« (S. 208).
Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S. 161–179 (Kap. ›Augenblickseuphorie und Selbstmord‹). Zum Plötzlichkeitsmotiv Heinrich von Kleists siehe dort auch: »den Selbstmord in Kleists Prosa selbst vorbereitet zu sehen, einer Prosa, die mörderisch ist, weil das Schreckliche gelassen, kalt und überlegen vorgetragen wird, eine verborgene Komplizenschaft des Autors ahnen lassend« (S. 166).
Vgl. Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 205–233 (Kap. Ästhetische Formalisierung Kleists ›Über das Marionettentheater«).
Vgl. meinen Aufsatz Rolf Selbmann, Die andere Wirklichkeit des Erzählens. Zu Heinrich von Kleists ›Anekdote aus dem letzten preußischen Kriegen In: KJb 1997, S. 202–206; Lehmann, Geste ohne Mitleid (wie Anm. 18), S. 68f
Zu Kleists Schlüssen vgl. meinen Aufsatz Rolf Selbmann, »Hier endigt die Geschichte«. Erzählstrategie und poetologische Reflexion in Kleists Erzählschlüssen. In: KJb 2005, S. 233–247.
Vgl. dazu Ansgar Nünning, Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998; Monika Fludernik, Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit. In: Fabienne Liptay und Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 39–59.
Vgl. Staiger, Heinrich von Kleist (wie Anm. 1), S. 96. Zur wissenschaftsgeschichtlichen und -methodischen Einordnung jetzt Michael Kämper-van den Boogaart, »So weht es uns an aus dem siebzehnten Satz«. Staigers didaktische Lektüre von Kleists ›Das Bettelweib von Locarno‹. In: Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum (Hg), Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation heute, Bern u.a. 2007, S. 229–241.
Vgl. Fischer, Ironische Metaphysik (wie Anm. 10), S. 86: »Die finale Struktur der Syntax ist die Struktur der Deutung«. Vgl. auch Gerhard Gönner, Vom »zerspaltenen Herzen« und der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«. Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist, Stuttgart 1989, S. 50–53 über das ›Bettelweib‹ unter der Überschrift ›Das Dämonische und die Wiederholung — ein Reflex menschlicher Verfehlungen: Phänomenologie einer Gewalt der Töne‹.
Vgl. Monika Ehlers, Grenzwahrnehmungen. Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist — Stifter — Poe, Bielefeld 2007, S. 44. Ehlers weist darauf hin, dass in den Erstdrucken nach dem Titel jeweils ein Punkt stehe; dies mache den Titel und seine Aussage zu einer »Grenzfigur«.
Franziska Ehinger, Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie, Würzburg 2009, S. 219–222, hier S. 219.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2013 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Selbmann, R. (2013). ›Das Bettelweib von Locarno‹. In: Blamberger, G., Breuer, I., de Bruyn, W., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2013. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-01199-2_23
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-01199-2_23
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-02498-5
Online ISBN: 978-3-476-01199-2
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)