Zusammenfassung
„Erste öffentliche Sektion seit 170 Jahren!“ Mit dieser Feststellung warb der Heidelberger Anatom Gunther von Hagens in Anzeigen und großformatigen Plakaten für das zentrale kulturelle Ereignis des Londoners Herbsts 2002.1 Endlich, so die unterlegte Botschaft, sei es der Öffentlichkeit wieder möglich, hinter die Kulissen einer Wissenschaft zu blicken, die es seit Beginn des 19. Jahrhunderts verstanden hat, ihr Tun unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen. Nicht nur mit seinem letzten Coup bemüht von Hagens für die Umsetzung seines Großprojekts einer „Demokratisierung der Anatomie“ die Geschichte. Die Berechtigung für die öffentliche Präsentation plastinierter Leichen in seiner äußerst erfolgreichen Ausstellung ‚Körperwelten‘ (Abb. 1) leitet er unter anderem historisch ab und sieht sich dabei selbst in einer direkten, zwischenzeitlich unterbrochenen, durch ihn jedoch wiederhergestellten Traditionslinie anatomisierender Künstler und populär agierender Künstleranatomen, die im Zeitalter der Renaissance und des Barock gewirkt haben. An allen Orten ihres Auftritts zitierte die ‚Körperwelten‘-Ausstellung in großformatigen Reproduktionen Illustrationen aus anatomischen Tafelwerken, die belebte und posierende Skelette und Muskelmänner zeigten.2 Einblicke in theaterartig gestaltete Kulissen wurden wiedergegeben, die belegen sollten, dass in den Räumen der Anatomie in jener Zeit ein öffentliches Sezieren im großen Stile betrieben wurde, ja dass manche dieser Einrichtung geradezu als anatomische Museen reüssierten, in welchen die Besucher mit einer Inszenierung gestalteter und agitierender Leichname konfrontiert wurden, die zum Lernen und Nachsinnen anregen sollten.
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Anmerkungen
Zur Berichterstattung über dieses Ereignis vgl. exemplarisch Peter Nonnenmacher: Im Bann des Makabren. Frankfurter Rundschau, Nr. 272, 22.11.2002, S. 3.
Vgl. im Katalog zur Ausstellung: Gunther von Hagens u. Angelina Whalley: Körperwelten — Die Faszination des Echten. 10. Aufl. Heidelberg 2000, S. 11–22.
Vgl. Nonnenmacher, S. Anm. 1.
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Thomas Schnalke: Veröffentlichte Körperwelten. Möglichkeiten und Grenzen einer Medizin im Museum. Zeitschrift für medizinische Ethik 45 (1999),S. 15–26.
Zu Leonardo da Vincis anatomischen Skizzen vgl. grundlegend Kenneth D. Keele u. Carlo Pedretti: Leonardo da Vinci. Corpus of anatomical studies in the Collection at the Library Windsor Castle. Bd. 1–3. London u. New York 1977–1980.
Zur didaktischen Anlage der anatomischen Skizzen Leonardos vgl. Robert Herrlingen Die didaktische Originalität in Leonardos anatomischen Zeichnungen. In: Robert Hetlinger u. Rudolf Kudlien (Hg.): Frühe Anatomie. Eine Anthologie. Stuttgart 1967, S. 81–107; Thomas Schnalke: Leonardo da Vinci — der Künstleranatom. Begründer der modernen medizinischen Illustration. Sandorama Heft 4 (1990), S. 4–9.
Andreas Vesal: De humani corporis fabrica libri septem. Basel 1543.
Vgl. hierzu Renate Wittern: Die Anfänge der Anatomie im Abendland. In: Thomas Schnalke (Hg.): Natur im Bild. Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew. Erlangen 1995, S. 21–51.
Vgl. in diesem Zusammenhang zuletzt und grundlegend Karin Stukenbrock: “Der zerstückte Cörper”. Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektion in der frühen Neuzeit (1650–1800). Stuttgart 2001.
Vgl. Gottfried Richter, Das anatomische Theater. Berlin 1936; Wilhelm Tasche: Die Anatomischen Theater und Institute der deutschsprachigen Unterrichtsstätten (1500–1914). Diss. med. Köln; Camillo Semenzato: The Anatomy Theater. History and Restauration. Padua 1995.
Vgl. William S. Heckscher: Rembrandt’s Anatomy of Dr. Nicolaas Tulp. An iconological study. New York 1958; Gerhard Wolf-Heidegger u. Anna Maria Cetto: Die anatomische Sektion in bildlicher Darstellung. Basel u. New York 1967, S. 308-310 u. S. 522; Ann G. Carmichael u. Richard M. Ratzan (Hg.): Medizin in Literatur und Kunst. Köln 1994, S. 185.
Vgl. in diesem Zusammenhang die Zusammenstellung einschlägiger Anatomenporträts von Wolf-Heidegger u. Cetto (s. Anm. 11), S. 295–298 u. S. 511–513.
Zur Geschichte und Bedeutung des medizinischen und naturkundlichen Sammeins in der Frühen Neuzeit vgl. Christa Habrich: Zur Bedeutung von Sammlungen und Museen für die Wissenschafts-und Medizingeschichte. In: Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik e.V. (Hg.): Ideologie der Objekte — Objekte der Ideologie. Naturwissenschaft, Medizin und Technik in Museen des 20. Jahrhunderts. Kassel 1991, S. 15–30; die einschlägigen Beiträge in Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammeins 1450 bis 1800. Opladen 1994; Paula Findlen: Possessing Nature. Museums, Collecting and Scientific Culture in Early Modern Italy. Berkeley u.a. 1994.
Vgl. in diesem Zusammenhang die Zusammenstellungen und Analysen von WölfHeidegger u. Cetto (s. Anm. 11), S. 64–71, S. 343–363 u. S. 553–568.
Vgl. Frederik Ruysch: Thesaurus animalium. Amsterdam 1710; Kenneth B. Roberts u. J. D. W. Tomlinson: The Fabric of the Body. Oxford 1992, S. 290–296; Antonie M. Luyendijk-Elshout: „An der Klaue erkennt man den Löwen.“ Aus den Sammlungen Frederik Ruysch (1638–1731). In: Grote (s. Anm. 13), S. 643–660.
Zur Florentiner Sammlung anatomischer Wachsmodelle vgl. zuletzt Monika von Düring et al.: Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola. Florenz u.a. 1999 sowie die einschlägigen Beiträge in Gabriele Dürbeck et al. (Hg.): Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte der visuellen Kultur um 1800. Dresden 2001. — Zur anatomischen Wachsmodellsammlung des Wiener Josephinums vgl. zuletzt Manfred Skopec et al.: Anatomie als Kunst. Anatomische Wachsmodelle des 18. Jahrhunderts im Josephinum in Wien. Wien 2002.
Vgl. Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung — Genese — Integration. Diss. phil. Marburg 1989; Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der vervollständigte Torso und die verstümmelte Venus. Zur Rezeption antiker Plastik und plastischer Anatomie in Ästhetik und Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts. Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S. 361–373.
Zur Entwicklung der wissenschaftlichen Neugierde vgl. grundlegend Lorraine Daston: Neugierde als Empfindung und Epistemologie in der frühmodernen Wissenschaft. In: Grote (s. Anm. 13), S. 35–59; dies. u. Katherine Park: Wunder und die Ordnung der Natur. Berlin 2001.
Vgl. Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens. Göttingen 1985; Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten. ‚Medikalisierung ‘und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850. Stuttgart 1993.
Vgl. Rudolf Virchow: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin 1858.
Vgl. Thomas Schnalke: Diseases in Wax. Berlin 1995.
Vgl. Rudolf Virchow: Die Eröffnung des Pathologischen Museums der Königlichen] Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Berlin 1899; ders.: Das neue Pathologische Museum der Universität zu Berlin. Berlin 1901; Oscar Israel: Das Pathologhische Museum der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Berliner Klinische Wochenschrift 41 (1901), S. 1047–1052.
Virchow 1899 (s. Anm. 22), S. 9.
Zu Virchows Pathologischem Museum vgl. zuletzt Angela Matyssek: Rudolf Virchow Das Pathologische Museum. Geschichte einer wissenschaftlichen Sammlung um 1900. Darmstadt 2002.
Virchow 1899 (s. Anm. 22), S. 6.
Zur Entwicklung des Virchowschen Museums vgl. Peter Krietsch und Manfred Dietel: Pathologisch-Anatomisches Cabinet. Vom Virchow-Museum zum Berliner Medizinhistorischen Museum in der Charite. Berlin u. Wien 1996.
Vgl. von Hagens u. Whalley (s. Anm. 2).
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Schnalke, T. (2003). Demokratisierte Körperwelten. In: Auf Leben und Tod. Schriften aus dem Berliner Medizinhistorischen Museum, vol 2. Steinkopff, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-7985-1961-9_2
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Publisher Name: Steinkopff, Heidelberg
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