Zusammenfassung
Psychotherapie und Supervision sind gleichwertige Formate. Ein bewusster Rollenwechsel des Beraters hilft, ratsuchenden Menschen mit ihren Problemen im Arbeitsleben und im Privatleben gerecht zu werden. Psychotherapie und Supervision basieren auf unterschiedlichen Referenzmodellen mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten und einer unterschiedlichen Diagnostik. Es gilt daher präzise im Einzelfall auszuloten, wie sich supervisorische Aspekte in die Psychotherapie integrieren lassen und inwieweit das Privatleben in der Supervision berücksichtigt werden kann und wo Grenzen gezogen werden müssen. Der Rollenwechsel erfordert Transparenz gegenüber den Klienten.
Abstract
Psychotherapy and supervision have their own quality. A change of roles helps to focus private problems as well as problems enduring at work. Psychotherapie as well as supervison follow their own theories and differ in their diagnostics. The integration of aspects of psychotherapie and supervisonal aspects needs to be discussed carefully. The change of role should be transparent to the client.
Einleitung
Persönliche Probleme beeinträchtigen nicht nur das private Leben, sondern können auch in das Berufsleben hineinwirken. Konflikte am Arbeitsplatz lassen sich nicht ausschließlich mit dem Instrumentarium der Psychotherapie begreifen und lösen, sondern bedürfen einer eigenständigen Betrachtung. In der Psychotherapie liegt der Fokus eher auf dem emotionalen Erleben und der Reflexion der eigenen Lebens- und Beziehungsgeschichte. Die Reflexion des Berufs hingegen zielt eher auf Handeln in Rollen, Positionen und den mit ihnen verbundenen Kompetenzen innerhalb von Hierarchien, Formen der Kooperation und Konkurrenz sowie strukturelle Konflikte in Organisationen. Es bedarf einer genauen Analyse, ob persönliche Lebensmuster störend in den Beruf hineingetragen werden oder ob strukturelle Konflikte von Organisationen störend in die persönliche Lebenswelt hineinwirken. Die verschiedenen Perspektiven erfordern unterschiedliche Problemlöseschritte. In der Psychotherapie kann es für die Klientinnen entlastend sein, dass sie selber zwar Trägerinnen, aber nicht Verursacherinnen von Beeinträchtigungen im Fühlen, Denken und Handeln sind. Diese Distanzierung kann emotional entlasten und angemessene Problemlösungen erleichtern.
Psychotherapie
Psychotherapie lässt sich als „bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen bezeichnen“ (Burmeister 2009, S. 362). Psychotherapeutische Verfahren wie z. B. Verhaltenstherapie, Kognitive Therapie (de Jong-Meyer 2009, S. 611–628; Linden und Hautzinger 2015; Wilken 2015; Rehahn-Sommer 2015), Gesprächspsychotherapie (Eckert et al. 2012; Rogers 2009) und psychodynamische Psychotherapie (Reimer und Rüger 2012; Wöller und Kruse 2014) stellen ein mächtiges Instrumentarium zu einer umfassenden Reflexion und Veränderung auf emotionaler, kognitiver und der Verhaltensebene dar.
Ziel einer Psychotherapie ist die psychische Gesundung der Klientinnen. Dies beinhaltet die Veränderung als störend und einschränkend erlebter Handlungs- und Denkmuster, eine Erweiterung des emotionalen Erlebens, die Aneignung angemessener Fähigkeiten zur Lösung von Problemen und Konflikten (Erweiterung der sozialen Kompetenz), Lebensfreude erleben und genießen zu dürfen und emotional wichtige Beziehungen zur eigenen Zufriedenheit gestalten zu können (z. B. Hautzinger 2013, S. 194–206; Pfingsten 2009, S. 587–596). Damit gehen einher die Aktivierung von Ressourcen, die Ermutigung, Neues zu wagen, wo andere zögern, sowie die Stärkung der persönlichen Autonomie (Kirn et al. 2015, S. 79; Reinecker 2009, S. 629–644).
Supervision
Supervision ist eine berufsbezogene Beratung für Fachkräfte. Sie beschäftigt sich mit Situationen, Prozessen, Problemen und Konflikten aus dem beruflichen Alltag. Sie wird eingesetzt zur Sicherung und Verbesserung der Qualität beruflicher Arbeit. Supervision stellt Probleme in einen größeren Zusammenhang und ermöglicht dadurch andere, oft ungewohnte Perspektiven. Sie fördert neue Wahrnehmungs- und Sichtweisen und die Weiterentwicklung der Arbeitsfähigkeit von Einzelpersonen, Gruppen und Arbeitsteams. Sie zielt ab auf die Entwicklung neuer beruflicher Handlungsmöglichkeiten und kreativer Problemlösungen. Supervision unterstützt den professionellen Umgang mit Menschen im jeweiligen Arbeitszusammenhang und verbesserte die Kooperationsfähigkeit. Im Kontext der Supervision geht es um Rollen, die Ausgestaltung von Rollen, Rollenkonflikte, die Planung des eigenen Berufslebens, die Entfaltung berufsbezogener Fähigkeiten. Supervision lässt sich auch als Suchprozess für gute und intelligente Lösungen verstehen.
Während Psychotherapie einem Menschen dazu verhilft, sich intensiv mit sich selber, seinen persönlichen Wünschen, seinen Gefühlen und Empfindungen, seinem Erleben und seinen Beziehungen und seinem persönlichen Sinn auseinanderzusetzen, erfordert Supervision auf weiten Strecken auch inneren Abstand von sich zu nehmen und sich im Kontext vertraglich vereinbarten Handelns zu reflektieren. Psychotherapie, Supervision, Paar- und Familienberatung fokussieren dabei unterschiedliche Aspekte, die aber in der Zusammenschau miteinander verbunden sind.
Format, Verfahren und Methoden
Psychotherapie und Supervision zielen auf Veränderungen in unterschiedlichen Beratungskontexten. Buer (2013, S. 13) stellt einige Grundprämissen für den wissenschaftlichen Diskurs in der Fachöffentlichkeit auf, die an dieser Stelle kurz referiert werden, da sie für die Gedankenführung in diesem Artikel von zentraler Bedeutung sind.
Buer (2004, S. 103) unterscheidet begrifflich zwischen Format, Verfahren und Methoden. Als Format bezeichnet er einen institutionellen Rahmen für Beziehungsarbeit wie Psychotherapie, Paar-, Familien- und Lebensberatung für den privaten, Training, Supervision, Coaching für den beruflichen Bereich. Als Verfahren bezeichnet er einen in sich konsistenten Handlungsansatz der Beziehungsarbeit wie z. B. Psychoanalyse, Verhaltensmodifikation, Gestalt-Ansatz, Psychodrama, Gesprächspsychotherapie, Gruppendynamik. Als Methoden bezeichnet er geregelte Handlungsweisen, in denen Format und Verfahren miteinander verbunden sind, um mit bestimmten Personen bestimmte Ziele zu erreichen.
Die begriffliche Zuordnung soll verdeutlichen, dass Psychotherapie und Supervision als Formate über eine voneinander zu unterscheidende Qualität verfügen. Im Rahmen dieses Artikels werden das Privatleben und seine Beziehungsdynamiken einerseits und das Berufsleben mit seinen ihm eigenen Beziehungsstrukturen als gleichwertig angesehen. In der Beziehungsarbeit in der Psychotherapie und der Supervision ist es aus Ansicht des Autors sehr genau zu beachten, in welchem konkreten Zusammenhang Probleme im Arbeitsbereich und Probleme im Privatleben stehen und welchem Format sie zuzuordnen sind. Biographisch erworbene störende Beziehungsmuster können im Berufsleben wieder aufleben. Störungen in den Arbeitsbeziehungen im Beruf müssen aber nicht notwendigerweise persönliche Beziehungsmuster wiederholen, sondern spiegeln eher strukturelle Konflikte in der Organisation wieder. Sie bedürfen deshalb auch einer eigenen Diagnostik und struktureller Lösungsmöglichkeiten. Strukturelle Probleme lassen sich nicht ausschließlich durch freundlicheres Reden miteinander lösen.
Diagnostik
Eine auf das Individuum zentrierte Diagnostik nach ICD-10 (z. B. bei einer mittelschweren depressiven Episode, bei Ängsten oder Panikattacken) wird bei psychischen Störungen angewandt. Diese Art der Diagnostik kann dazu verleiten, das Verhalten der Personen im Umfeld der Klientinnen als Reaktion auf eine vorhandene Störung mit Krankheitswert zurückzuführen. Grundlegende Defizite der Klientinnen in der sozialen Kompetenz, dem Selbstwertgefühl, rigide Denkmuster der Klientinnen erwecken den Anschein, als seien diese ausschlaggebend sowohl für die Resonanz in den persönlichen Beziehungen (Partnerschaft, Familie, Freundschaften) als auch für die Reaktionen ihrer Kolleginnen und Vorgesetzen.
Die Einschränkung im Erleben und Handeln kann jedoch auch eine verstehbare Reaktion sein, wenn wesentliche Fähigkeiten des Denkens und Handelns als unerwünscht angesehen werden und Menschen daran gehindert werden, ihre Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Dies lässt sich nicht selten beobachten, wenn Menschen an ihrem Arbeitsplatz erleben, dass für sie wichtige Fähigkeiten nicht angefragt, nicht geschätzt oder sogar als hinderlich oder störend angesehen werden oder sie in Unterordnung in eine Hierarchie verstummen (Dobelli 2012, S. 101–103). Das Schweigen kann aber auch Ausdruck einer klugen Entscheidung sein, sich nicht auf fruchtlose Auseinandersetzungen einzulassen, die lediglich zur vermeintlichen Selbstwertstärkung einer Dritten dienen und nicht darauf angelegt sind, eine gute Lösung für ein anliegendes Problem zu entwickeln.
In der Supervision erfolgt die Diagnostik nicht zentriert auf das Individuum, sondern u. a. im Kontext von Rollen und den mit ihnen verbundenen Anforderungen, der Qualität der Arbeitsbeziehungen (Kooperation, Konkurrenz), sowie den Strukturen der Organisation, den offiziellen und inoffiziellen Kommunikationskanälen sowie der Organisationskultur (Schein 2006). Diese Diagnostik rückt bewusst weg vom Individuum und fokussiert z. B. Regeln, die ihre Geltung für den Bereich Arbeit aufweisen, sich aber von den Umgangsregeln, die im privaten Leben gelten, unterscheiden.
Es kann durchaus befreiend wirken, wenn Klientinnen sich selber nicht immer aus dem gewohnten Blickwinkel der subjektiv erlebten Unzulänglichkeit wahrnehmen, sondern das Wagnis eingehen, sich durch einen Perspektivwechsel von Außen zu betrachten und mit dem neuen Blickwinkel ein anderes Bild von sich zu entwerfen – vielleicht eines Menschen, der auch autonom handeln kann. Grenzziehungen im Arbeitsfeld („Dies fällt nicht in Ihren Kompetenzbereich“) zielen nicht notwendigerweise auf eine als kränkend erlebte Zurückweisung als Person hin. Sie können vielmehr Ausdruck einer differenzierten Strukturierung einer Organisation mit klar gefassten Aufgaben- und Kompetenzbereichen sein (Rollen, Positionen, Arbeitsaufträge, Kompetenzbereiche, Leistungsüberprüfungen, Hierarchie). Es bedarf einer sehr genauen Reflexion, um zu entscheiden, wann psychotherapeutisches Denken und Handeln (emotionale Selbstreflexion) und wann der Blick sich auf die Klarheit von Organisationsstrukturen, eine klare Rollendifferenzierung oder auf strukturelle Aspekte einer Konfliktdynamik richten muss (Möller 2005, S. 149–167).
Selbstreflexion
Auch ein gedanklicher Rollenwechsel (unterschiedliche Rollen einer Person) kann diese Distanzierung und Differenzierung der Wahrnehmung ebenfalls unterstützen wie z. B.: Wer bin ich, wie denke, fühle und handle ich als Partnerin innerhalb einer Partnerschaft? In welche Beziehungsverflechtungen bin ich in meinen persönlichen Beziehungen eingebunden? Wie hingegen nehme ich mich in meiner beruflichen Rolle wahr? Wie präge ich meine Rolle? Wie souverän bewege ich mich in meinen unterschiedlichen Rollen? Welche Fähigkeiten werden in meiner beruflichen Rolle aktiviert? Welche Einschränkungen gehören zu dieser beruflichen Rolle? Wie verändern sich in meiner beruflichen Rolle die Wahrnehmung meiner Person sowie die Wahrnehmung anderer Personen? Wie verändern sich die von mir vorgenommenen Bewertungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen?
Familie als betriebliche Interpretationsfolie
Manche Organisationen verstehen sich als „Familie“. Mit dieser Wortwahl soll emotionale Verbindlichkeit erzeugt werden. Gleichzeitig wird suggeriert, dass sich Beziehungsmuster in Familien mit ihren emotional tragenden Seiten, aber auch ihren Verstrickungen, nahtlos auf den betrieblichen Umgang übertragen lassen. Arbeitsgruppen sind jedoch noch keine Teams. Teams verfolgen arbeitsteilig ein gemeinsames Ziel. Teams zeichnen sich durch professionelle Verbundenheit, Kooperation und Zuverlässigkeit aus. Arbeitsbeziehungen in einem Team sind aber bei noch so großer Vertrautheit keine privaten Freundschaften. Es kann sich daher als fatal erweisen, Arbeitsbeziehungen in einem Team mit Begriffen aus der Familientherapie/Familienberatung zu beschreiben und zu erwarten, dass Lösungsmuster, die für private Beziehungen gelten, auch im beruflichen Kontext vorrangiges Mittel der Wahl darstellt. Verstrickungen in einem Team unterscheiden sich von familiären Verstrickungen, weil die emotionale Basis und Verbindlichkeit in Teams sich von der in Familien unterscheidet. Eine sachlichere Darstellung der eigenen Aufgaben und Beziehungen (Handlungsbeschreibungen anstelle von emotionaler Selbstreflexion) kann dazu führen, zeitweilig weniger emotionale Anerkennung zu erhalten, hilft aber, die eigene Souveränität zu wahren. Hierzu gehört die Fähigkeit, die eigenen Rollen bewusst wahrzunehmen, in ihnen reflektierend zu handeln und mit ihnen zu experimentieren. Es ist überraschend, von den eigenen Denkgewohnheiten und vermeintlich eingeschliffenen Verhaltensweisen ein wenig Abstand zu nehmen und frei zu werden, etwas Neues zu wagen.
Das folgende literarische Beispiel wertet die mit einem Rollentausch einhergehende Distanzierung zur eigenen Person überraschenderweise als Begabung: „Wenn ein Mensch traurig sei … sei es ratsam, dass er sich von sich ablenke. Es gebe einige Begabte, denen gelinge es, so zu tun, als wären sie ein anderer; sie schauen sich selber an, schütteln den Kopf über sich selbst oder nicken beifällig; sie nehmen sich ernst, aber nicht allzu ernst; auf diese Weise gelingt es ihnen, ohne Schaden über die Traurigkeit hinwegzukommen. Die meisten Menschen sähen aber immer und überall nur sich selbst; was ja kein Wunder sei, sei man selbst ja man selbst“ (Köhlmeier 2014, S. 17).
Der private Lebensbereich und das Berufsleben
Psychotherapeutinnen sind immer wieder mit Klientinnen konfrontiert, deren Probleme sich einerseits auf die eigene Person in ihrem privaten Umfeld als auch den beruflichen Kontext beziehen. Es ist daher hilfreich, das Arbeitsleben der Klientinnen genau zu explorieren. Dieses kann mit seinen Konfliktfeldern problemvertiefend in das private Leben hinein wirken. Mit der Arbeit können aber Ressourcen verbunden sein, die diesen Lebensbereich als sinnerfüllend erscheinen lassen.
Es macht einen Unterschied, ob eine Klientin die Position einer Abteilungsleiterin einnimmt oder als untergebene Angestellte ihren Lebensunterhalt verdient. Die Positionen sind mit unterschiedlichen Anforderungen, Kompetenzen und Wirkungsfeldern verbunden. Berufsleben und Privatleben folgen zudem unterschiedlichen Regeln. Eine Vermengung der Bereiche kann einengend, störend und manchmal auch befremdlich wirken.
Eine Abteilungsleiterin mag sich mächtig gegenüber ihren Mitarbeiterinnen fühlen und manchmal ohnmächtig gegenüber seinen eigenen Vorgesetzten. Es wäre allerdings fatal, dieses Erleben aus psychologischer Sicht ausschließlich als Wiederspiegelung eigener Beziehungserfahrungen zu begreifen und strukturelle Merkmale außer Acht zu lassen. Ihr Handeln und Erleben lässt sich wahrscheinlich eher als typisch für seine Position verstehen oder als Ausdruck einer strukturellen Dynamik im Betrieb, die mit ihr als Person wenig zu tun haben mag. Dasselbe gilt auch für den einfachen Mitarbeiterinnen: Momente der persönlich erlebten Machtlosigkeit können typisch für die Dynamik innerhalb des Betriebes sein, müssen aber nicht unbedingt Ausdruck seiner Persönlichkeit oder eines grundsätzlichen Mangels an persönlicher Souveränität sein.
Schmidbauer weist darauf hin, dass in vielen psychotherapeutischen Praxen und in den mit Rehabilitation beschäftigten Kliniken gegenwärtig psychische Störungen aufgrund gravierender beruflicher Probleme dramatisch zunehmen. Viele Strukturen, die zu Beginn der beruflichen Laufbahn der heute 40- bis 50-jährigen wie für die Ewigkeit bestimmt erschienen, funktionieren entweder überhaupt nicht mehr oder unterwerfen alle, die in sie verstrickt sind, unerwarteten, oft sehr kränkenden Anforderungen (Schmidbauer 2007). Auf der anderen Seite gilt es, Grenzen der eigenen Position im Berufsleben als solche souverän wahrzunehmen und zu akzeptieren und nicht emotional gefärbt zu reagieren.
Für die Gesundung einer Klientin kann es von entscheidender Bedeutung sein, zu verstehen, in welchem Kontext ihre Problematik entstanden ist und welche Kräfte an der Entstehung einer Störung mit Krankheitswert beteiligt sind. Ebenso wichtig ist es, problematisches Verhalten nicht ausschließlich unter dem Blickwinkel einer Störung mit Krankheitswert wahrzunehmen, sondern auch als sinnvolle oder zumindest nachvollziehbare Reaktion auf strukturelle Probleme der Organisation, in der sie tätig ist. Eine Klientin, die gelernt hat, strukturelle Probleme einer Organisation von eigenen persönlichen Problemen zu unterscheiden, wird sich entlastet fühlen und eher motiviert sein Lösungen auf beiden Ebenen zu entwickeln und in Handlung umzusetzen.
Fallbeispiele
Die folgenden Ausführungen möchten verdeutlichen, wie Aspekte des Privatlebens und des Berufslebens in der Beziehungsarbeit verbunden werden können. Die Beispiele entstammen Psychotherapien und Supervisionen des Autors Auch Aspekte aus der Paar- und Familientherapie finden ihre Berücksichtigung.
Kampf um den Selbstwert
Schwerwiegende Lebensereignisse können über einen langen Zeitraum sowohl das private Leben und seine Beziehungen als auch das Berufsleben beeinträchtigen. Die Zusammenhänge sind nicht immer sofort offensichtlich. Das folgende Beispiel zeigt, wie tief verankerte Ängste sich in emotionalen Unsicherheiten im Berufsleben zeigen und die souveräne Handhabung von beruflichen Fähigkeiten beeinträchtigt.
„Die Gewitterhexe“.
Frau Sch., eine 28-jährige stellvertretende Filialleiterin eines Lebensmitteldiscounters litt unter massiven Ängsten vor Gewittern. Im Vordergrund stand dabei die Angst, den Partner oder liebe Freunde zu verlieren. Wenn die ersten Blitze zuckten, nahm sie ihr Bettzeug und floh in ihr Auto. Dort fühlte sie sich sicher, war aber geplagt von der für sie ernst zunehmenden Furcht, ihr Lebenspartner könne durch Blitze getötet werden. Die biographische Anamnese enthüllte, dass sie im Alter von 14 Jahren während eines Urlaubes in Griechenland erlebte, wie ein Motorradfahrer vor ihren Augen tödlich verunglückte. Fünf Jahre später (die Klientin war 19 Jahre alt) fuhr ihr langjähriger Freund mit einem Motorrad gegen einen Baum, fiel ins Koma, aus dem er nicht wieder erwachte. Auch weitere nähere Freunde erlitten Unfälle, bei denen sie schwer verletzt wurden. Frau Sch. entwickelte einen zentralen Gedanken, dass „alle Menschen, die ihr irgendwie näher stehen würden, gefährdet seien.“ Ihr war dabei bewusst, dass dies ein irrationaler Gedanke sei. Er sei aber sehr beherrschend und es koste sie viel Kraft, sich auf ihren Beruf und die damit verbundenen Verpflichtungen einzulassen. In ihrer Erinnerung blieb der verstorbene Freund, dessen Tod sie immer wieder angstvoll „vorhergesehen“ hatte, gegenwärtig und überschattete die Beziehungen der Gegenwart: sie zweifelte, ob sie ein Recht habe ihr eigenes Leben auszukosten (vergl. Canetti 1978, S. 261 ff). Auch in ihrer aktuellen Beziehung zu einem Mann, den sie sehr liebe, gehe sie immer wieder auf Distanz, in der Hoffnung, dass er niemals zu schade kommen würde. Insgesamt erlebte sie sich als sehr ängstlich, zurückgezogen, schutzbedürftig, ständig unter Stress und sei schnell zu irritieren. Frau Sch. bezeichnete sich selber als traumatisiert (vergl. Streeck-Fischer 2015, S. 476 ff). Als Ziel formulierte sie, wieder vertrauensvoll mit ihrem Partner leben zu können. Damit einher ging das Recht auf eine eigene souveräne Lebensgestaltung.
Im Kontext ihrer Arbeit trat Frau Sch. zeitweilig sehr souverän auf. Sie bewegte sich aufrecht durch das Geschäft, bewies einen wachsamen Blick und gab ruhig und höflich klare Anweisungen. Auf den ersten Blick hätte niemand sie für ängstlich gehalten. Allerdings verfing Frau Sch. sich immer wieder in kraftzehrenden Auseinandersetzungen mit männlichen und weiblichen Vorgesetzen, rang um Anerkennung ihrer Leistungen und bemühte sich, innerlich aufrecht zu bleiben. Es fiel ihr ihrerseits schwer, sachliche Anweisungen anzunehmen, ohne gleich gekränkt zu reagieren. Ihr Ziel war, die eigene Würde zu wahren (vgl. Bieri 2015).
Aus psychotherapeutischer Sicht standen Verlust und Trauer im Fokus der Aufmerksamkeit, die Wiedererlangung eines Gefühls der Sicherheit im eigenen Leben und die Verabschiedung von dem verstorbenen Freund. Die Todesfurcht bezog sich dabei stets auf geliebte andere Menschen, in ihrer Vorstellung nie auf sich selbst. Dies galt es zu respektieren, denn „jeder Mensch fürchtet den Tod auf seine eigene Weise“ (Yalom 2008, S. 19).
Die Verabschiedung von ihrem früheren Freund, an den sie zwischendurch immer wieder dachte, erfolgte eher still. In einer Therapiesitzung berichtete sie, dass sie ein Foto von ihm, welches immer noch auf ihrem Sideboard stand, an sich nahm und in eine Schatulle steckte. Zuvor sammelte sie wochenlang kleine Symbole für ihre gemeinsamen Erlebnisse. Die Symbole standen für verbindende Erlebnisse miteinander, aber auch für ihren Ärger, ihre Wut und ihre Enttäuschung über sein häufiges Fremdgehen. Foto und Symbole legte sie eines Tages in die Schatulle, verschloss diese in einem Schrank. Im weiteren Verlauf offenbarte sie, dass sie die Schatulle einmal im Monat öffne, an ihr früheres Leben denke und die Schatulle dann wieder in den Tiefen eines Wandschrankes verschwinden ließ.
Im Kontext Arbeit zielten die Interventionen darauf ab, der Klientin ein Gefühl der eigenen Stärke zu vermitteln und sich im eigenen Handeln als glaubhaft zu erleben. Neben Rollenspielen, in denen sozialkompetentes Verhalten in verschiedenen Variationen ausprobiert wurden, begab sich die Klientin in für sie stärkende Körperhaltungen: aufrecht durch den Raum gehen, in sich ruhend zu stehen, dem Gegenüber ins Gesicht zu sehen, den eigenen Körperempfindungen zu vertrauen und die eigene Lebenskraft zu spüren (vgl. Lützner-Lay 2016, S. 36).
Das Verhalten am Arbeitsplatz, die Kämpfe mit den Vorgesetzten, ließen sich als der verzweifelte Versuch ansehen, sich selber in der Auseinandersetzung zu spüren. Aus der Sicht eines Supervisors tritt eher eine souverän erscheinende stellvertretende Filialleiterin in Erscheinung mit dem Potential zur Filialleiterin, die eine psychische Last mit sich trägt, die sie an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten hindert. Beide Lebensbühnen ließen sich abwechselnd ins Rampenlicht holen: Frau Sch. verabschiedete sich langsam von ihrem verstorbenen Freund, ließ mehr Nähe zu ihrem Partner zu und auch die Bereitschaft, sich am Arbeitsplatz auf Positionskämpfe einzulassen, verschwand zusehends. In den Vordergrund rückte der Wunsch, das Leben zu genießen. Für die Psychotherapie eröffnet eine stärkere Beachtung des Arbeitsbereiches neue Perspektiven. Arbeit ist nicht länger ein Bereich, der im Hintergrund wirkt. Er erfährt vielmehr eine angemessene Würdigung. Für Klientinnen kann es persönlich entlastend sein, bei Konflikten im Arbeitsleben andere Lösungswege einzuschlagen als für den privaten Bereich und beiden Bereichen unterschiedliche Emotionen zu widmen.
Berufswahl
Die Entscheidung für den Beruf ist ein wichtiger Schritt in der Autonomie eines jungen Menschen. Ablösungs- und Loyalitätskonflikte im familialen Kontext können diese Entscheidung beeinflussen. In dem folgenden Beispiel handelt es sich aus der Sicht des Klientinnen um eine Kurzzeitpsychotherapie (10 Termine), in denen er persönliche Probleme besprechen wollte. Aus der Sicht des Autors handelte es sich um einen Formatwechsel zwischen Psychotherapie und Supervision. Ein weiterer Formatwechsel zur Familienberatung wurde kurz angedacht, dann aber wieder verworfen.
„Die eigene Entscheidung“.
Herr K. wurde von seinem Vater gedrängt, einen Beruf in der Finanzverwaltung anzustreben. Im Vordergrund der Argumentation des Vaters stand der von ihm bevorzugte Aspekt der Sicherheit. Herr K. jedoch strebte aufgrund seines guten Abiturs ein Medizinstudium an. Kurz vor Beendigung der Ausbildung in der Finanzverwaltung erhielt er einen Studienplatz für Medizin und stand nun in dem Konflikt, ob er dem Wunsch des Vaters folgen sollte oder seine eigenen Lebensvorstellungen als für ihn verbindlich ansehen durfte. Methodisch wurden die an Herrn K. gestellten Anforderungen mit Hilfe eines Familienbretts dargestellt. Hierbei handelt es sich um eine handlungsorientierte Methode zur Verdeutlichung rein sprachlicher Ausführungen. Mit Hilfe der Figuren wurden wichtige Personen der Familie, ihre Haltung zueinander (Nähe/Distanz) und Beziehungsbotschaften dargestellt.
Die Anforderungen der Eltern erlebte der Klient als groß und mächtig. Seine eigenen Wünsche, dargestellt durch kleine Figuren am Rand, erschienen in der Betrachtung als unwichtig und überflüssig.
Die Problematik des Klienten lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Jeder Blickwinkel rückt eigene Aspekte in den Vordergrund. Aus der Sicht des Psychotherapeuten in einer Einzeltherapie standen die Loslösung des jungen Erwachsenen von dem Elternhaus und die Förderung seiner Autonomie des jungen Erwachsenen im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Eltern scheinen ausschließlich Rollenträger mit dem Ziel der Behinderung der Autonomieentwicklung zu sein. Aus der Sicht eines Familientherapeuten mit einer neutralen Haltung wird die Ambivalenz in der Familie deutlicher zu Tage treten. Hier mag es u. a. um die schmerzhafte Erkenntnis seines Vaters gehen, einzusehen, dass seine eigenen Lebensvorstellungen, die ihn in seinem Leben Halt und Sinn gaben, für seinen Sohn nur eine untergeordnete Rolle spielten, aber auch um seinen Wunsch, dass es dem Sohne wohlergehe. Im Kontext einer Supervision mag die Problematik eher unter der Überschrift einer Karriereplanung eines jungen Menschen behandelt werden, bei der die Dynamik der Herkunftsfamilie eine nur beiläufige, eher hinderliche Rolle spielt. Zur Vervollständigung der Wahrnehmung kann es sinnvoll sein, als Berater zwischendurch die Rollen zu wechseln und so unterschiedlichen Perspektiven und Strebungen gerecht zu werden.
Psychisch auffälliges Verhalten am Arbeitsplatz
Die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit im Rahmen einer Psychotherapie kann dazu verhelfen, den Anforderungen des Berufslebens nachkommen zu können. Hierbei geht es nicht nur darum, die Arbeitsfähigkeit eines Menschen wiederherzustellen, sondern umfassend einen Menschen dabei helfen, wieder seinen eigenen Vorstellungen lebensfähig zu sein.
Die Verantwortung für die psychische Gesundheit trägt jeder für sich selber. Aber auch der Führungskraft und der Organisation obliegt die Erhaltung der Gesundheit der Mitarbeiterinnen. Wenn diese Verantwortung an Dritte delegiert wird, kann dies zu vielfältigen Verwicklungen führen. Dies sei an einem Beispiel aus dem Arbeitsleben veranschaulicht: wenn eine Kollegin mit einer persönlichen Krise konfrontiert ist, kann sich die Arbeitsleistung zeitweilig mindern und von anderen Kollegen wohlwollend eine Zeitlang ausgeglichen werden. Im Kontext der ihr obliegenden Verantwortung für das eigene Leben wäre bei Vorliegen einer Störung mit Krankheitswert (z. B. Ängste, Depression) eine Psychotherapie sinnvoll. Persönliche Gespräche unter Kolleginnen mögen dabei kurzfristig entlastend sein, erweisen sich aber langfristig nicht als Lösung persönlicher Probleme. Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, wie schnell sich Teammitglieder sich in Störungsmuster einbinden lassen und eine schnelle Korrektur zum Schutze des Teams eingeleitet werden muss.
„Die eigentümliche Ordnung“.
Im Kontext einer Leitungssupervision des Autors wurde folgende Situation geschildert: die Leiterin einer Tageseinrichtung für Kinder erfuhr, dass eine Kollegin das gesamte Team dazu gebracht hatte, vor Arbeitsbeginn das gesamte Geschirr nach einer von ihr als sinnvoll erachteten Struktur zu ordnen (alle Blumenmuster mussten akkurat übereinander liegen). Die zielführende Intervention der Leiterin bestand darin, dem Team diese Art der „Hilfestellung“ zu untersagen und dem Team den Unterschied zwischen sinnvoller Unterstützung und sinnlosen Ritualen zur Vermeidung von guten Lösungen nahezubringen (Schulz 2010). Es ist nicht Aufgabe von Kolleginnen, dauerhaft den Selbstwert einer Kollegin zu stützen und ihr so die Verantwortung für ihre eigene psychische Gesundheit abzunehmen. Es zeugt von Souveränität und einem gesunden Selbstwert eingeforderte komplementäre Rollen und Inszenierungen bewusst zu verweigern.
Der Blick auf die Partnerschaft
In einer Beratung ist es manchmal erforderlich, das Format, also den institutionellen Rahmen für Beziehungsarbeit (Buer 2004) zu wechseln, um den ratsuchenden Menschen gerecht zu werden. So kann es sinnvoll sein, vom Format Psychotherapie in das Format Supervision zu wechseln. Es empfiehlt sich, dies den Klientinnen gegenüber deutlich zu vermitteln. Der Wechsel des Formats von der Psychotherapie zur Supervision kann für die jeweiligen Klientinnen psychisch entlastend sein („Vielleicht bin ich doch nicht so krank“). Ein Formatwechsel von der Supervision zur Psychotherapie ist mit Vorsicht vorzunehmen. Es bedarf einer genauen Begründung, um die Supervisandinnen nicht zu kränken oder Widerstand zu provozieren und einer gemeinsamen Reflexion, inwieweit Supervision möglich ist, wo ihre Grenzen sind. Wenn beide Berufe in einer Person (Psychotherapeutin und Supervisorin) vereinigt sind, kann mit dem Einverständnis der Supervisandin eine kurze erklärende Einführung in das Format Psychotherapie (in Abgrenzung zur Supervision) vorgenommen werden. Die Psychotherapie wird dann von einer anderen Psychotherapeutin übernommen.
Mit dem Wechsel des Formats geht ein Rollenwechsel des Beraters einher. Der Rollenwechsel bewirkt einen Perspektivwechsel und für das Format passende Methoden. Das folgende Beispiel zeigt den Wechsel von einer Leitungssupervision zu einer kurzen Paarberatung und verweist darauf, wie wichtig eine bewusste Reflexion eines Perspektivwechsels ist. Beide Fachkräfte waren mir aus früheren Einzelsupervisionen persönlich bekannt. Aktuell bestand ein Supervisionsauftrag für zehn Supervisionen mit der Leiterin der Einrichtung.
„Das Liebespaar“.
Frau R. und Frau O. arbeiteten seit 10 Jahren gemeinsam in einer Tageseinrichtung für Kinder. Frau R. leitete die Einrichtung, Frau O. fungierte als ihre Stellvertreterin. Im Laufe der Zeit führten sie mehrere gute Projekte durch. Sie genossen einen vertrauensvollen und fruchtbaren Austausch miteinander. Dieser gedankliche Austausch stellte einen wichtigen Teil ihrer persönlichen Beziehung dar. Ihre Vorgesetzte schätzte die beiden Frauen als kompetente und wertvolle Fachkräfte. Sie zogen zu Beginn des neuen Kindergartenjahres in eine gemeinsame Wohnung. Die Wohnungsänderung wurde vom Arbeitgeber zunächst kommentarlos zur Kenntnis genommen. Als sie jedoch gegenüber ihrer Vorgesetzten offenbarten, dass sie inzwischen auch eine Liebesbeziehung miteinander hätten, reagierte diese sofort und versetzte die Stellvertreterin in eine andere Einrichtung.
Im Kontext eines Supervisionsauftrages wäre es eventuell vertretbar, den Fokus der Aufmerksamkeit auf die nunmehr veränderten Arbeitsbedingungen der Leiterin zu legen und die emotionale Bedeutung der Liebesbeziehung als veränderte „Randbedingung“ im Arbeitskontext anzusehen. Aus der Sicht eines Psychotherapeuten musste die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass die Klientin eine psychische Symptomatik entwickeln könnte (Depressionen). Es folgten zwei Termine mit beiden Fachkräften mit dem Schwerpunkt des Schutzes ihrer Partnerschaft „in einer aktuellen Belastungssituation am Arbeitsplatz“, bei denen die Motive für die Offenbarung ihrer Beziehung und die Auswirkungen der neuen Beziehungsdynamik auf den Arbeitsbereich beleuchtet wurden.
Supervisorinnen, die über Ausbildung in Lebensberatung, Paar- oder Familienberatung verfügen, könnten versucht sein, das Format Supervision zu verlassen und den Fokus auf das Paar zu lenken. Mit diesem Wechsel würde die Neutralität der Position der Supervisorin aufgegeben werden. Eine Paarberaterin mag einfühlsam den Fokus in erster Linie auf den Schutz des Paares legen und die Dynamik am Arbeitsplatz in den Hintergrund treten lassen. Im Kontext einer Supervision sind die Auswirkungen einer Liebesbeziehung zwischen Vorgesetzter und ihrer nachrangigen Mitarbeiterin zu berücksichtigen. Eine Vorgesetzte muss weiterhin in der Lage sein, sachliche Entscheidungen zu treffen und Anweisungen zu treffen, ohne sich durch emotionale Bindungen beeinflussen zu lassen. Das Team mag durch eine Liebesbeziehung im Team verunsichert werden („Kann ich mich noch auf meine Vorgesetzte verlassen? Was passiert, wenn ich mit der Leiterin oder ihrer Partnerin in einen Konflikt gerate?“). Aus der Sicht des Trägers kann eine Liebesbeziehung zwischen einer Vorgesetzten und ihrer Mitarbeiterin als ein Quell einer zu erwartenden Konfliktlage angesehen werden, der es vorzubeugen gilt. Zum Schutz der Supervision wird es notwendig sein, Aspekte der Paardynamik nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, wohl aber am Rande zu beobachten (Auswirkungen der Paardynamik auf die Supervision).
Beziehungsreflexion als Interpretationsfolie
Insbesondere in sozialen Arbeitsbereichen besteht die Gefahr, dass strukturelle Probleme zu schnell als persönliche Probleme oder „Probleme auf der Beziehungsebene“ wahrgenommen werden, obwohl es angemessener wäre, strukturelle Lösungen anzustreben. Eine Verwechselung dieser Ebenen kann zu Verwirrungen führen. Für psychisch gesunde Menschen, die sich aufgrund immer höherer Leistungsanforderungen aus sozialen Kontakten im Arbeitsleben zurückziehen, stellt es eine zusätzliche Ungerechtigkeit und persönliche Kränkung dar, wenn sie von Kolleginnen als „depressiv“ bezeichnet werden oder Vorgesetzte ihnen zu einer Psychotherapie raten, um den gestiegenen Anforderungen nachkommen zu können. Auch die Reduzierung eines real bestehenden Machtgefälles zwischen Vorgesetzen und ihren Mitarbeitern auf „Beziehungsprobleme“ kann dazu führen, dass in der Psychotherapie Lösungen entwickelt werden, die der Problematik z. B. eines gezielten Machtmissbrauchs durch Vorgesetzte nicht nur nicht gerecht werden, sondern unreflektiert zu einer Schädigung des Klientinnen beitragen. Angriffe auf die sozialen Beziehungen und das soziale Ansehen (Kolodej 2005, S. 36 ff) lassen sich nicht durch emotionale Selbstreflexion oder ein Beziehungsgespräch lösen.
Für Psychotherapeutinnen kann es hilfreich sein, neben den für die Psychotherapie passenden Verfahren über ein weiteres Instrumentarium zu verfügen, das den Klientinnen hilft, ihr Handeln im beruflichen Kontext zu verstehen, zu reflektieren und nach neuen Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Eine differenzierte Begrifflichkeit ist notwendig, damit die Klientinnen unterscheiden können, wann es angemessen ist, sich unter dem Blickwinkel einer subjektiven Problematik wahrzunehmen (z. B. meine Ängstlichkeit), die in das Arbeitsfeld hineinwirken und wann es eher sinnvoll ist, den Fokus der Aufmerksamkeit auf berufliche Rollen mit ihren Anforderungen, Rollenkompetenzen und ihre Grenzen, die Einordnung in die Hierarchie einer Organisation und strukturelle Konflikte hinlenken. Damit geht nicht selten eine bewusste Distanzierung zur eigenen Person einher. Die Distanzierung zur eigenen Person ermöglicht einen Perspektivwechsel und kann die Augen für zuvor nicht wahrgenommene Ressourcen öffnen. Der Unterschied zwischen privatem Leben mit seinen Rollen und dem beruflichen Leben lässt sich für Klientinnen auch verdeutlichen, indem für beide Bereiche seitens der Psychotherapeutinnen/Supervisorinnen bewusst eine unterschiedliche Begrifflichkeit und Sprache verwendet wird. Es handelt sich um unterschiedliche Berufe mit einer unterschiedlichen Ausbildung und eigenen Referenztheorien.
Zusammenfassung
Ein weit gefächertes Fachwissen ermöglicht den Psychotherapeutinnen unterschiedliche Aspekte im Leben der Klientinnen wahrzunehmen und fachgerecht in die Psychotherapie einzubinden. Eine umfassende Beratung hilft den Klientinnen, sich in verschiedenen Lebenskontexten und den mit ihnen verbundenen Rollen zu reflektieren und das eigene Handeln aktiv zu gestalten. Es dient dem besseren Verständnis zwischen Psychotherapeutinnen und den Klientinnen, wenn der Rollenwechsel bzw. Perspektivwechsel transparent vollzogen wird. Dies könnte in der Kommunikation mit den Klientinnen etwa so aussehen: „Als Psychotherapeut schätze ich die Situation als für Sie psychisch belastend ein. Aus der Sicht eines Supervisors schätze ich die Konflikte, die Sie schildern, eher als durch die Organisation bedingt ein. Es wäre daher sinnvoll einmal zu überlegen, wie Sie am klügsten mit dieser Situation umgehen und sich selber schützen können.“
Literatur
Bieri, P. (2015). Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Frankfurt am Main: Fischer.
Buer, F. (2004). Praxis der psychodramatischen Supervision. Ein Handbuch. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Buer, F. (2013). Lehrbuch der Supervision. Schriften der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V., Band 4. Münster: Votum.
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Canetti, E. (1978). Masse und Macht. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg.
Jong-Meyer, R. De (2009). Kognitive Verfahren nach Beck und Ellis. In J. Margraf, & S. Schneider (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie Bd. 1 Berlin: Springer. Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen
Dobelli, R. (2012). Klar denken, Klug handeln. 104 Denkfehler und Irrwege, die Sie besser anderen überlassen. München: Hanser.
Eckert, J., Biermann-Ratjen, E., & Höger, D. (2012). Gesprächspsychotherapie. Berlin: Springer.
Hautzinger, M. (2013). Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen (7. Aufl.). Weinheim: Beltz.
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Diese Arbeit ist Teil des Leitthemas „Coaching, Supervision und Psychotherapie“.
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Schulz, A. Die Beachtung des Berufslebens in der Psychotherapie – die Bedeutung des Privatlebens in der Supervision. Psychotherapie Forum 21, 98–105 (2016). https://doi.org/10.1007/s00729-016-0066-7
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