In einem Beitrag im Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie [8] untersuchten wir die Gültigkeit von einfachen Summenformeln zur Gefährdungsbeurteilung bei Exposition gegenüber mehreren (krebserzeugenden) Arbeitsstoffen unter der Annahme binärer Expositionen und eines deterministischen binären Respons. Wir zeigten, dass Exzessrisiken selbst bei Ausschluss präventiver Wirkungen unteradditiv sein können, also notwendigerweise weder eine Additivität noch eine Überadditivität der Exzessrisiken gilt. Daraus folgt, dass einfache Summenformeln keine Rechtfertigung haben, auch nicht zur Abschätzung des Exzessrisikos von unten, da Summenformeln die Additivität behaupten. Das Umweltbundesamt organisierte ein externes Review zu unserer Arbeit, wofür wir uns herzlich bedanken. Die 3 hinzugezogenen Gutachter sind anerkannte Experten für Kausaltheorie und lehren und forschen in Philosophie an deutschen oder Schweizer Universitäten (Prof. Baumgartner, Genf; Prof. Bartels, Bonn; Prof. Beisbart, Bern). Wir möchten uns bei ihnen für den Aufwand und die Akribie bedanken, mit der unser Beitrag kritisch gelesen und bewertet wurde.

Von 2 Gutachtern wurde zu Recht bemängelt, dass in dem dritten erläuternden Beispiel zur Tab. 2 auf S. 196 in [8] nicht der Responstyp 15, sondern der Typ 9 beschrieben wird. Herr Konietzka, Umweltbundesamt, informierte uns zudem, dass es in der Überschrift zu Tab. 1 auf S. 196 in [8] nicht „Y“, sondern „Z“ heißen muss. Wir danken den Reviewern und Herrn Konietzka für die Aufdeckung der Tippfehler.

Die Gutachter unterstützen unsere Hauptaussage, dass die vorgeschlagenen einfachen Summenformeln keine allgemeine Gültigkeit haben können. Wichtiger ist jedoch, dass die Reviewer der Publikation wesentliche ergänzende Fragen aufwarfen, die in unserem Beitrag nicht bearbeitet sind. Wir halten diese Fragen für so bedeutend, dass wir sie mit dieser Ergänzung zum Originalbeitrag der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellen möchten.

Die Fragen:

  1. 1.

    Sind Exzesswahrscheinlichkeiten Wahrscheinlichkeiten im strikt mathematischen Sinn, d. h., genügen Exzesswahrscheinlichkeiten den Kolmogorov-Axiomen? Wenn dem so ist, können Exzesswahrscheinlichkeiten nicht negativ werden, was insbesondere Gl. (8) in [8] problematisiert, die genau dies behauptet. Wesentliche Folgerungen in [8] hängen an der Gültigkeit von Gl. (8).

  2. 2.

    Warum werden präventive Wirkungen im wesentlichen Teil der Arbeit ausgeschlossen? Zumindest theoretisch können auch präventive Wirkungen auftreten. Zudem haben Morfeld und Spallek [8] den Begriff „präventiv“ sehr weit gefasst und damit auch Responstypen ausgeschlossen, die in Einzelsituationen adverse Wirkungen zeigen. Was ergibt sich, wenn die Auswertung auf Responstypen eingeschränkt wird, die in einem weiten oder auch engen Sinne adverse Wirkungen beinhalten?

  3. 3.

    Die Arbeit setzt 2 binäre Expositionsvariablen voraus. Was ergibt sich, wenn intervallskalierte Expositionen zugelassen werden?

  4. 4.

    Die Arbeit setzt einen deterministischen binären Respons voraus. Wie ändern sich die Hauptergebnisse, wenn ein probabilistischer Respons angenommen wird?

Einige dieser Fragen wirken auf den ersten Blick technisch, haben aber eine große Tragweite. Die Fragen 1) und 2) bezweifeln die Belastbarkeit der Aussagen in Morfeld und Spallek [8]. Die Fragen 3) und 4) hingegen zielen darauf, dass die veröffentlichte Arbeit keine hinreichende Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, um praxisrelevante Situationen von höherer Komplexität einzuschließen.

Im Folgenden stellen wir uns diesen 4 Fragenkomplexen.

Exzessrisiken sind keine Wahrscheinlichkeiten

Die von uns in [8] berechneten Risiken sind Wahrscheinlichkeiten im Sinne der Kolmogorov-Axiome. Risiken sind deshalb notwendigerweise nicht-negativ. Exzessrisiken sind aber keine Wahrscheinlichkeiten, auch nicht Differenzen zwischen Exzessrisiken. Der Begriff „Exzessrisiko“ impliziert also nicht, dass Exzessrisiken oder Differenzen zwischen Exzessrisiken notwendig ≥0 sind.

Begründung

Die aus Tab. 2 und 3 in [8] abgeleiteten Risiken berechnen sich als Summen über die relativen Häufigkeiten disjunkter Responstypen. Da relative Häufigkeiten zu endlichen Mengen Wahrscheinlichkeiten im Sinne der Kolmogorov-Axiome darstellenFootnote 1, können wir das Additionsaxiom anwenden, das die Additivität (allgemeiner: σ‑Additivität) der Wahrscheinlichkeiten disjunkter Ereignisse sichert. Damit ergeben sich die Risiken R 00, R 01, R 10 und R 11 als Wahrscheinlichkeiten. Der Klarheit halber sei ergänzt, dass wir von bedingten Wahrscheinlichkeiten sprechen, die über verschiedenen Wahrscheinlichkeitsräumen definiert sind und die sich aufgrund der Bedingungen (00, 01, 10, 11) unterscheiden. Daher addieren sich diese bedingten Risiken R 00, R 01, R 10 und R 11 nicht notwendig zu 1. Exzessrisiken sind Ausdrücke einer höheren Stufe und werden nicht über Operationen in einer zugrunde liegenden Mengenalgebra definiert, sondern durch direkte Differenzbildung zwischen den bedingten Wahrscheinlichkeiten aus unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsräumen, z. B. R 01 − R 00 (s. im Glossar 10.1 der TRGS 910 [6] die Definition der Begriffe „Exzessrisiko“ (b) auf S. 114 bzw. gleichbedeutend „Additional Risk“ auf S. 103). Wahrscheinlichkeiten haben schwache algebraische Eigenschaften. Es existiert ein neutrales Element der Addition und der Multiplikation, aber es gibt keine Inversen (sie müssten kleiner als 0 bzw. größer als 1 sein, was der Normierung widerspricht). Deshalb muss die Differenz zweier Wahrscheinlichkeiten nicht notwendigerweise eine Wahrscheinlichkeit darstellen. Dies gilt schon gar nicht für die Differenz bedingter Wahrscheinlichkeiten, die nicht über demselben Wahrscheinlichkeitsraum definiert sind. R 00 − R 01 ist somit im Allgemeinen keine Wahrscheinlichkeit, und sicherlich ist es das nicht, sobald R 00R 01. Dasselbe gilt für noch weiter gehende Verrechnungen wie Differenzen von Wahrscheinlichkeitsdifferenzen. Insofern ist es ein Fehlschluss anzunehmen, dass R 11 − R 00 − (R 10 − R 00) − (R 01 − R 00) notwendig nicht-negativ ist, denn dieser Ausdruck ist keine Wahrscheinlichkeit im Sinne der Kolmogorov-Axiome. Wir bestreiten nicht, dass es Situationen geben kann, in denen R 11 − R 00 = (R 10 − R 00) + (R 01 − R 00) oder R 11 − R 00 > (R 10 − R 00) + (R 01 − R 00) gelten mag. Unsere Argumentation beruht allein auf der Aussage, dass R 11 − R 00 < (R 10 − R 00) + (R 01 − R 00) nicht ausgeschlossen werden kann, da R 11 − R 00 − (R 10 − R 00) − (R 01 − R 00) keine Wahrscheinlichkeit ist.

Die allgemeine Sprachregelung mag unglücklich und irritierend sein, Ausdrücke wie R 11 − R 00 oder R 11 − R 00 − (R 10 − R 00) − (R 01 − R 00) als „Exzessrisiken“ zu bezeichnen, denn diese Terme stellen keine Risiken im Sinne von Wahrscheinlichkeiten dar. Für die aktuellen Diskussionen ist es deshalb umso wichtiger, die mathematischen Eigenschaften dieser Ausdrücke klar vor Augen zu haben. Alle Versuche, einfache Summenformeln dadurch zu rechtfertigen, dass man Exzessrisiken als Wahrscheinlichkeiten behandelt, müssen daher scheitern, obwohl solche Argumentationen vordergründig plausibel sein mögen.

Adverse Reaktionstypen

Die Einschränkung auf adverse Reaktionstypen (in einem weiten oder in einem engen Sinn gefasst) erlaubt viele Konstellationen, in denen die Exzessrisiken unteradditiv sind. Einfache Summenformeln gelten also auch in dieser Situation nicht. Dieses Ergebnis überrascht nicht, da in Morfeld und Spallek [8] gezeigt wurde, dass selbst bei Ausschluss aller präventiven Expositionswirkungen eine Unteradditivität der Exzessrisiken auftreten kann.

Begründung

Der Fragenkomplex 2 enthält 2 voneinander logisch unabhängige Teilfragen:

  1. 2a)

    Warum haben die Autoren in [8] die Betrachtung unter der Bedingung durchgeführt, dass präventive Wirkungen ausgeschlossen werden?

  2. 2b)

    Was ergibt sich, wenn stattdessen die Betrachtung auf adverse Wirkungen eingeschränkt wird?

Bevor wir die Fragen beantworten, möchten wir klarstellen, dass unsere zentrale Aussage, dass weder die Additivität noch die Überadditivität der Exzessrisiken folgt und deshalb einfache Summenformeln keine Rechtfertigung haben, bereits ohne jede zusätzliche Bedingung gilt (s. hierzu die Gl. (9) in [8] und die zugehörigen Diskussionen). Es stellt sich somit lediglich die Frage, ob denn die einfachen Formeln zu „retten“ sind, wenn einschränkende Bedingungen auferlegt werden. Wir betonen noch einmal, dass klar ist, dass die einfachen Summenformeln ohne die Einführung solcher besonderen Bedingungen nicht gelten. In [8] untersuchten wir, ob eine „Rettung“ der einfachen Formeln möglich wird, wenn präventive Wirkungen a priori ausgeschlossen werden (entspricht Frage 2a, die mit „nein“ zu beantworten ist). Jetzt untersuchen wir zusätzlich, ob dies denn gelingen kann, wenn die Betrachtung auf adverse Wirkungen eingeschränkt wird (entspricht Frage 2b).

Zunächst zur Teilfrage 2a: Wir haben den Begriff der präventiven Wirkung in [8] weit gefasst. Es gelten alle Reaktionstypen als präventiv, die mindestens eine präventive Wirkung beinhalten. Wir zählen damit 10 Reaktionstypen als präventiv, bei denen entweder eine Einzelexposition oder die Doppelexposition den Wert von Y im Vergleich zum Basiswert oder zum Wert einer Einzelexposition auf 0 setzt (s. Tab. 2 in [8]). Die Reaktionsmuster der Responstypen 10, 12 und 14 weisen alle einen Basiswert von Y = 0 auf und zeigen bei Einzelexpositionen Y = 1. Dies bedeutet, hier haben die Expositionen X oder Z adverse Wirkung. Trotzdem wurden diese Reaktionsmuster in [8] als „präventiv“ gewertet, weil bei Doppelexposition der Wert von Y wieder 0 ist. Wir haben bewusst diesen weiten Begriff des präventiven Responstyps gewählt, um in [8] zu zeigen, dass selbst bei strengstem Ausschluss präventiver Wirkungen eine Unteradditivität von Exzessrisiken auftreten kann. Die Diskussion ist zwar theoretisch offen für präventive Wirkungen – so ist es durchaus möglich, dass sich 2 Kanzerogene bei gleichzeitiger Exposition gegenseitig blockieren – jedoch wird in einer Abhandlung der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin diesem Phänomen nicht viel Raum und Gewicht gegeben [10, s. auch: http://www.dgaum.de/fileadmin/PDF/Stellungnahmen_Positionspapiere/Positionspapier_ Synkanzerogenese.pdf]. In einer juristischen Stellungnahme führte dies zum Missverständnis, dass sich die „Einwirkungen wechselseitig verstärken und zumindest (!) additiv wirken“ ([5], s. auch den zugehörigen Leserbriefwechsel in [4, 9]). Morfeld und Spallek [8] zeigten, dass auch unter der Annahme des Ausschlusses präventiver Wirkungen weder die Additivität noch die Überadditivität der Exzessrisiken folgt und deshalb einfache Summenformeln selbst in diesem strikten Szenario keine Rechtfertigung haben, auch nicht zur Abschätzung der Exzessrisiken von unten. Dies gilt natürlich aber insbesondere dann, wenn präventive Wirkungen zugelassen werden, wie wir im Folgenden beispielhaft für einen weit gefassten Begriff der adversen Wirkung darlegen. Wir untersuchen zusätzlich auch einen eng gefassten Begriff der adversen Wirkung, um die Frage 2b möglichst vollständig zu bearbeiten.

Nun zur Teilfrage 2b: Wir fassen „adverse Wirkung“ zunächst ähnlich weit wie den Begriff der „präventiven Wirkung“ und definieren Reaktionstypen in Tab. 2 [8] als „advers“, die mindestens eine nachteilige Wirkungskomponente aufweisen: 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 12 und 14. Diese können wir gemeinsam untersuchen, indem p 1 = 0, p 9 = 0, p 11 = 0, p 13 = 0, p 15 = 0 und p 16 = 0 gesetzt werden. Wir betonen, dass die Responstypen 3, 5, 7, 10, 12 und 14 gleichzeitig präventiv sind (im obigen weiten Sinn). Die beiden untersuchten Bedingungen (Teilfrage 2a, Teilfrage 2b) stehen somit nicht in einem logischen Abhängigkeitsverhältnis.

Aus Gl. (9) in [8] ergibt sich für die adversen Reaktionstypen:

$$R_{11}-R_{00}-\left (R_{10}-R_{00}\right )-\left (R_{01}-R_{00}\right )=$$
$$=-p_2+p_3+p_5+2p_7+p_8-p_9-2p_{10}-p_{12}-p_{14}+p_{15}$$
$$=-p_2+p_3+p_5+2p_7+p_8-2p_{10}-p_{12}-p_{14}.$$

Dieser Ausdruck wird negativ genau dann, wenn p 3 + p 5 + 2p 7 + p 8p 2 + 2p 10 + p 12 + p 14.

Auch eine Einschränkung auf adverse Wirkungen kann somit nicht ausschließen, dass viele Konstellationen auftreten, in denen die Exzessrisiken unteradditiv sind. Dies gilt auch dann, wenn zusätzlich die gleichzeitig als präventiv eingestuften Typen 3, 5, 7, 10, 12 und 14 eliminiert werden, also eine enge Fassung des Begriffs „advers“ erfolgt. Die obige Gleichung reduziert sich in dieser Situation zu

$$R_{11}-R_{00}-\left (R_{10}-R_{00}\right )-\left (R_{01}-R_{00}\right )=-p_{2}+p_{8}.$$

Dieser Ausdruck wird negativ genau dann, wenn p 8p 2, was stets möglich ist.

Dieses Ergebnis zu adversen Wirkungen (im weiten wie im engen Sinne) überrascht nicht, da in [8] gezeigt wurde, dass selbst bei Ausschluss aller präventiven Expositionswirkungen eine Unteradditivität der Exzessrisiken auftreten kann, also die einfachen Summenformeln weder eine unverzerrte Schätzung des Exzessrisikos erlauben noch dessen Abschätzung von unten.

Intervallskalierte Expositionsvariablen

Auch bei intervallskalierten Expositionsvariablen X und Z kann durchgängig eine Unteradditivität der Exzessrisiken vorliegen. Dies gilt selbst dann, wenn X und Z nie präventiv wirken. Die in Morfeld und Spallek [8] für binäre Expositionen gezeigte Aussage, dass einfache Summenformeln selbst bei Ausschluss präventiver Wirkungen keine Rechtfertigung haben, auch nicht zur Abschätzung der Exzessrisiken von unten, gilt ebenfalls für intervallskalierte Variablen.

Begründung

Wir zeigen dies im Folgenden für beliebige, ansteigende Expositions-Risiko-Beziehungen der Expositionen X und Z und beginnen mit der Festlegung entsprechender Funktionen: f 1(X) und f 2(Z) seien streng monoton steigende Funktionen nach [0,1), definiert über den reellen Intervallen {X | 0 ≤ X ≤ X max} bzw. {Z | 0 ≤ Z ≤ Z max}, wobei für die Ausgangswerte

$$f_1(0)=f_2(0)=c,\quad 0 \leq c<1$$

gelten soll. X max und Z max können unendlich sein. Wir benutzen diese beiden Funktionen f 1 und f 2 weiter unten, um die bedingten Wahrscheinlichkeiten P(Y = 1 | X, Z) zu definieren. Jedoch führen wir zunächst eine gemeinsame Funktion f ein.

Die gemeinsame Funktion f wird mithilfe von f 1 und f 2 wie folgt über {X, Z | 0 ≤ X ≤ X max, 0 ≤ Z ≤ Z max} definiert:

$$f(X,Z)=f_1(X)+f_2(Z)-(f_1(X)-c)\cdot(f_2(Z)-c)-c.$$

Es gilt dann

$$f(X,0)=f_1(X)\quad \text{und}\quad f(0,Z)=f_2(Z).$$

Des Weiteren folgt für X > 0 und Z > 0 eine doppelte Ungleichung:

$$0 < (f_1(X)-c)\cdot (f_2(Z)-c)<\min(f_1(X),f_2(Z)).$$

Die erste Ungleichung gilt, da f 1(X) − c und f 2(Z) − c beide positiv sind. Die zweite gilt, da f 1(X) − c < 1 und f 2(Z) − c < 1 und f 1(X) − c ≤ f 1(X) und f 2(Z) − c ≤ f 2(Z): (f 1(X) − c) · (f 2(Z) − c) < 1 · (f 2(Z) − c) ≤ f 2(Z) und (f 1(X) − c) · (f 2(Z) − c) < (f 1(Z) − c) · 1 ≤ f 1(Z), also zusammengefasst

$$(f_1(X)-c)\cdot (f_2(Z)-c)<\min(f_1(X),f_2(Z)).$$

Somit ist z. B. klar, dass f(X, Z) > f(0, Z) für X > 0 und f(X, Z) > f(X, 0) für Z > 0.

Wichtig für unsere folgenden Anwendungen ist die allgemeinere Aussage:

$$f_1(X)-(f_1(X)-c)\cdot(f_2(Z)-c)$$

ist streng monoton steigend in X für jedes feste Z. Denn

$$f_1(X)-(f_1(X)-c)\cdot(f_2(Z)-c) = (1-g)\cdot f_1(X)+g\cdot c,\quad 0\leq g:=f_2(Z)-c<1,$$

und f 1(X) ist streng monoton steigend. Entsprechend folgt,

$$f_2(Z)-(f_1(X)-c)\cdot(f_2(Z)-c)$$

ist streng monoton steigend in Z für jedes feste X.

Mithilfe von f wird die bedingte Wahrscheinlichkeit festgesetzt, dass der binäre Respons Y ∈ {0,1} den Wert 1 annimmt, also das Risiko für Y = 1 bei X und Z:

$$R_{XZ}=P(Y=1|X,Z)=f(X,Z).$$

Damit gilt aufgrund der Eigenschaften von f 1, f 2 und f, dass die Auftrittsrisiken für Y = 1 immer streng monoton über den Expositionen steigen. Es gibt also keine präventiven Wirkungen, d. h., nirgendwo im Definitionsbereich {X, Z | 0 ≤ X ≤ X max, 0 ≤ Z ≤ Z max} gibt es eine Risikoreduktion durch Expositionssteigerung.

Als bedingte Risiken für Y = 1 berechnen sich:

  • Basisrisiko:

    $$R_{00}=f_1(0)+f_2(0)-(f_1(0)-c)\cdot(f_2(0)-c)-c=c,$$
  • Risiko bei X beliebig und Z = 0:

    $$R_{X0}=f_1(X)+f_2(0)-(f_1(X)-c)\cdot (f_2(0)-c)-c=f_1(X),$$
  • Risiko bei Z beliebig und X = 0:

    $$R_{0Z}=f_1(0)+f_2(Z)-(f_1(0)-c)\cdot (f_2(Z)-c)-c=f_2(Z),$$
  • Risiko bei X beliebig und Z beliebig:

    $$R_{XZ}=f_1(X)+f_2(Z)-(f_1(X)-c)\cdot (f_2(Z)-c)-c.$$

Für die 3 Exzessrisiken folgt:

$$R_{X0}-R_{00}=f_1\left (X\right )-c,$$
$$R_{0Z}-R_{00}=f_2\left (Z\right )-c,$$
$$R_{XZ}-R_{00}=f_1\left (X\right )+f_2\left (Z\right )-\left (f_1\left (X\right )-c\right )\cdot\left (f_2\left (Z\right )-c\right )-2c.$$

Damit ergibt sich zur Frage der Additivität der Exzessrisiken:

$$R_{XZ}-R_{00}-\left (R_{0Z}-R_{00}\right )-\left (R_{X0}-R_{00}\right )=-\left (f_1\left (X\right )-c\right )\cdot\left (f_2\left (Z\right )-c\right )$$

und deshalb

$$R_{XZ}-R_{00}-\left (R_{0Z}-R_{00}\right )-\left (R_{X0}-R_{00}\right )<0,\quad \text{falls }X>0\text{ und }Z>0.$$

Also sind die Exzessrisiken immer unteradditiv.

Wir haben gezeigt: Bei intervallskalierten Variablen X und Z kann durchgängig eine Unteradditivität der Exzessrisiken vorliegen. Und diese Aussage zur Unteradditivität gilt selbst dann, wenn jede Expositionserhöhung risikosteigernd wirkt, also X und Z niemals eine präventive Wirkung haben. Wir betonen, dass hier eine bestimmte Klasse von Modellen für die Wahrscheinlichkeit des binären Respons angenommen wird (die Annahme besteht darin, dass die bedingte Wahrscheinlichkeit bei Doppelexposition durch f(X, Y) ausgedrückt wird; das ist nicht der allgemeine Fall). Die Beschränkung auf eine bestimmte Modellklasse ist aber völlig ausreichend, da es darum geht zu zeigen, dass Unteradditivität vorliegen kann. Die Beschränkung verhindert aber eine allgemeine Aussage, dass immer Unteradditivität vorliegt. Wir behaupten auch nicht, dass es keine Situation geben kann ohne Unteradditivität. Wir haben aber bewiesen, dass eine solche Unteradditivität nie ausgeschlossen werden kann.

Die Argumentation hat dennoch einen recht allgemeinen Charakter, da für f 1 und f 2 beliebige, streng monoton steigende Expositions-Risiko-Beziehungen gewählt werden können. Einfache Summenformeln sind nicht zu rechtfertigen, auch nicht zur Abschätzung der Exzessrisiken von unten.

Probabilistischer Respons

Die Tab. 2 und 3 in Morfeld und Spallek [8] gelten auch bei Annahme eines probabilistischen, d. h. eines indeterministischen Respons. Die aus den Tabellen abgeleiteten Aussagen sind damit auch gültig. Insbesondere gilt die folgende in Morfeld und Spallek [8] für einen deterministischen Respons gezeigte Aussage auch bei probabilistischem Respons: Exzessrisiken können unteradditiv sein selbst dann, wenn keine präventiven Wirkungen vorliegen. Einfache Summenformeln sind auch nicht bei Annahme einer probabilistischen Responsvariablen zu rechtfertigen, selbst dann nicht, wenn sie allein zur Abschätzung des Exzessrisikos von unten verwendet werden sollen.

Begründung

Morfeld und Spallek [8] arbeiten mit einer deterministischen Responsvariablen. Es kann sicherlich bestritten werden, ob hiermit alle wesentlichen Situationen eingeschlossen werden, da z. B. die Entwicklung von Lungenkrebs nach Exposition gegenüber Radon im untertägigen Uranbergbau indeterministisch ist, weil der Zerfall der eingeatmeten Radonatome den Gesetzen der Quantenmechanik (QM) unterliegt. Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob die Berücksichtigung einer strengen Indeterminiertheit von Ereignissen (im Sinne der QM) zu anderen Folgerungen führt. Hierzu betrachten wir das folgende Experiment.

Linear polarisiertes Licht – bestehend aus einzelnen Photonen, präpariert in einem Quantenzustand Ψ mit vertikaler Polarisation – wird durch einen polarisierenden Strahlteiler geschickt, der um den Winkel α im Uhrzeigersinn gegen die Polarisationsebene der eintretenden Photonen gedreht istFootnote 2. Der eingestellte Winkel α hänge folgendermaßen von der Kombination zweier binärer Expositionsvariablen X und Z abFootnote 3:

$$\alpha=10^\circ+X\cdot 12{,}5^\circ+Z\cdot 35^\circ.$$

Hinter dem Strahlteiler befinden sich in Richtung der beiden Ausgangsstrahlen Detektoren. Als Respons Y wird verfolgt, ob eine vertikale (1) oder horizontale (0) Polarisation nach Durchlaufen des Strahlteilers an den Detektoren gefunden wird. „Vertikal“ und „horizontal“ werden in Bezug auf den Stahlteiler bestimmt. Ist das Ergebnis Y = 1 (vertikal), so ist die Polarisationsebene um α gegenüber der Ausgangslage gedreht, bei Y = 0 (horizontal) um α − 90°. Die Messungen erfolgen zerstörungsfrei, sodass weitere Untersuchungen an dem Photon angestellt werden können, nachdem es den Detektor passiert hat (s. [1], S. 63). Für unsere Überlegungen ist von zentraler Bedeutung: Der Respons Y ist bis zur Messung an den Detektoren in Superposition, also indeterminiert. Jedoch sind die bedingten Wahrscheinlichkeiten für Y = 1 bzw. Y = 0 in den Detektoren nach QM auch ohne Messung definit. Die Born-Regeln lassen sich anwenden (vgl. [1], S. 75), und es gilt:

$$P(Y=1|X,Z)=\cos^2(\alpha)\quad\text{und}\quad P(Y=0|X,Z)=\sin^2(\alpha).$$

Die sich ergebenden Werte sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Wahrscheinlichkeit der Beobachtung einer vertikalen oder horizontalen Polarisation an Photonen nach der Passage eines polarisierenden Strahlteilers, der um den Winkel α im Uhrzeigersinn gegen die ursprüngliche Polarisationsebene der Photonen gedreht ist. Es gilt α = 10° + X · 12,5° + Z · 35°

Im eigentlichen Experiment wird diese Strahlteiler-Detektor-Kombination auf jedem möglichen Weg der Photonen 4‑fach hintereinander aufgebaut, wobei an den Strahlteilern nacheinander die Kombinationen X = 0 und Z = 0, X = 0 und Z = 1, X = 1 und Z = 0 sowie X = 1 und Z = 1 eingestellt werden. Der Winkel α bedeutet stets eine weitere Drehung im Uhrzeigersinn aus der letzten im Detektor bestimmten Polarisationsebene.

Das Experiment hat 16 verschiedene mögliche Ausgänge für die 4 Y-Variablen Y(0,0), Y(0,1), Y(1,0) und Y(1,1), die an den Photonen vermessen werden. Y(i,j) mit i und j ∈ {0,1}, bezeichnet den Messwert (Y = 1: vertikal, Y = 0: horizontal), der nach Passage des Strahlteilers, an dem X = i und Z = j eingestellt sind, vom Detektor registriert wird. Die Tab. 2 zeigt die 16 möglichen und disjunkten Responskombinationen (Responstypen). Jedes der 16 möglichen Ergebnisse hat eine definite Auftrittswahrscheinlichkeit. Zum Beispiel beträgt die Wahrscheinlichkeit, den Typen 16 zu beobachten, also 4‑mal Y = 1: p 1 = P(Y = 1 | X = 0, Z = 0)  ·  P(Y = 1 | X = 0, Z = 1) ·  P(Y = 1 | X = 1, Z = 0) ·  P(Y = 1 | X = 1, Z = 1) = 0,97 · 0,85 · 0,50 · 0,29 = 0,12. Für Typ 6 erhält man: p 6 = P(Y = 0 | X = 0, Z = 0) · P(Y = 1 | X = 0, Z = 1) · P(Y = 0 | X = 1, Z = 0) · P(Y = 1 | X = 1, Z = 1) = 0,03 · 0,85 · 0,50 · 0,71 = 0,0091.

Entsprechend lassen sich alle Wahrscheinlichkeiten p 1 bis p 16 berechnen.

Tab. 2 Auftrittswahrscheinlichkeit P der 16 Responstypen im Experiment

Die Tab. 2 hat dieselbe Form wie Tab. 2 in [8] (bzw. nach einer entsprechenden Einschränkung wie Tab. 3 in [8]), sodass alle Folgerungen zu Risiken und Exzessrisiken gültig bleiben, die aus Tab. 2 und 3 in [8] mathematisch abgeleitet wurden.

Diese Darstellung lässt sich erweitern, indem Wahrscheinlichkeiten zu einem deterministischen Ereignis hinzugemischt werden. Hierzu sei ein zweiter Versuchsaufbau mit anderer α‑Funktion realisiert, z. B.

$$\alpha=20^\circ+X\cdot 40^\circ+Z\cdot20^\circ.$$

Zu diesem Versuchsaufbau 2 gehören ebenfalls 16 Responstypen mit Realisierungswahrscheinlichkeiten q 1 bis q 16.

Ein fester Anteil a 1 der im Ausgangszustand präparierten Photonen werde durch Versuchsaufbau 1 geschickt und alle anderen durch den Versuchsaufbau 2 (komplementärer Anteil a 2 = 1 − a 1). Es sei determiniert, welches Photon durch Versuchsaufbau 1 läuft und welches durch Aufbau 2. Im Gesamtkollektiv der Photonen kommt der Responstyp k, 1 ≤ k ≤ 16, mit Wahrscheinlichkeit

$$w_k=a_1\cdot p_k+(1-a_1)\cdot q_k$$

vor. Wiederum entsteht eine Tabelle wie Tab. 2, aber mit Wahrscheinlichkeiten w k anstelle der Wahrscheinlichkeiten p k . Auch in dieser erweiterten Situation bleiben alle Folgerungen zu Risiken und Exzessrisiken gültig, die aus Tab. 2 und 3 in Morfeld und Spallek [8] mathematisch abgeleitet wurden. Entscheidend ist allein, dass jedem der Responstypen eine definite Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann, und die Typen als Ereignisse disjunkt sind. Einfache Summenformeln lassen sich auch nicht bei Annahme einer probabilistischen Responsvariablen rechtfertigen.

Fazit

  • Die wesentlichen Aussagen in Morfeld und Spallek [8] bleiben gültig, auch wenn

    • die Expositionen intervallskaliert sind oder

    • der binäre Respons probabilistisch ist oder

    • die Analysen auf Responstypen eingeschränkt werden, die in einem weiten oder engen Sinn adverse Effekte beschreiben.

  • Wir stellen klar, dass Exzessrisiken und Differenzen von Exzessrisiken keine Wahrscheinlichkeiten im Sinne der Kolmogorov-Axiome darstellen.