Skip to main content
Log in

Lösen, was nicht zu lösen war

1945 in Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern

Solving what could not be solved

1945 in Mitscherlichs’ The inability to mourn

  • Originalarbeit
  • Published:
Forum der Psychoanalyse Aims and scope

Zusammenfassung

In Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens (zuerst 1967 veröffentlicht) haben Margarete und Alexander Mitscherlich die Deutschen an ihre euphorische Zustimmung zum Nationalsozialismus erinnert. Ihre Frage nach den Gefühlen des Tätervolkes angesichts seiner Verbrechen war im zeithistorischen Kontext singulär. Sie fragten aber nicht nur nach diesen Gefühlen, sondern wollten auch zeigen, dass eine Trauer um die Opfer möglich gewesen wäre. Ihre Analyse der Schwellenzeit von 1945 und die damit verbundenen Überlegungen eines emotionalen „Entwicklungsschemas“ der Reaktionen auf die Völkermorde sollten das belegen. Die Mitscherlichs postulierten ein zeitliches und hierarchisches Schema von Affekten. Durch die Fülle und Gleichzeitigkeit solcher Affekte wie Angst, Scham, Schuld und Trauer schlugen sie gleichsam eine Schneise, indem sie Setzungen vornehmen, psychische und physische Abläufe fordern, diese in zeitliche und hierarchische „Rangfolgen“ ordnen, um so Verdrängtes und deren Abwehr zu beschreiben. Dass ein solches Entwicklungsschema dem Wunsch der Mitscherlichs entsprach, jedoch von ihrer eigenen Analyse nicht gedeckt ist, wird in einer Relektüre des Textes dargestellt. Hier markieren signifikante Auslassungen, Brüche und theoretische Inkonsistenzen, wie dieser Wunsch ihre Analyse beschädigt hat. So minimieren die Mitscherlichs das Ausmaß der Gewalt- und Schamerfahrungen und problematisieren die Aporie einer Trauer bei narzisstischer Objektwahl, als die sie die Bindung an den Nationalsozialismus so überzeugend charakterisiert haben, letztlich nicht.

Abstract

In their book The inability to mourn: principles of collective behaviour (first published 1967) Margarete and Alexander Mitscherlich reminded the Germans of their euphoric approval of National Socialism. Discussing the emotional reactions of the perpetrator society was a singular act in the historic situation of postwar Germany; however, they did not only assert that mourning the victims had not taken place, they also wanted to show that this mourning could have been possible. Their analysis of the transition period after 1945 and their connected thoughts on a “pattern of emotional development” as a reaction to the mass murders were supposed to prove their point. Within the wild conglomerate of feelings, such as anxiety, shame, guilt, anger and sadness, the Mitscherlichs presupposed a hierarchical succession of affective responses, thus describing processes of defense and suppression that should lead towards a final mourning reaction. This article intends to show that the developmental pattern described by the Mitscherlichs was wishful thinking of the authors rather than the product of a sound analysis. Missing links in their arguments, theoretical inconsistencies and breaches of logical thinking are pointed out in order to demonstrate how their political desire for the Germans to mourn their victims actually overrides their psychoanalytic analysis of the collective emotional response as it has taken place. On the one hand they minimized the experiences of violence and of shame and on the other hand they failed to discuss the impossibility of mourning when a narcissistic object is destroyed.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Institutional subscriptions

Notes

  1. Die Unfähigkeit zu trauern (1967) wird hier der leichteren Auffindbarkeit wegen nach der Taschenbuchausgabe von 1977 (mittlerweile 23. Auflage 2007) zitiert.

Literatur

  • Assmann A (1999) Ein deutsches Trauma? Die Kollektivschuldthese zwischen Erinnern und Vergessen. Merkur 608:1142–1154

    Google Scholar 

  • Brockhaus G (2008) Die Unfähigkeit zu trauern als Analyse und als Abwehr der NS-Erbschaft. In: Brockhaus G (Hrsg) Ist „Die Unfähigkeit zu trauern“ noch aktuell? Eine interdisziplinäre Diskussion. Psychosozial, Gießen, S 29–39

    Google Scholar 

  • Chasseguet-Smirgel (1986) Die archaische Matrix des Ödipuskomplexes in der Utopie. In: dieselbe: Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Internationale Psychoanalyse, München Wien, S 112–134

    Google Scholar 

  • Freimüller T (2007) Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler. Wallstein, Göttingen

    Google Scholar 

  • Freud S (1917) Trauer und Melancholie. GW, Bd. 10, Fischer, Frankfurt/M S, 427–446

    Google Scholar 

  • Freud S (1939) Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. GW, Bd. 16, Fischer, Frankfurt/M, S 101–246

    Google Scholar 

  • Grunberger B (1962) Der Antisemit gegenüber dem Ödipuskomplex. In: Narziß und Anubis: die Psychoanalyse jenseits der Triebtheorie, Bd. 1. Internationale Psychoanalyse, München und Wien, S 1–13

    Google Scholar 

  • Herbert U (2014) Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Beck, München

    Book  Google Scholar 

  • Hoyer T (2008) Ein Bestseller entsteht. Zur Entstehungsgeschichte von Die Unfähigkeit zu trauern. In: Brockhaus G (Hrsg) Ist die Unfähigkeit zu trauern noch aktuell? Eine interdisziplinäre Diskussion. Psychosozial, Gießen, S 13–20

    Google Scholar 

  • Kershaw I (1988) Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Rowohlt, Reinbek

    Google Scholar 

  • Loewenstein RM (1952) Psychoanalyse des Antisemitismus. Suhrkamp, Frankfurt/M.

    Google Scholar 

  • Longerich P (2006) „Davon haben wir nichts gewusst“. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945. Siedler, München

    Google Scholar 

  • Lübbe H (1983) Der Nationalsozialismus im Politischen Bewußtsein der Gegenwart. Hist Z 236:579–599

    Google Scholar 

  • Mitscherlich A, Mitscherlich M (1977) Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Piper, München

    Google Scholar 

  • Moser T (1992) Die Unfähigkeit zu trauern – hält die Diagnose einer Überprüfung stand? Zur psychischen Verarbeitung des Holocaust in der Bundesrepublik. Psyche (Stuttg) 46:389–405a

    Google Scholar 

  • Schneider C (2008) Die Unfähigkeit zu trauern: zur Re-Lektüre einer einflussreichen Kollektivdiagnose des deutschen Wesens. In: Brockhaus G (Hrsg) Ist die „Unfähigkeit zu trauern“ noch aktuell? Eine interdisziplinäre Diskussion. Psychosozial, Gießen, S 41–48

    Google Scholar 

  • Schneider C, Jureit U (2010) Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Klett-Cotta, Stuttgart

    Google Scholar 

  • Simmel E (1946) Antisemitismus. Fischer, Frankfurt/M.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Falk Stakelbeck.

Ethics declarations

Interessenkonflikt

Falk Stakelbeck gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Additional information

Erweiterte Fassung eines Vortrages am 11.01.2015 auf der Tagung „Innenansichten Deutschland 1945“ der Evangelischen Akademie Tutzing.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Stakelbeck, F. Lösen, was nicht zu lösen war. Forum Psychoanal 33, 459–473 (2017). https://doi.org/10.1007/s00451-016-0237-8

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00451-016-0237-8

Navigation