Auszug
Lieber David, in Deinen zahlreichen Publikationen zur Moderne taucht der Begriff Schärfe (und seine Opposition Unschärfe) nicht auf. Darin unterscheiden Deine Arbeiten sich nicht von anderen Versuchen zu verstehen, was gemeint sein könnte, wenn wir von der Moderne sprechen. Bei welchem Gründungstext der Moderne man ansetzt, bei Kants Kritik von 1781 oder zwanzig Jahre später bei Fichtes Wissenschaftslehre oder bei Hegels Phänomenologie oder erst bei Max Webers Protestantischer Ethik: Schärfe gehört nicht ins Lexikon des Modernediskurses. Er wird durch eine andere Art der Begrifflichkeit konstituiert. Es wird nicht leicht sein, in den Diskurs über die gesellschaftliche, mentale und artistische Sonderstellung der europäischen Moderne in der Geschichte des Denkens einen Begriff einzuführen, der so wenig Gewicht hat und sich von der Subjektivität des cogito und Begriffen der Philosophie wie Substanz, Dialektik, Differenz, Objekt oder der Soziologie wie Modernisierung, Urbanisierung, Beschleunigung deutlich unterscheidet. Dennoch möchte ich behaupten, dass Schärfe für die Moderne, nicht nur für die Wissenschaften, sondern auch für ihren Begriff von Wirklichkeit und ihre künstlerischen Praktiken, konstitutiv war. Die Idee der Schärfe gibt es wohl seit Menschen denken; das Denken über sie ist jünger und beginnt mit der Reflexivität des Denkens bei Sokrates; noch jünger ist ihre Verwandlung in einen Imperativ, die mit dem Beginn der Neuzeit zusammenfällt, von Descartes programmatisch formuliert und in der Philosophie bis ins 19. Jahrhundert vertieft wurde. Ihr vorläufig letztes Stadium hat mit einer Krise und Neubewertung in unserer Gegenwart eingesetzt. Die Geschichte der Idee lässt sich aus einer langen Textgeschichte rekonstruieren.
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Hüppauf, B. (2007). Clare et distincte — Vergangenheit und Gegenwart einer Maxime. In: Magerski, C., Savage, R., Weller, C. (eds) Moderne begreifen. DUV. https://doi.org/10.1007/978-3-8350-9676-9_4
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