Zusammenfassung
Nachdem wir im II. Abschnitt unserer Untersuchungen an Hand einer Analyse des Zeitbewußtseins die Konstituierung von Sinn im einsamen Seelenleben in großen Zügen, aber keineswegs erschöpfend behandelt haben, wenden wir uns jener spezifischen Sinngebung in der Sozialwelt zu, die allgemein mit dem Worte „Fremdverstehen“ bezeichnet wird. Indem wir den Übergang von der Analyse des einsamen Ich zur Untersuchung der sozialen Welt vollziehen, verlassen wir1 die streng phänomenologische Betrachtungsweise, deren wir uns bei Analyse des Sinnphänomens im einsamen Seelenleben bedienten, und nehmen die Existenz der Sozialwelt in naiv natürlicher Weltanschauung so hin, wie wir es im täglichen Leben unter Menschen lebend, aber auch Sozialwissenschaft betreibend, zu tun gewohnt sind. Damit verzichten wir auf jedes Eingehen in die eigentliche transzendental-phänomenologische Fragestellung nach der Konstituierung des alter ego im Bewußtsein des einsamen Ich. Welche Aufgaben einer solchen Untersuchung erwachsen, welche grundwesentliche Bedeutung ihr zukommt, aber auch welche Schwierigkeiten ihr entgegenstehen, hat Husserl in seiner „Formalen und Transzendentalen Logik“ aufgezeigt, ohne aber in die konkreten Probleme einzugehen.2
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Literatur
Vgl. hiezu die „Anmerkung“ am Ende des I. Abschnitts, oben S.41f.
Husserls Méditations Cartésiennes — vornehmlich die fünfte Meditation — haben die ganze Bedeutsamkeit dieser Fragen in ungemein tiefdringenden Analysen aufgezeigt und bereits die wesentlichen Ansatzpunkte für deren Lösung dargeboten.
Logik, S. 212.
Die Wissensformen und die Gesellschaft. S. 475 f.
Vgl. §5, S. 35 f und „Anmerkung“ zu § 6, S. 41 f.
Vgl. hiezu Husserl: Ideen, S. 167: „Eine nähere Betrachtung würde zudem zeigen, daß zwei Erlebnisströme (Bewußtseinssphären für zwei reine Ich) von identischem Wesensgehalt undenkbar sind, wie auch,... daß kein vollbestimmtes Erlebnis des einen je zum anderen gehören könnte; nur Erlebnisse von identischer innerer Artung können ihnen gemein sein (obschon nicht individuell identisch gemeinsam), nie aber zwei Erlebnisse, die zudem einen absolut gleichen,Hof haben.‘
Ideen, S. 68.
Logische Untersuchungen, II, 1. S. 34.
Vgl. hiezu § 3, S. 19.
Vgl. §15, S. 88 f.
Vgl. Husserls Méditations Cartésiennes, S. 97: L’organisme étranger s’affirme dans la suite de l’expérience comme organisme véritable uniquement par son „comportement“ changeant, mais toujours concordant. Et cela, de la manière suivante: ce comportement a un côté physique qui apprésente du psychique comme son indice. C’est sur ce „comportement“ que porte l’expérience originelle, qui se vérifie et se confirme dans la succession ordonnée de ses phases... C’est dans cette accessibilité indirecte, mais véritable, de ce qui est inaccessible directement et en lui-même que se fonde pour nous l’existence de l’autre.
Auch hierüber vgl. Husserls Formale und Transzendentale Logik, S. 210.
Durée et Simultanéité. A propos de la théorie d’Einstein, deuxième édition, Paris 1923, S. 66.
A. a. O. S. 88 und öfter.
Ähnlich Husserl, Méditations Cartésiennes, S. 97: „Au point de vue phénoménologique, Vautre est une modification de „mon“ moi.“
Zu dem gleichen Ergebnis kommt von ganz anderem Ausgangspunkt her Husserl in den „Méditations Cartésiennes“ (§55, S. 108): „Elle (l’expérience de l’autre) établit une connexion entre l’expérience vivante et se déroulant sans entraves ni interruption que l’ego concret a de lui-même, c’est-à-dire sa sphère primordiale, et la sphère étrangère représentée dans cette dernière. Elle établit cette liaison au moyen d’une synthèse qui identifie l’organisme corporel de l’autre, donné d’une manière primordiale, et le même organisme, mais apprésenté selon un autre mode d’apparaître. De là elle s’étend à la synthèse de la Nature identique, donnée à la fois, d’une manière primordiale, dans l’originalité de la sensibilité pure et dans l’apprésentation vérifiée. Par là est définitivement et primitivement fondée la coexistence de mon moi (et de mon ego concret, en général) avec le moi de l’autre, de ma vie intentionelle et de la sienne, de mes réalités et des siennes; bref, c’est la création d’une forme temporelle commune.
Husserl (Méditations Cartésiennes, S. 104) kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Er bildet den Begriff der „Nature intersubjective“, welcher unserem Begriff der „Umgebung“ entspricht und macht die tiefe Unterscheidung zwischen der Apperzeption im Modus des „hic“ und des „illic“: II (der Andere) apprésente avant tout l’activité immédiate de ce moi dans ce corps (illic), et son action (médiate), au moyen de ce corps, sur la Nature qu’il perçoit, sur la même Nature à laquelle il (illic) appartient et qui est aussi ma Nature primordiale. C’est la même Nature, mais donnée dans le mode du „comme si j’étais, moi, à la place de cet autre organisme corporel.“... L’ensemble de ma Nature est le même que celui de l’autre. La Nature est constituée dans ma sphère primordiale comme unité identique de mes multiples modes de présentation, identique dans ses orientations variables par rapport à mon corps, qui est le „point-zéro“, le hic absolu usw.
Siebe IV. Abschnitt, §§ 33 bis 41.
Die wesentlich aktuellen Erlebnisse mögen hier, um die Darstellung nicht allzu sehr zu beschweren, außer Betracht gelassen werden.
Husserl: Ideen, S. 85.
Wir wollen liier gar nicht von jener immer in metaphysischen oder axiologischen Voraussetzungen wurzelnden Hermeneutik sprechen, die neuerdings als Gegensatz zum rationalen Begreifen mit dem Terminus „Verstehen“ bezeichnet wird.
Ähnlich Husserl in der VI. Logischen Untersuchung, III. Aufl., II. Band, 2. Teil, S. 89.
All dies freilich „innerhalb“ der Generalthesis, vermöge welcher das „Leib“ genannte Ding der Außenwelt als „beseelter fremder Leib“, eben als „Leib eines alter ego“, aufgefaßt wird.
Der hier noch in dem nicht genügend geklärten Sprachgebrauch Max Webers verwendete Begriff der „Sozialen Beziehung“ wird in der Folge (§31) ausführlich analysiert werden.
Vgl. hiezu und zur Kritik der Einfühlungstheorie Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, S. 277ff.
Vgl. IV. Abschnitt, § 33, S. 185.
Husserl: Logische Untersuchungen, Band II, S. 31.
Ebenda.
Vgl. hiezu §3, S. 19f.
Hierüber kann allerdings erst eine Analyse der „Mitwelt“ die erforderlichen Aufschlüsse bringen. Vgl. § 37, S. 202 ff.
Logische Untersuchungen, II. Band, 1. Hälfte, S. 25 bis 31. Vgl. hiezu die Ausführungen in § 3, S. 19, der vorliegenden Arbeit.
Vgl. zu diesem Begriff Husserls VI. Logische Untersuchung.
Z. B. VI. Logische Untersuchung, IL Band, 2. Teil, S. 55, Ideen, S. 79 u. ö.
Dieses den beiden Deutungsschematen übergeordnete Deutungsschema entspricht dem von Felix Kaufmann so genannten Zuordnungsschema. (Das Unendliche in der Mathematik und seine Ausschaltung, Leipzig und Wien 1930, S. 42.)
Man wird unschwer bemerken, in welchen Punkten die hier vertretene Ansicht von den Formulierungen Husserls in der I. und VI. Logischen Untersuchung abweicht.
Insoferne vermag ich die grundsätzliche Unterscheidung, die Hans Freyer zwischen der physiognomischen Seite des Handelns und dessen Ob-jektivation in der materialen Außenwelt macht (siehe Freyer: Theorie des objektiven Geistes, S. 29ff.) nicht anzuerkennen.
Zitiert nach Vossler: Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925, S. 115.
Vgl. oben § 14, S. 82.
Vgl. oben § 6, S. 38 und 40.
Vgl. Husserl: Formale und Transzendentale Logik, S. 167 sowie oben § 14, S. 82.
§ 5, S. 31.
Ja wir können sogar sagen, daß die Erfassung des objektiven Sinns eines Zeichens ein prinzipiell unerfüllbares Postulat bleibe, welches nichts anderes besagt, als daß die subjektive und okkasionelle Komponente im Sinn des betreffenden Zeichens mit mögliebster Deutlichkeit und Klarheit vermittels rationaler Begriffsbildung expliziert werden solle. Die Kede ist,,präzis“, wenn alle diese subjektiven okkasionellen Bedeutungen den Umständen nach hinlänglich expliziert sind.
Jaspers: Psychologie der Weltanschauung, III. Aufl., Berlin 1925, S. 193ff.
Vgl. Curtius, Frankreich, Stuttgart 1930, Band I, S. 2ff.
Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, S. 117.
Vgl. hiezu § 9, S. 61 f.
Vgl. oben § 16, S. 91 f. und § 18, S. 105.
Diesen Terminus verwendet Heidegger, Sein und Zeit, S. 102, für jene Gegenstände der Außenwelt, welche „zu Händen“ sind.
Vgl. oben § 24, S. 137 und § 14, S. 82.
Wie dieser Begriff des „Man“ weiter aufgelöst werden kann, zeigen die Untersuchungen des § 39 über die Anonymität der Mitwelt.
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Schütz, A. (1932). Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens. In: Der Sinnhafte Aufbau der Sozialen Welt. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-3108-4_3
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