Zusammenfassung
Will man die krisenhafte Dynamik des Wohlfahrtsstaates – und deren gesellschaftliche Konsequenzen – verstehen, erscheint es analytisch notwendig und politisch sinnvoll, die Kritik am neoliberalen Rückzug des Staates zu erweitern und eine kritische Theorie des Wohlfahrtsstaates zu entwickeln, die auf mindestens fünf Grundannahmen beruht. Der Wohlfahrtsstaat ist erstens ein übergreifender Vergesellschaftungsmodus, zweitens eine für die Etablierung und Aufrechterhaltung kapitalistischer Gesellschaften unhintergehbare Kommodifizierungsinstanz, fungiert drittens als Krisenmanager zwischen widerstreitenden funktionalen Erfordernissen (Spätkapitalismustheorie), bezeichnet deshalb viertens selbst notwendig eine Widerspruchskonstellation und ist fünftens trotz aller strukturellen Widersprüche nach wie vor eine Emanzipationschance. Eine kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats ist vor diesem Hintergrund zuallererst eine Theorie der im Wohlfahrtsstaat institutionalisierten Gegensätze und der durch seine Interventionen hindurch sich reproduzierenden Widersprüche. Diese werden im Rahmen des Beitrags entlang von Strukturproblemen der Dekommodifizierung einerseits sowie der Widersprüche des aktuellen aktivierenden Wohlfahrtsstaats dargestellt und diskutiert. Dabei zeigt sich, dass der Wohlfahrtsstaat auch in seiner gegenwärtigen, aktivierend-investiven Gestalt den schmalen Grat zwischen einer funktionalen Flankierung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer materialen Politisierung nicht wird verlassen können.
Schlüsselwörter
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Lessenich, S. (2016). Kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats. In: Bittlingmayer, U., Demirovic, A., Freytag, T. (eds) Handbuch Kritische Theorie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12707-7_45-1
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