Zusammenfassung
In Auseinandersetzung mit Annahmen eines Kindheitsbildes der Westlichen Moderne werden Sorge- und Pflegeverhältnisse von young carer als konfliktreicher und ambivalenter Ausdruck kindlicher Handlungsfähigkeit und sozialer Beteiligung diskutiert. Mit Bezügen zu einer feministischen ethic of care argumentiert der Beitrag für eine Betrachtungsweise des Phänomens, die die Interdependenzen der Sorgeverhältnisse pflegender Kinder und hilfebedürftiger Erwachsener stärker in Augenschein nimmt und zieht Schlussfolgerungen für eine Beteiligung von Kindern an der Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Unterstützungsangebote, um die Erfahrungen und Interessen von Kindern im Sinne der Kinderrechte einzubeziehen.
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Notes
- 1.
Im Zusammenhang mit dem Ausbruch von AIDS im Südlichen Afrika wird in jüngerer Zeit von einer Zunahme sogenannter Child Headed Households berichtet, in denen Kinder die Verantwortung für die Versorgung und Sorge für den Haushalt in Abwesenheit bzw. bei Erkrankung von Eltern und Erwachsenen übernehmen (für einen Überblick s. Payne 2012).
- 2.
Aussagen, die sich auf Kinder beziehen, schließen auch junge Menschen bis zum Alter von 18 Jahren mit ein, auch, wenn diese nicht explizit genannt sind. Der Artikel folgt damit der Definition von „Kind“ nach der UN-Kinderrechtskonvention.
- 3.
Ressourcenschwache Gruppen sind mehrfach benachteiligt (Bauer und Büscher 2008). Zum einen sind sozial benachteiligte Gruppen überproportional häufig von schweren und chronischen Erkrankungen betroffen. Zum zweiten ist der Umgang mit Versorgungsangeboten ressourcenabhängig und damit ungleich verteilt. Die Ungleichheitsforschung diskutiert das Handlungsvermögen bzw. fähigkeit im Umgang mit gesundheitsspezifischen Versorgungsangeboten als milieuspezifisch bedingt, insofern sei auch die Gestaltung von Versorgungsbeziehungen davon abhängig. Schließlich erleben Angehörige sozial unterprivilegierter Gruppen institutionelle Diskriminierung, die zu sozial selektiven Effekten bei der Vergabe von Versorgungsleistungen führen (vgl. Bauer und Büscher 2008).
- 4.
Im englischsprachigen Raum werden die Begriffe young carer (UK) oder young care giver (USA, Zambia) synonym verwandt.
- 5.
Eine einheitliche Definition von young carer scheitert u. a. an der Alterseingrenzung: In UK umfasst der Begriff alle Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahren, in Australien werden auch 25 jährige als young carer bezeichnet; sowie an der Einschätzung vom Ausmaß und Umfang der von Kindern und Jugendlichen übernommenen Tätigkeiten. In diesem Beitrag beziehen wir uns auf die Definition aus dem aktuellen Report über young carer in England (The Children’s Society 2013).
- 6.
Im Vergleich der beiden letzten Befragungen 2001 und 2013 weist der Zensus einen Zuwachs von 20 % bei pflegenden Kindern auf (reale Zahl: 166, 363 Kinder im Jahr 2013 gegenüber 139,000 Kinder im Jahr 2001), wobei von einer großen Dunkelziffer auszugehen ist (The Children’s Society 2013, S. 6). Mitunter übernehmen Kinder bereits mit fünf Jahren pflegerische Verantwortung doch die größte Gruppe von young carer in England bildet die Altersgruppe der 10 bis 17-Jährigen (vgl. The Children’s Society 2013, S. 8). Der Report führt auf, dass doppelt so häufig eine/r der Erwachsenen unter Einschränkungen leidet und die Wahrscheinlichkeit, dass mehr als drei Kinder im Haushalt leben 1.6 mal so hoch ist, wie in Familien ohne pflegende Kinder (The Children’s Society 2013).
- 7.
- 8.
Im aktuellen Gutachten des Sachverständigenrats zu Gesundheit in Deutschland werden Kinder und Jugendliche erstmals auch als pflegende Angehörige erwähnt. Geschätzt wird, dass in Deutschland ca. 225 000 Kinder und Jugendliche Pflegeaufgaben wahrnehmen. Der Sachverständigenrat hat keine eigenen Daten erhoben, sondern verweist auf die Dissertation von Sabine Metzing aus dem Jahr 2007 (SVR 2014, S. 498). In einer Anhörung des Familienausschusses im Deutschen Bundestag im Mai 2014 informierte Sabine Metzing den Ausschuss über die spezifischen Probleme der geschätzt drei Millionen Kinder in Deutschland, bei denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist. (http://www.bundestag.de/presse/hib/2014_05/-/280432). In Österreich wurde eine Enquete-Kommission im Parlament eingesetzt, die sich auf eine umfangreiche Literaturrecherche im Rahmen einer Abschlussarbeit an der Universtität Graz stützen konnte (Weinberger 2011; Ortner 2009). Bis zum Vorliegen eigener Daten verfährt Österreich ähnlich wie Deutschland: In Ermangelung eigener Statistiken werden die Daten aus Großbritannien auf österreichische Verhältnisse umgerechnet. Derart wird geschätzt dass es ca. 25.270 Kinder in Österreich unter 18 Jahren gibt, die pflegen (Weinberger 2011).
- 9.
Während die eine Quelle die Gruppe der Kinder, die sich um ihre Eltern kümmern, als die größte aufführt (Dearden und Becker 2004), zeigt die Langzeitstudie, dass sich die Mehrheit der Kinder um ein Geschwister kümmert, um die eigenen Eltern kümmern sich demgegenüber 28 % (The Children’s Society 2013, S. 9). Die frühere Erhebung (Dearden und Becker 2004) wurde in Kooperation mit sozialen Projekten zur Unterstützung von young carer durchgeführt. Die LSYPE Studie basiert auf einer Langzeitstudie aller 13- bis 14-Jährigen in England (The Children’s Society 2013).
- 10.
Für erwachsene Angehörige fasst der Sachverständigenrat für Gesundheit zusammen, dass das Spektrum der Aufgaben pflegender Angehöriger breit gestreut ist und von kommunikativer Unterstützung sowie der Sicherung des Alltagslebens und der Alltagsstruktur über Beistand, Begleitung auf dem Weg durch die Versorgungsinstanzen und Versorgungsmanagement bis hin zu körpernahen (pflegerischen/pflegefachlichen) Tätigkeiten reicht (SVR 2014, S. 498).
- 11.
Im Rahmen einer explorativen Studie wurden mit 34 Familien halbstrukturierte Interviews geführt, in einem Zeitraum von 16 Monaten. An den insgesamt 81 Interviews waren 41 Kinder im Alter von 4 ½ bis 19 Jahren sowie 41 Eltern, davon 2 Großeltern beteiligt (vgl. Metzing 2007). Die Studie wurde als Dissertation im Fachbereich Pflegewissenschaft an der Universität Witten-Herdecke angenommen.
- 12.
Aus der Forschung mit erwachsenen Pflegepersonen ist bekannt, dass diese die dauerhafte Verfügbarkeit und Verantwortung als belastend erleben (BMG 2011, 28).
- 13.
Im Umgang mit Behörden gesundheitlicher Versorgung diskutieren Bauer und Büsche, dass Mentalitäts-, Kompetenz- und Fähigkeitsunterschiede bedeutsam werden, beispielsweise im (nicht-)Bezug von Leistungen (Bauer und Büsche 2008, S. 31).
- 14.
Mierendorff analysiert aus wohlfahrtsstaatstheoretisch-kindheitssoziologischer Perspektive, wie Kindheit zu einem stabilisierenden Element moderner Sozialstruktur westlicher Wohlfahrtsstaaten werden konnte und nach wie vor zu seiner Stabilität beiträgt (vgl. Mierendorff 2010).
- 15.
Das Muster einer verschulten, arbeitsfreien und familialisierten Kindheit wird durch internationale Abkommen und die UN-Kinderrechtskonvention zu einer normativen Orientierung auch außerhalb westlicher Wohlfahrtsstaaten (Payne 2012).
- 16.
Insbesondere die Psychiatrie-Forschung macht darauf aufmerksam, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern ein 3 bis 4 mal so hohes Risiko haben, selbst zu erkranken bzw. in geringerem Maße selbst eine psychische Störung zu entwickeln (Lenz et al. 2011).
- 17.
- 18.
Die feministische CareEthik nach Tronto (1993) geht von der Beobachtung gesellschaftlicher Geringschätzung sorgender Tätigkeit und Haltung sowie wahrgenommener menschlicher Bedürftigkeit aus. Care umfasst nach Tronto sowohl eine Haltung, die sich in der Sorge für andere und für das Gemeinwohl ausdrückt, als auch in der Handlung und als Basis der Sorge für sich selbst zeigt, im Privaten und als gesellschaftliche Aufgabe (Tronto 1993).
- 19.
In Deutschland gilt das vorrangige Interesse der Situation Kinder psychisch erkrankter Eltern (vgl. Lenz et al. 2011).
- 20.
Angebote wie Kurzzeitpflege können Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern pflegen, nicht in Anspruch nehmen. Auch eine Freistellung des Schulbesuchs aufgrund „akuter Pflegesituation“ ist nicht möglich.(SVR 2014, 504).
- 21.
Frühe bzw. rechtzeitige Bereitstellung von Angeboten für Kinder und ihre Angehörigen wären aus kinderpsychiatrischer Sicht eine präventiv Maßnahme um ungünstige Entwicklungen zu verhindern oder abzuschwächen. Hier spricht sich die kinderpsychiatrische Fachliteratur insbesondere für resillienz und ressourcenfördernde Angebote aus. Dazu zählen auch solche Angebote, die in verständlicher Sprache über die Krankheit aufklären und Informationen derart zu vermitteln, dass die Kinder sie verstehen und für ihre Situation umsetzen können. (Reinisch et al. 2011).
- 22.
Bisher hatten Kinder kein eigenes Antragsrecht bezogen auf viele Hilfen beispielsweise in der Kinder- und Jugendhilfe. Diese Adressat_innenausrichtung auf Eltern erschwerte es Kindern bislang diese Dienste in Anspruch zu nehmen oder einzufordern, wenn ihre Erziehungsberechtigten nicht in der Lage waren oder keine Einsicht zeigten. Mit in Kraft treten des Bundeskinderschutzgesetz (01.01.2012) wurden gesetzliche Strukturen geschaffen zur Förderung der Kooperation und von Netzwerken, der Unterstützung im Rahmen Früher Hilfen und zur Stärkung der Rechte der Kinder. Damit wurde die Position von Kindern gestärkt, es bleibt zu beobachten, wie sich dieses in der Praxis umsetzt und Kinder als tatsächliche Dialogpartner_innen beispielsweise im Fall der young carer anerkannt werden.
- 23.
Siehe dazu auch Empfehlungen des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen (SVR 2014, 469 f.).
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Danksagung
Verena Mayr-Kleffel sei an dieser Stelle herzlich für ihre wertvollen und weiterführenden Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Beitrages gedankt.
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Wihstutz, A., Schiwarov, J. (2016). Kinder als Sorgende - Anmerkungen aus kindheitssoziologischer Perspektive. In: Lange, A., Steiner, C., Schutter, S., Reiter, H. (eds) Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie. Springer NachschlageWissen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-05676-6_23-2
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Kinder als Sorgende - Anmerkungen aus kindheitssoziologischer Perspektive- Published:
- 05 July 2016
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-05676-6_23-2
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Original
Kinder als Sorgende aus kindheitssoziologische Anmerkungen- Published:
- 11 January 2016
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-05676-6_23-1