Zusammenfassung
Was ist nun das Ergebnis unserer Darlegungen zur Stellung des Raumbegriffs in den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Konzeptionen Cassirers und Schlicks? Welche Beurteilung ist in Anbetracht beider Versuche einer unter den Vorzeichen des transzendentalen Revisionismus erfolgenden Lösung des Raumproblems vorzunehmen? Ist es der ‚kritische Idealismus‘ Cassirers oder der ‚kritische Realismus‘ Schlicks, der am Ende die besseren Argumente auf seiner Seite hat? Ehe der Versuch unternommen wird, zu einer abschließenden Beantwortung dieses Fragenkomplexes zu gelangen, ist es in meinen Augen wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass Cassirer und Schlick beide in einer durch den transzendentalen Ansatz Kants geprägten philosophischen Diskursstruktur argumentieren. Beide fragen nach der Geltung wissenschaftlicher Aussagen und Theorien und beiden geht es um den für die gesamte kantianische Tradition so wichtigen Punkt, wie wir von unserer jeweils individuellen subjektiven epistemischen Ausgangslage zum objektiven Begriffsgefüge der exakten Wissenschaften gelangen. Allerdings sind die Antworten, die beide in diesem Zusammenhang liefern, grundlegend verschieden. Der räumliche Realismus Schlicks ist mit der idealistischen Raumauffassung Cassirers — trotz aller bestehenden Berührungspunkte — nicht vereinbar. Welcher Ansatz ist also der überzeugendere?
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Literatur
Siehe oben, S. 193.
Siehe in diesem Zusammenhang v.a. Carnap 1928a.
Siehe in diesem Zusammenhang insbesondere auch die systematischen, auf die Wissenschaftsphilosophie der Gegenwart bezogenen (und in der Sache m. E. überzeugenden) Ausführungen in Adam 2002 sowie — unmittelbar dazu — Neuber 2003.
Wenn Andreas Bartels behauptet, dass Schlick die „verschleiernde Kantianische Rhetorik“ (Bartels 1997, 200) Cassirers nicht recht durchschaut und daher übersieht, dass Cassirers Konzeption der Gegenstandskonstitution „in Wahrheit eine Übernahme der Fregeschen Semantik“ (ebd.) darstellt, dann ist dies zumindest insofern irreführend, als der — ohnehin recht schüttere — affirmative Bezug auf Frege erst im dritten Band der — 1929 erschienenen! — Philosophie der symbolischen Formen erfolgt. Fokussiert man, wie hier geschehen, die Darstellung auf die unmittelbare, zu Beginn der 1920er Jahre geführte Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Schlick, dann verliert der Verweis auf die Semantik Freges komplett an Einschlägigkeit.
Vgl. etwa Carnap 1928b sowie — durch den Standpunkt Carnaps zweifellos beeinflusst — Schlick 1932.
Cassirer 1957, 59.
Vgl. Riemann 1867.
Siehe dazu im Einzelnen Torretti 1978, 90–109.
In seinem 1944 erschienenen Aufsatz „The Concept of Group and the Theory of Perception“ fasst Cassirer die hier angesprochene Problemstellung — ohne sie indes zu lösen — wie folgt: „The axioms of geometry cannot be interpreted as empirical statements. [...] Experience cannot determine these constructions. [...] Axioms may [...] refer to, but they do not derive from experience.“ (Cassirer 1944, 18f.) Der letzte Satz birgt das eigentliche Problem in sich: Wie können sich die geometrische Axiome, obwohl sie nicht der Erfahrung entstammen, dennoch auf die Erfahrung beziehen?
Siehe oben, S. 124ff.
Die Kennzeichnung seiner eigenen Position als Empirismus taucht übrigens schon sehr viel früher auf, so v.a. in Schlick 1915.
Schlick 1921, 98.
Vgl. Schlick 1921, 99.
Schlick 1921, 111. Wie die sich daraufhin entwickelnde briefliche Korrespondenz zwischen Schlick und Reichenbach dazu führte, dass Reichenbach sich auf die Seite des Konventionalismus schlug, wird ausführlich dargelegt in Friedman 1999, 62ff. Siehe ferner Hentschel 1991, 21–24.
Schlick 1918, 306.
Zur Kritik des metrischen Konventionalismus vgl. Putnam 1975, Friedman 1983, Kap. VII, Carrier 2009, 161ff.
Der Sache geht diese Überlegung auf Poincaré zurück (vgl. Poincaré 1906). Ihre ‚kanonische ‘Formulierung findet sich in Reichenbach 1928. Einen schönen Überblick dazu liefert Carrier 2009, 126ff.
Siehe in diesem Zusammenhang vor allem auch Schlick 1948, 27f. sowie Schlick 2006, Kap. III.
Siehe dazu ausführlich Ryckman 2005, 67ff. sowie Neuber [im Erscheinen].
Siehe dazu insbesondere Helmholtz 1868, 32f. und Helmholtz 1870, 20–25.
Vgl. Helmholtz 1870, 29f. Siehe unmtttelbar dazu auch DiSalle 2006b, 133f.
Es kann an dieser Stelle leider nicht auf die für sich genommen interessante Kontroverse eingegangen werden, ob Helmholtz selbst denn überhaupt in konsequenter Weise einen empirisch-realistischen Standpunkt vertreten hat. Während Autoren wie DiSalle (2006a, 72ff. und 2006b, 125–129) und Carrier (2009, 125ff.) dies ganz offenkundig so sehen, machen sich andere Autoren, wie beispielsweise Ryckman (2005, 73ff.) und Pulte (2006, 199ff.), für die Auffassung stark, dass in Helmholtz’ Konzeption von Starrheit ein starkes transzendentales Element enthalten ist — so spricht Pulte in diesem Zusammenhang von „a priori-rigidity“ (Pulte 2006, 199) und Ryckman gar von Helmholtz’ „inherently Kantian theory of space“ (Ryckman 2005, 74). Zu den weiteren Einzelheiten siehe Neuber [im Erscheinen].
Schlick in Helmholtz 1921, 33, Anm. 40. Die von Schlick angeführte Helmholtzsche Definition des festen Körpers (bzw. Punktsystems) beinhaltet, dass zwischen den Koordinaten je zweier Punkte, die einem festen Körper angehören, eine Gleichung bestehen muss, die für kongruente Punktpaare identisch ist, wobei Helmholtz unter Kongruenz die Möglichkeit versteht, dass solche Punktpaare eineindeutig aufeinander abgebildet werden können, dass also, anders gesagt, eine Koinzidenz im späteren Einstein-Schlickschen Sinne konstatiert werden kann. Zu dem häufig erhobenen — zur Konventionalitätsthese führenden (und von Schlick in dem obigen Zitat mit Verweis auf „Anm. 31“ angesprochenen) — Einwand, die Helmholtzsche Definition sei zirkulär, da Kongruenz selbst ja wiederum die Unterscheidbarkeit von Punkten im Raum und somit starre Körper voraussetzt, vgl. Schlick in Helmholtz 1921, 30, Anm. 31 sowie Ryckman 2005, 70f. und die ausgezeichnete Darstellung in DiSalle 2006a, 79–86
Dass dies voll und ganz dem Standpunkt Poincarés entspricht, lässt sich anhand der folgenden Passage aus der deutschen Übersetzung von La science et l’hypothese belegen: „Die geometrischen Axiome sind also weder synthetische Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen. Es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen; unter allen möglichen Festsetzungen wird unsere Wahl von experimentellen Tatsachen geleitet; aber sie bleibt frei und ist nur durch die Notwendigkeit begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden.“ (Poincaré 1906, 51f.) Carrier (2009, 130f.) charakterisiert in diesem Zusammenhang den konventionalistischen Standpunkt mit unmittelbarem Bezug auf den Begriff der Starrheit in sehr treffender Weise wie folgt: „Für die Geometrie der Welt bleibt ein Spielraum, der durch Konventionen über Starrheit und Geradheit zu füllen ist.“
Vgl. Carnap 1922, 47–54.
Vgl. Maudlin 1988 sowie Bartels 1994 und Bartels 1996. Siehe ferner die Darstellung in Lyre 2007, 239f.
Bartels 1994, 302.
Siehe dazu vor allem auch Bartels 1996, 27–29.
Ebd.
Bartels 1994, 303.
Ein ganz entscheidender Vorzug dieser Auffassung ist darin zu sehen, dass sie es gestattet, den sog. Haecceitismus, also die Annahme primitiver, eigenschaftsloser, ‚Diesheiten ‘zu umgehen, es aber zugleich ermöglicht der durch das sog. Loch-Argument gestellten Herausforderung eines (im allgemein-relativistischen Kontext aufrechtzuerhaltenden) Determinismus Rechnung zu tragen. Siehe dazu im Einzelnen Bartels 1994, 304–306, Bartels 1996, 34–40 sowie Lyre 2007, 239.
Vgl. Friedman 1983, 26. Siehe ferner Carrier 2009, 161ff.
Oder wie es bei Friedman heißt: „There is no sense in which this metric is determined by arbitrary choice or convention.“ (Friedman 1983, 26)
Dass stattdessen eine sog. Feldinterpretation geometrischer Größen anzusetzen ist, wird ausführlich dargelegt in Weyl 1923, 219–226. Siehe dazu auch Carrier (2009, 162–164)
Lyre 2007, 240. Siehe in diesem Zusammenhang auch Stachel 2002.
So umschreibt beispielsweise Bartels die sich daraus ergebende Position des „metrischen Strukturenrealisten“ (Bartels 2005, 110) wie folgt: „Was Raumzeit-Modelle repräsentieren, sind nicht spezifizierte Raumzeitpunkte, sondern relationale (bzw. funktionale) metrische Rollen, die durch Ereignisse unserer Welt instantiiert werden können.“ (ebd.) Und in eine ganz ähnliche Richtung geht Carrier, wenn er (ausgehend von der Weylschen Feldinterpretation der geometrischen Größen) schreibt: „Im metrischen Realismus wird das metrische Feld als Darstellung der Raum-Zeit gesehen. [...] Der metrische Realismus akzeptiert also das metrische Feld als ein physikalisches Feld, das eine ebenso reale Bedeutung besitzt und Teil kausaler Beziehungen ist wie etwa das elektromagnetische Feld, identifiziert dieses metrische Feld jedoch zugleich mit der Raum-Zeit-Struktur.“ (Carrier 2009, 210)
Zu der in jüngerer Zeit geführten (hier aus Platzgründen lediglich zu erwähnenden) Debatte zwischen Substantialismus und Relationalismus im Kontext philosophischer Raumzeit-Theorien vgl. Earman 1989 sowie Lyre 2007, 236ff. und Carrier 2009, 204ff.
Schlick 1932, 31.
Vgl. Cassirer 1927, 67–79.
Cassirer 1927, 70, Fn. 89.
Siehe in diesem Zusammenhang vor allem auch Schlick 1919, 192f., wo Schlick darlegt, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen transzendenten Gegenständen und anschaulichen Erlebnisgehalten nicht um zwei verschiedene „Realitätsgrade“ handelt, sondern dass der Unterschied vielmehr darin besteht, dass wir die Erlebnisgehalte nur ‚kennen‘, aber nicht ‚erkennen ‘und die transzendenten Gegenstände nur ‚erkennen‘, aber nicht ‚kennen ‘können. So gesehen, gibt es für ihn letztlich keine aufgrund ihres Realitätsgehaltes im Vergleich zu den ‚wesenhaften ‘Dingen an sich (bzw. transzendenten Gegenständen) ‚minderwertigen ‘Erscheinungen (bzw. ‚Phänomene‘). Im Gegenteil: „Die unmittelbaren Daten des Bewusstseins sind selbständiges Sein, vollgehaltiges Wesen; und wir vermögen keinen Sinn mehr zu verbinden mit der Behauptung, dass sie nur Phänomene eines verborgenen, transzendenten Seins wären.“ (Schlick 1919, 207). Ganz ähnlich heißt es im Kontext des von Ilkka Niiniluoto vertretenen ‚critical scientific realism‘: „While the idealist abolishes the Kantian things-in-themselves, a critical realist eliminates the phenomena: an epistemological subject is directly, without a veil, in contact with reality [...]. Thereby the idea of unknowable Dinge an sich is rejected. However, what is rejected is not the idea of such things, but rather their unknowability“ (Niiniluoto 1996, 91). Hinzu kommt, dass die transzendenten ‚Punktkoinzidenzen ‘bei Schlick in keiner Weise den Kantschen ‚Gegenständen der Erfahrung’ entsprechen können, da diese Punktkoinzidenzen gerade nicht, wie der Kantsche Erscheinungsbegriff es fordern würde, durch die Empfindung gegeben, sondern vielmehr, ausgehend von der Empfindung, abduktiv erschlossen sind. Siehe zu diesem Aspekt des Cassirerschen Missverständnisses auch Bartels 1997, 195, Fn. 8.
Cassirer 1927, 73. Ganz ähnlich äußert sich in diesem Zusammenhang Hermann Weyl an einer Stelle seiner (einigermaßen vernichtenden) Rezension der Schlickschen AEL. Vgl. Weyl 1923, 60.
Vgl. Cassirer 1927, 76f.
Vgl. Schlick 1918, 342f.
Schlick 1918, 343. Siehe in diesem Zusammenhang auch Schlick 1948, 47, wo es heißt: „[D]ie Frage nach einem kausalen Band, nach einem Kitt zwischen den Ereignissen, müssen wir mit Hume als sinnlos erklären.“
So auch Chakravartty 2007, 90: „[T]he epistemic engine that drives realist beliefs regarding certain unobservable properties, structures, and particulars is causation. [...] The nature of causation, however, is not something that can be settled by empirical investigation alone.“
Cassirer 1927, 77.
Moritz Schlick an Ernst Cassirer, 30. März 1927.
Siehe dazu im Einzelnen Stadler 1997.
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Neuber, M. (2012). Cassirer oder Schlick?. In: Die Grenzen des Revisionismus. Schlick, Cassirer und das ‚Raumproblem‘. Schlick-Studien, vol 2. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-0966-3_5
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