I. Überblick über mögliche Verfahren

Schreckensszenario drohender Verfahren

Der Schadensfall ist eingetreten: Nach schwieriger Operation und unglücklichem postoperativen Verlauf ist der Patient verstorben. Die Angehörigen des Patienten werfen den Ärzten schon im ersten Gespräch nach Todeseintritt schwere Versäumnisse vor und drohen mit allen rechtlichen Schritten, die ihnen zur Verfügung stehen. Welches Schreckensszenario drohender Verfahren steht den Ärzten vor Augen?

Checkliste

Mögliche Verfahren in Arzthaftungsfällen

  1. 1.

    Verfahren vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammer, ✓

  2. 2.

    Selbständiges Beweisverfahren nach §§ 485 ff. ZPO, ✓

  3. 3.

    Zivilgerichtliches Verfahren vor AG, LG, OLG und BGH, ✓

  4. 4.

    Staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren, ✓

  5. 5.

    Strafverfahren mit Hauptverhandlung, ✓

  6. 6.

    Verfahren vor dem Berufsgericht, ✓

  7. 7.

    Beamtenrechtliches Disziplinarverfahren bei beamteten Ärzten, ✓

  8. 8.

    Arbeitsrechtliches Kündigungsverfahren bei angestellten Ärzten, ✓

  9. 9.

    Entziehung der Vertragsarzt zulassung bei Vertragsärzten, ✓

  10. 10.

    Widerruf der Approbation . ✓

Rechtzeitige Einschaltung des Krankenhausträgers, Versicherers und Anwalts

Die Aufzählung dieser unterschiedlichen Verfahren, zu denen noch die außergerichtliche Verhandlung mit dem Geschädigten unter Einschaltung des Haftpflichtversicherers hinzugerechnet werden mag, zeigt die außergewöhnlichen Gefahren für das persönliche und berufliche Schicksal des Arztes auf. Diese Gefahren werden von den Patienten und auch von der Öffentlichkeit vielfach verkannt, sie müssen aber dem Arzt bei Eintritt eines Zwischenfalles immer bewusst sein. Er sollte sich der Unterschiedlichkeit, aber auch der Abhängigkeit der Verfahren voneinander bewusst sein und rechtzeitig den Versicherer, ggf. den Dienstherrn/Krankenhausträger einschalten und gemeinsam mit diesen qualifizierten anwaltlichen Rat einholen.

Versuch der außergerichtlichen Einigung

Erhebt der Patient im Anschluss an die ärztliche Behandlung gegen den Arzt Vorwürfe wegen angeblichen Fehlverhaltens, so wird der Arzt zunächst zusammen mit dem Haftpflichtversicherer versuchen, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen. In der Praxis scheitern aber Verhandlungen über Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen nicht selten daran, dass der Arzt und sein Haftpflichtversicherer eine Haftung schon dem Grunde nach verneinen oder der Regulierungsvorschlag des Versicherers dem Patienten der Höhe nach als ungenügend erscheint. Es stehen sodann verschiedene Verfahren zur Verfügung, in denen die Frage der Arzthaftung geklärt werden kann und in denen sich der Arzt verantworten muss:

Überblick über Verfahrensarten

Ausgangspunkt ist häufig ein Verfahren vor den Gutachterkommissionen bzw. Schlichtungsstelle n der Ärztekammer n (I.). Ein Verfahren vor einem Zivilgericht kann sich dem Gutachter- bzw. Schlichtungsverfahren anschließen oder unmittelbar eingeleitet werden (II.). Unabhängig davon ist die strafrechtliche Verantwortung in einem Strafverfahren abzuklären (III.). Hinzu treten können berufsgerichtliche Verfahren bzw. Disziplinarverfahren bei beamteten Ärzten sowie Verfahren auf Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung oder auf Widerruf der Approbation (VI.).

II. Verfahren vor den Gutachterkommission en und Schlichtungsstellen

Einrichtung der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen

Seit 1975 sind bei allen Ärztekammern sogenannte Gutachterkommissionen bzw. Schlichtungsstellen als unabhängige Sachverständigengremien zur Begutachtung und Schlichtung ärztlichen Verhaltens und Schlichtung bei Auseinandersetzungen zwischen Arzt und Patient über die ärztliche Leistung eingerichtet wordenFootnote 1. Die Schlichtungsstellen, die mit einem Arzt als Vorsitzendem besetzt sind, haben die Aufgabe, Streitigkeiten zwischen Ärzten und Patienten beim Vorwurf eines Behandlungsfehlers außergerichtlich zu regeln. Ziel des Verfahrens ist ein Vorschlag an den Haftpflichtversicherer des Arztes, ob und wie ein Schaden ersetzt werden soll. Das Ziel der Gutachterkommissionen, bei denen ein Jurist den Vorsitz hat, ist es dagegen, durch objektive Begutachtung ärztlichen Handelns des durch einen möglichen Behandlungsfehler in seiner Gesundheit Geschädigten die Durchsetzung begründeter Ansprüche und dem Arzt die Zurückweisung unbegründeter Vorwürfe zu erleichtern. Ob eine Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle tätig wird, richtet sich nach der jeweiligen Ärztekammer .Footnote 2 Eine Gutachterstelle ist in Sachsen und Bayern eingerichtet, bei der Landesärztekammer Hessen ist eine sog. Gutachter- und Schlichtungsstelle angesiedelt. Gutachterkommissionen bestehen bei den Ärztekammern Baden-Württemberg, Nordrhein, Westfalen-Lippe und Saarland. Die Ärztekammern Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben sich in der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. In Rheinland-Pfalz besteht ein Schlichtungsausschuss zur Begutachtung ärztlicher Behandlungen, zu dem sogar zwei Patientenvertreter als Mitglieder gehören.

Tätigkeitsschwerpunkt ärztliche Begutachtung

Der Gründung aller Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen lag die gemeinsame Zielsetzung zugrunde, überholtes Standesdenken der Ärzte zu überwinden und das Arzt-Patienten-Verhältnis zu entspannen. In der Praxis hat sich die unterschiedliche Grundkonzeption beider Einrichtungen kaum ausgewirkt. Der Schwerpunkt liegt bei beiden Arten von Stellen in der ärztlichen BegutachtungFootnote 3. So heißt es in § 2 des Statutes der „Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen“ bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe, es sei auch ein Ziel der Gutachterkommission, „in geeigneten Fällen einen Schlichtungsversuch zu unternehmen“Footnote 4.

Besetzung mit Ärzten und Juristen

Kennzeichnend für alle Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen ist ihre Besetzung sowohl mit Juristen als auch Ärzten. Die Anzahl der Mitglieder der Gremien, ihre Zusammensetzung nach juristischer und (fach-) medizinischer Qualifikation, sowie die berufliche Qualifikation des Vorsitzenden variieren entsprechend der in Deutschland üblichen föderalen Struktur zwischen den Ärztekammer nFootnote 5. So gehören der Gutachterkommission bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe drei Mitglieder an. Der Vorsitzende der Gutachterkommission dort ist Jurist mit der Befähigung zum Richteramt, die beiden weiteren Mitglieder sind Ärzte aus demselben Fachgebiet wie der betroffene Arzt (§ 5 Statut Westfalen-Lippe).

Typischer Verfahrensablauf

Ebenso wie die Besetzung variieren auch die Verfahren vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen in vielen Einzelpunkten, bei jedoch grundsätzlicher Übereinstimmung. Die Einleitung des Verfahrens setzt einen schriftlichen Antrag des Patienten oder des Arztes voraus (z. B. § 4 Abs. 1 Statut Westfalen-Lippe). In der Praxis stellen fast ausschließlich Patienten einen entsprechenden Antrag. Mögliche Beteiligte an dem Verfahren sind immer der Patient und der Arzt, dem ein Behandlungsfehler vorgeworfen wird (z. B. § 4 Abs. 1 Statut Ärztekammer Westfalen-Lippe). Bei manchen Ärztekammern ist auch eine Beteiligung des Krankenhausträgers möglich. Nie beteiligt ist das sonstige Personal in Pflege, Technik und Verwaltung . Die Teilnahme am Verfahren ist für den Arzt freiwillig (z. B. § 4 Abs. 1 Statut Westfalen-Lippe). In der Praxis ist die Versagung der Zustimmung aber die Ausnahme. Das Verfahren bei den Ärztekammern hat insbesondere für den Patienten den Vorteil der Kostenfreiheit. Teilweise trägt die Kosten der Gutachterkommission die Ärztekammer (z. B. § 9 Abs. 1 Statut Westfalen-Lippe), andere Kammern erheben bei dem Arzthaftpflichtversicherer Gebühren für die Einholung der Sachverständigengutachten.

Bedeutung des schriftlichen Sachverständigengutachtens

Eine mündliche Verhandlung vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle ist bei den meisten Ärztekammern möglich, während z. B. in Westfalen-Lippe die Kommission nur ein schriftliches Gutachten erstattet (§ 3 Abs. 1 Statut Westfalen-Lippe). Eine Vorladung oder gar Vereidigung von Zeugen ist jedoch im Unterschied zum gerichtlichen Verfahren nicht möglich. Defizite beim Aufklärungsgespräch, die nur durch Anhörung der beteiligten Personen geklärt werden können, sind deshalb sinnvollerweise erst gar nicht Gegenstand des Schlichtungsverfahrens . Das schriftliche Sachverständigengutachten spielt bei den Verfahren vor den Ärztekammern ebenso die entscheidende Rolle wie beim Arzthaftungsprozess vor den Zivilgerichten. Die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen geben zur Beurteilung des Behandlungsgeschehens ein oder auch mehrere Gutachten bei ärztlichen Sachverständigen aus den betroffenen Fachgebieten in Auftrag. Bei widersprüchlichen Bewertungen des Geschehens ist die Einholung eines weiteren Obergutachtens möglich. In der Regel werden die erstatteten Gutachten den Beteiligten überreicht und die Ergebnisse in einem Bescheid zusammengefasst.

Anonymisierung der Gutachter ist unzulässig

Bei einigen Schlichtungsstellen blieben die Gutachter in der Vergangenheit anonym. Wie das OVG Nordrhein-Westfalen zutreffend in einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 feststellte, verstößt die Anonymisierung der Gutachter gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die Ärztekammer ist verpflichtet, den Beteiligten Auskunft über den Namen des Vorsitzenden und der beauftragten ärztlichen Gutachter zu gebenFootnote 6. Seitdem gibt es eine bundeseinheitliche Praxis aller Gutachter- und Schlichtungsstellen, wonach die ärztlichen Gutachter verantwortlich mit ihrem Namen zeichnen.

Auswirkungen auf das Zivilverfahren

Der Bescheid der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen hat keine streitentscheidende Wirkung, sondern dient nur der Sachaufklärung und gegebenenfalls Streitschlichtung. Es handelt sich um kein Schiedsverfahren im Sinne der §§ 1025 ff. ZPO, dem sich die Beteiligten mit der Maßgabe unterwerfen, der Entscheidung des Schiedsrichters zu folgen. Dem Patienten bleibt es unbenommen, schon während des Schlichtungsverfahrens oder nach dessen Abschluss ein Verfahren vor den Zivilgerichten anzustrengen. Die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens ist auch nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung nicht Voraussetzung, um im Zivilprozess Prozesskostenhilfe zu erlangenFootnote 7.

Die Durchführung eines Verfahrens vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle hemmt nach § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB die Verjährung deliktischer und vertraglicher Ansprüche. Die Hemmung der Verjährung endet gem. § 204 Abs. 2 BGB sechs Monate nach Abschluss des Schlichtungsverfahrens. Danach setzt sich der Lauf der dreijährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB fort.

Subsidiarität gegenüber Zivil- und Strafverfahren

Die Einleitung eines (zivil- oder strafrechtlichen) Gerichtsverfahrens oder eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren vor dem Antrag bei der Gutachterkommission schließt die Eröffnung eines Verfahrens der Gutachterkommission aus. Ein bereits laufendes Verfahren bei der Gutachterkommission wird bei Eröffnung eines Gerichts- oder Ermittlungsverfahrens nach dem Antrag entweder ausgesetzt (z. B. § 4 Abs. 2 b Statut Westfalen-Lippe) oder eingestellt (z. B. § 2 Abs. 3 b Statut Schlichtungsstelle Hannover).

Der Bescheid der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle kann bei einem anschließenden Zivilverfahren im Wege des Urkundenbeweises verwertet werdenFootnote 8. Das bedeutet aber nicht, dass das Zivilgericht an den Bescheid gebunden wäre. Es handelt sich vielmehr nur um ein Beweis mittel, das vor dem erkennenden Zivilgericht dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) unterliegt. Nahezu immer wird im Zivilprozess ein neuer gerichtlicher Gutachter beauftragt.

Verwertbarkeit des Gutachtens im Haftungsprozess

Der Beschluss des BGH vom 06.05.2008 – VI ZR 250/07 –Footnote 9 befasst sich mit den Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Tatrichters und mit der Verpflichtung des Richters, zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen. Die Klägerin hatte unter Vorlage eines Privatgutachtens einen ärztlichen Behandlungsfehler behauptet und unter Sachverständigenbeweis gestellt. Landgericht und Berufungsgericht entsprachen dem Klagebegehren nicht und verwerteten ausschließlich ein im Schlichtungsverfahren eingeholtes Gutachten im Wege des Urkundenbeweises. Der VI. Zivilsenat akzeptierte dieses Vorgehen nicht und gab der Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin statt – ein seltener Fall des Erfolgs einer Nichtzulassungsbeschwerde. Der BGH stellt darauf ab, dass gemäß § 411 a ZPO grundsätzliche eine neue schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines bereits gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden könne und auch andere außerhalb des Rechtsstreits erstattete Gutachten im Arzthaftungsprozess im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden könnten. Dies gelte im Grundsatz auch für medizinische Gutachten aus Verfahren ärztlicher Schlichtungsstellen (vgl. Senatsurteile vom 19.05.1987 – VI ZR 147/86 – VersR 1987, 1091 und vom 02.03.1993 – VI ZR 104/92 – VersR 1993, 749). Ausdrücklich betont das Gericht aber, dass der Tatrichter ein gerichtliches Gutachten jedenfalls dann einholen müsse, wenn ein im Wege des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten nicht alle Fragen beantworte.

Grenzen des Schlichtungsverfahrens

Nicht verkannt werden dürfen die Grenzen der Verfahren vor der Gutachterkommission und Schlichtungsstelle. Die Gremien der Ärztekammern bewerten keine Erklärungen, die im Verfahren abgegeben werden, wie zum Beispiel mögliche Anerkenntnis se. Zwar wird vom Gutachter oder der Kommission teilweise auch zur Frage der Patientenaufklärung Stellung genommen. Die Ausführungen zum Geschehen beim Aufklärungsgespräch erfolgen aber zwangsläufig auf einer unsicheren Entscheidungsgrundlage, weil entweder überhaupt keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat oder die mündliche Verhandlung mangels der Möglichkeit zur Zeugenvernehmung und ohne Wahrheitspflicht der Parteien nicht einer Verhandlung vor dem Zivilgericht entspricht. Bei Unaufklärbarkeit des Behandlungsgeschehens muss nicht, wie im Zivilverfahren , unbedingt eine Beweislastentscheidung ergehen, sondern die Frage kann offengelassen bzw. nur mit einer Empfehlung für eine Einigung beantwortet werden. In der Praxis schließt sich dann ein Zivilverfahren nahezu unvermeidlich an.

Erfolgsstatistik der Schlichtungsstellen

Trotz dieser Einschränkungen spricht die Statistik durchaus für einen Erfolg der Verfahren vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Mit dem MERS (Medical Error Reporting Systems) werden die Daten der Schlichtungsstellen nach bundeseinheitlichen Parametern EDV-gestützt einheitlich erfasst und in einer Bundesstatistik zusammengefasst (vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=2.59.5301.10548). Der hierin enthaltene Überblick über die Fachgebiete und Behandlungsmaßnahmen gibt wichtige Hinweise zur Fehlerprävention. Die in der Statistik festgehaltene Anzahl der durchgeführten Verfahren bewegt sich im Jahr 2011 mit leicht steigender Tendenz bei 11.107 Anträgen. Behandlungsfehler wurden in etwa 30 % der Fälle bejaht, wobei wiederum nur in ca. 25 % der Fälle die Kausalität zwischen dem Fehler und dem Gesundheitsschaden festgestellt werden konnte. Verfahren vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen liefern damit im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen deutlichen Beitrag zur Entlastung der Justiz und zur angestrebten Versachlichung des Arzt-Patienten-Verhältnisses.

Checkliste

Wesentliche Merkmale des Schlichtungsverfahren s

  1. 1.

    Freiwilliges außergerichtliches Verfahren ✓

  2. 2.

    Einrichtung der Ärztekammer ✓

  3. 3.

    Besetzung mit Juristen und Ärzten ✓

  4. 4.

    Für den Patienten kostenfrei ✓

  5. 5.

    Frage der Patientenaufklärung grds. nicht klärungsfähig ✓

  6. 6.

    Entscheidung für keinen Beteiligten bindend ✓

  7. 7.

    In der Praxis erhebliche Befriedungsfunktion ✓

III. Zivilverfahren

1. Allgemeines

Prozessziel Schadensersatz

Scheitert eine außergerichtliche Einigung zwischen Patient und Arzt bzw. dessen Haftpflichtversicherung wegen eines vermeintlichen ärztlichen Fehlverhaltens, so muss der Patient seine Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche klageweise in einem Zivilverfahren geltend machen. Die Klageerhebung vor einem Zivilgericht steht dem Patienten vor, während und nach einem Verfahren vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle offen.

Zuständiges Gericht

Die sachliche Zuständigkeit des anzurufenden Gerichtes richtet sich nach der Höhe der geltend gemachten Forderungen. Bei Streitwerten über 5.000 € – in Arzthaftungsprozessen überwiegend – ist das Landgericht erstinstanzlich zuständig (§ 23 Nr. 1 GVG), bei Streitwerten darunter das Amtsgericht. Die meisten Landgerichte haben mittlerweile auf Arzthaftungssachen spezialisierte Kammern eingerichtet. Die sonst obligatorische Übertragung auf den Einzelrichter ist hier die Ausnahme. Bei den Oberlandesgerichten und beim BGH sind spezielle Arzthaftungssenate seit langem Praxis. Die Klage kann sich, anders als im Verfahren vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle, immer gegen den behandelnden Arzt, den Krankenhausträger und das nichtärztliche Personal richten.

Prozessführungsrecht des Haftpflichtversicherers

Das Prozessführungsrecht auf Beklagtenseite steht bedingungsgemäß dem oder den Versicherer(n) der Beklagten zu, § 3 Ziff. II 3, 5 Ziff. 4 AHB. Das heißt, der Versicherer wählt den spätestens im Verfahren vor dem Landgericht mit der Prozessvertretung zu betrauenden Rechtsanwalt (§ 78 Abs. 1 ZPO) aus und instruiert diesen für die Prozessführung. Haben die Beklagten zuvor – unter Verstoß gegen den Versicherungsvertrag – bereits selbständig einen Rechtsanwalt eingeschaltet, so wird dieser vom Versicherer entweder weiter beauftragt oder zur Mandatsniederlegung aufgefordert, eine Erstattung bereits angefallener Anwaltskosten findet regelmäßig nicht statt.

2. Selbständiges Beweisverfahren

Alternative zur sofortigen Klage

Als Alternative zur sofortigen Klageerhebung ist auch an die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens nach §§ 485 ff. ZPO zu denken. Einige Patientenanwälte bevorzugen dieses Verfahren gegenüber dem vor der Gutachterkommission /Schlichtungsstelle, weil sie den Gutachter dem Gericht selbst vorschlagen können und gegen die Objektivität des Verfahrens vor der Ärztekammer Bedenken haben. Das selbständige Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO dient der vorsorglichen Beweiserhebung vor Beginn eines möglichen Prozesses. Es kann unter anderem zum Inhalt haben, den Zustand einer Person, die Schadensursache und den Aufwand zur Beseitigung eines Schadens zu ermitteln und in dem von der ZPO vorgesehenen Beweisverfahren festzustellen. Diese Feststellung lässt in der Regel die Beurteilung zu, ob und in welcher Höhe ein Anspruch begründet ist. Nach § 492 Abs. 3 ZPO kann das Gericht die Parteien zur mündlichen Erörterung laden und einen Vergleich protokollieren. Auf diese Weise bietet das selbständige Beweisverfahren für die Parteien auf den ersten Blick eine zeit- und kostensparende Alternative.

Zulässigkeit im Arzthaftungsprozess

Die Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens im Arzthaftungsrecht war lange umstritten, ist aber durch einen Beschluss des BGH aus dem Jahre 2003 bejaht wordenFootnote 10. Weder die Entstehungsgeschichte des § 485 Abs. 2 ZPO noch sein Sinn und Zweck oder der Gesamtzusammenhang mit der Regelung in § 485 Abs. 1 ZPO sprächen gegen eine generelle Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahren s bei Arzthaftungsansprüchen. Dem ist zuzustimmen. In der Begründung des Entwurfes für das Rechtspflegevereinfachungsgesetz geht der Gesetzgeber davon aus, dass „die gesonderte Begutachtung durch einen Sachverständigen häufig zu einer die Parteien zufriedenstellenden Klärung und damit eher zum Vergleich als in einen Prozess führen würde“. Auch Sinn und Zweck lassen ein selbständiges Beweisverfahren nicht schlechthin unzulässig erscheinen, da sich bei Feststellung des Gesundheitsschadens und der hierfür maßgeblichen Gründe nicht selten erkennen lässt, ob und in welcher Schwere ein Behandlungsfehler gegeben ist. Das Verfahren kann unter diesen Voraussetzungen durchaus prozessökonomisch sein.

Häufig unzweckmäßig

Aus prozesstaktischer Sicht dürfte das selbständige Beweisverfahren dennoch in vielen Fällen unzweckmäßig sein, da nach § 485 Abs. 2 ZPO nur die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragt werden kann. Eine Zeugenvernehmung in Anwesenheit des Sachverständigen sieht die ZPO nicht vor. Die Sachverhaltsaufklärung eines lang andauernden und komplexen Behandlungsgeschehens mit mehreren beteiligten Personen, insbesondere der genaue Ablauf von Aufklärungsgesprächen, muss somit zwangsläufig unvollständig bleiben. Ein Prozess mit mündlicher Verhandlung erscheint daher vielfach unausweichlich, zumal über die Höhe eines Schmerzensgeldes oder von Vermögensschäden erst im Haftungsprozess entschieden werden kann.

3. Verfahrensrechtliche Besonderheiten

Starke Annäherung an Amtsermittlungsverfahren

Der Arzthaftungsprozess ist stark einem Amtsermittlungsverfahren angenähertFootnote 11. Entgegen dem sonst im Zivilverfahren geltenden Beibringungsgrundsatz beschränkt sich das Gericht nicht darauf, den von den Parteien vorgetragenen Tatsachenstoff zu bewerten, sondern es bemüht sich zur Ausgleichung der strukturellen Unterlegenheit des Patienten gegenüber dem Arzt während der Behandlung von Amts wegen um eine umfassende Aufklärung des Behandlungsgeschehens. An die Pflicht des Klägers zu substantiiertem Vortrag werden nur maßvolle und verständige Anforderungen gestellt. Das Gericht berücksichtigt dabei, dass dem klagenden Patienten bzw. seinem Anwalt regelmäßig sowohl die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen als auch das nötige Fachwissen zur Beurteilung des Streitfalles fehlen. Soweit es um das Behandlungsgeschehen und dessen Ursächlichkeit für den Gesundheitsschaden geht, wird eine Klage nur ganz ausnahmsweise, so bei gänzlich unsubstantiiertem oder unschlüssigem Vortrag des Klägers, ohne Beweisaufnahme abgewiesen.Footnote 12

Abweichung von der üblichen Beweislastverteilung

Im Arzthaftungsprozess gelten unter bestimmten Voraussetzungen gravierende Abweichungen von der sonst im Zivilprozess üblichen Beweislastverteilung. Als Grundregel für die Beweislastverteilung gilt: Jede Partei trägt die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass der Tatbestand der ihr günstigen Rechtsnorm erfüllt ist. Wer eine Rechtsfolge für sich in Anspruch nimmt, hat die rechtsbegründenden und rechtserhaltenden Tatsachen zu behaupten und zu beweisen. Der Gegner trägt die Beweislast für die rechtsvernichtenden und rechtshemmenden TatsachenFootnote 13. Grundsätzlich hat also der Patient den Behandlungsfehler, seinen Schaden und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und eingetretenem Schaden zu beweisen. Die Behandlerseite trägt die Beweislast für die Durchführung der Risikoaufklärung als Voraussetzung für eine rechtfertigende Einwilligung des Patienten.

Beweiserleichterung bei grobem Behandlungsfehler

Abweichend von dieser Grundregel gesteht die Rechtsprechung dem Patienten im Arzthaftungsprozess neben dem allgemein geltenden Anscheinsbeweis und dem bereits behandelten „vollbeherrschbaren Risiko “ Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zu. Eine wichtige Fallgruppe ist der des groben Behandlungsfehlers. Ein grober Behandlungsfehler ist dem Arzt oder Pflegepersonal vorzuwerfen, wenn ein Verhalten nach dem Ausbildungs- und Wissensmaßstab des Handelnden nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler schlechterdings nicht unterlaufen darfFootnote 14. Ein grober Behandlungsfehler muss nicht in einer gravierenden einzelnen Fehlleistung liegen. Auch die Betrachtung des Gesamtgeschehens kann dazu führen, dass die Summe einzelner Fehler die Behandlungsbedingungen so erschwert hat, dass eine Beweislastumkehr gerechtfertigt istFootnote 15. Auch das Nichterheben von Kontrollbefunden, die dann zur objektiv falschen Diagnose führen, kann einen groben Behandlungsfehler darstellenFootnote 16.

Unterlassene Befunderhebung

Auch bei einem nicht groben Versäumnis kann eine Beweislastumkehr stattfinden, wenn

  • der Arzt medizinisch gebotene Befunde nicht erhebt, aber

  • der Befund, wenn er erhoben worden wäre, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges Ergebnis erbracht hätte und

  • die Nichtreaktion hierauf als grober Behandlungsfehler zu bewerten wäre.Footnote 17

Beweiserleichterung bei Dokumentationsmangel

Darüber hinaus können – als dritte wichtige Fallgruppe – auch Dokumentationsmängel Konsequenzen für die Beweislastverteilung haben. Zwar bildet die unterlassene Dokumentation selbst keine eigenständige Anspruchsgrundlage und begründet ohne nähere Anhaltspunkte nicht automatisch einen BehandlungsfehlerFootnote 18. Das Fehlen einer medizinisch gebotenen Aufzeichnung kann aber indizieren, dass diese Maßnahme unterblieben istFootnote 19. Stellt das Unterbliebensein der nicht dokumentierten Maßnahme einen groben Behandlungsfehler dar, so kann das Dokumentationsversäumnis zur Beweislastumkehr führen und den Kausalitätsnachweis ersetzen. In der Praxis ist die Frage der Beweislastverteilung wegen der schwierigen Aufklärung der oft Jahre zurückliegenden Behandlungsgeschehen häufig von streitentscheidender Bedeutung. Der Arzt darf sich wegen der Amtsermittlung des Gerichtes auch nicht darauf verlassen, dass der Patient anspruchsbegründende Tatsachen nicht vorträgt, sondern muss von sich aus um eine vollständige Aufklärung des Behandlungsgeschehens bemüht sein.

Überragende Stellung des medizinischen Sachverständigen

Der medizinische Sachverständige nimmt eine überragende Stellung im Arzthaftungsprozess ein. Zwar ist beispielsweise die Beurteilung des Behandlungsgeschehens als grob fehlerhaft eine rechtliche Bewertung, die vom Gericht und nicht vom Sachverständigen vorzunehmen istFootnote 20. Das Gericht ist für seine Beurteilung aber auf die Ermittlung des Behandlungsgeschehens und seine Einordnung in den ärztlichen Standard durch den medizinischen Sachverständigen angewiesen. Schon die Auswahl des medizinischen Sachverständigen kann dabei von entscheidender Bedeutung sein. Üblicherweise beauftragt das Gericht neue Sachverständige, auch wenn vorher bereits ein Verfahren vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle stattgefunden hat. Bedenken der Ärzte gegen die Fachkunde oder die Objektivität des Gutachters sind dem Prozessbevollmächtigten zur Einbringung in das Verfahren mitzuteilen.

Prüfungspflicht des Tatrichters

In seinem Urteil vom 3.12.2008 – IV ZR 20/06 – Footnote 21erneuert der BGH seine Anforderungen an die Prüfungspflicht des Tatrichters hinsichtlich der Äußerungen des medizinischen Sachverständigen. Danach hat der Tatrichter die Aussagen kritisch auf ihre Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen sowie insbesondere auf die Aufklärung von Widersprüchen hinzuwirken. Dies gilt für die Begutachtung des Falles durch einen wie durch mehrere Sachverständige. Gerade in schwierigen wissenschaftlichen Fragen müssen weitere Aufklärungsmöglichkeiten genutzt werden, wenn diese Erfolg versprechen und verfügbar seien, betont der Senat. Erst wenn derartige Klärungsversuche erfolglos geblieben sind, dürfe der Tatrichter die Diskrepanzen frei würdigen. Allerdings müsse in diesem Fall in der Beweiswürdigung dargelegt werden, dass eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Ansichten der Gutachter stattgefunden hat und keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten bestehen.

Typischer Fragenkatalog an medizinischen Sachverständigen

Die überragende Rolle des ärztlichen Sachverständigen zeigt sich darin, dass der gerichtliche Gutachter umfassend den behaupteten ärztlichen Behandlungsfehler, den Gesundheitsschaden des Patienten und die Ursächlichkeit zwischen Behandlungsfehler und Patientenschaden gutachterlich zu bewerten hat. Die wichtigsten Fragen an den ärztlichen Sachverständigen können im Folgenden Fragenkatalog zusammengefasst werden:

  1. 1.

    Zum Behandlungsfehler:

    • Liegt ein Behandlungsfehler , also ein Abweichen vom Standard von guter ärztlicher Übung vor?

    • Wie war der ärztliche Standard zum Zeitpunkt des Eingriffs beschaffen? War der Facharztstandard gewahrt?

    • Falls der Gutachter einen Behandlungsfehler bejaht, ist dieser Behandlungsfehler als grob zu bewerten?

    • Sind medizinisch gebotene Befunde nicht erhoben worden, die ein reaktionspflichtiges Ergebnis erbracht hätten?

    • Stammt die Schädigung des Patienten aus einem Bereich, dessen Gefahren ärztlicherseits voll ausgeschlossen werden können und müssen (sog. vollbeherrschbarer Risikobereich)?

  2. 2.

    Zur Aufklärungspflicht:

    • Bestanden Behandlungsalternativen, die aufklärungspflichtig waren?

    • Tritt das verwirklichte Risiko zwar selten ein, ist es aber für den Eingriff typisch?

    • Entspricht es guter ärztlicher Übung, über dieses Risiko aufzuklären?

  3. 3.

    Zur Organisationspflicht:

    • Ist der Anfänger bei der Operation ordnungsgemäß überwacht worden?

    • War der aufklärende Arzt in der Lage, ordnungsgemäß aufzuklären?

    • Entspricht die Dokumentation guter ärztlicher Übung?

    • Ermöglicht die Dokumentation dem Sachverständigen die vollständige Bewertung des Behandlungsgeschehens?

    • Waren die vorgehaltenen Medikamente/Apparate ausreichend?

  4. 4.

    Zur Kausalität :

    • Beruht der eingetretene Gesundheitsschaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der Behandlung?

    • Mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad kommen andere Schadensursachen in Betracht?

    • Ist der ärztliche Behandlungsfehler generell geeignet, den Schaden herbeizuführen?

    • Beruht der Schaden schon nach dem Beweis des ersten Anscheins auf dem Behandlungsfehler?

    • Sind Folgeschäden eingetreten und beruhen diese auf dem Behandlungsfehler?

  5. 5.

    Zum Schaden:

    • Handelt es sich um einen echten Gesundheitsschaden oder um eine gesundheitliche Entwicklung im Rahmen der Norm?

    • Wie ist die Zukunftsprognose des Gesundheitsschadens einzuschätzen?

Beweislast häufig prozessentscheidend

Der vorstehende Fragenkatalog ist sicherlich nicht erschöpfend, zeigt aber auch die Bedeutung der sachgerechten Kommunikation zwischen Sachverständigen und Gericht. Der Sachverständige muss für die juristische Systematik von Beweislast und Beweiserleichterungen besonderes Verständnis entwickeln, da hier regelmäßig die prozessentscheidenden Fragen bestehen. Denn häufig kann der Sachverständige keine sichere Kausalität zwischen der ärztlichen Behandlung und dem Gesundheitsschaden des Patienten feststellen, so dass Beweislast und Beweiserleichterungen über den Ausgang des Rechtsstreits entscheiden.

Spezifischer Verlauf der mündlichen Verhandlung

Aus der Bedeutung der Sachverständigengutachten ergibt sich im Arzthaftungsprozess auch ein spezifischer Verlauf der oft mehrstündigen mündlichen Verhandlung . Kommt in einem möglicherweise anberaumten ersten Termin zur mündlichen Verhandlung kein Vergleich zwischen den Parteien zustande, gibt das Gericht ein Gutachten bei einem oder mehreren Sachverständigen der betroffenen Fachgebiete in Auftrag. Üblich ist auch die Vorgehensweise, dass das Gericht einen Hauptsachverständigen zum Beispiel mit der Erstellung eines chirurgischen Gutachtens beauftragt und ihn ermächtigt, selbständig Zusatzgutachten bei Fachkollegen etwa aus den Gebieten der Neurologie oder Pädiatrie bei der Notwendigkeit ergänzender Beratung einzuholen. Dieses Verfahren ermöglicht eine Abkürzung der ohnehin meist mehrere Monate in Anspruch nehmenden Erstellung der Gutachten. Nach Vorliegen der schriftlichen Gutachten haben beide Parteien das Recht auf mündliche Erläuterung der Gutachten durch die SachverständigenFootnote 22. Beide Parteien haben auch das Recht, nach mündlicher Anhörung des Sachverständigen und Schluss der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich zum Beweisergebnis Stellung zu nehmenFootnote 23. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus § 286 ZPO ist das Gericht nicht an die Vorgaben des Sachverständigen gebunden. Es darf aufgrund eigener Sachkunde durchaus von der Wertung des Sachverständigen abweichen. Allerdings muss das Gericht dem Sachverständigen die Widersprüche im Gutachten zunächst vorhalten und sich über seine ausreichende und zutreffende eigene Sachkunde vergewissern. Eine vom Gutachten abweichende Überzeugung muss das Gericht außerdem detailliert begründenFootnote 24.

Prozesstaktik im Arzthaftungsprozess

Aus prozesstaktischen Gründen werden im Arzthaftungsprozess nicht selten alle irgendwie an der Behandlung beteiligten Ärzte und Pflegepersonen zusätzlich zum Krankenhausträger mitverklagt. Zum einen beruht dieses Vorgehen darauf, dass für den Patienten auch nach Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen häufig nicht klar ist, welche der beteiligten Personen in welchem Umfang zu seinem Gesundheitsschaden beigetragen hat. Zum anderen dient dieses Vorgehen dazu, der Behandlerseite die Möglichkeit zu nehmen, medizinisches Personal als Zeugen für ein ordnungsgemäßes Behandlungsgeschehen zu benennen, da eine Zeugenvernehmung von Parteien nicht möglich ist.

Parteivernehmung zum Aufklärungsgespräch

In der Praxis wird dadurch die Beweissituation der Beklagtenseite aber nicht entscheidend geschwächt. So muss das Gericht für den Nachweis der Selbstbestimmungsaufklärung auch den Schwierigkeiten des Arztes Rechnung tragen, einen Vorgang zu belegen, der sich häufig nur unter vier Augen abgespielt hat und nach den Forderungen der Rechtsprechung trotz Aufklärungsbögen möglichst von Formalismen freigehalten werden soll. Sofern die Aufklärung als solche in den Krankenpapieren dokumentiert ist, kann der Arzt zum Inhalt des Aufklärungsgespräches als Partei vernommen werdenFootnote 25.

Merksätze

Merkmale des Arzthaftungsprozesses :

  1. 1.

    Die Parteien bestimmen den Streitstoff, aber das Gericht kann auch von Amts wegen Sachverhaltsaufklärung betreiben.

  2. 2.

    Der Patient hat grundsätzlich die Beweislast für alle Anspruchsvoraussetzungen, aber das Gericht kann Beweiserleichterungen gewähren

    • bei grobem Behandlungsfehler,

    • bei unterlassener Befunderhebung und

    • bei Dokumentationsmängeln.

  3. 3.

    Der Sachverständige hat sein Gutachten regelmäßig schriftlich und auf Antrag auch mündlich zu erstatten.

  4. 4.

    Neben dem Behandlungsfehler wird regelmäßig die Patientenaufklärung geprüft.

Fall 35: Das verklagte Krankenhausteam

BGH, Urteil vom 26.02.1991 – VI ZR 344/89– NJW 1991, 1539

Sachverhalt

Der Patient war im Jahre 1983 in einer HNO-Klinik verstorben. Seine Witwe klagte auf Zahlung einer Schadensrente gegen den Träger der Klinik als Beklagten zu 1), den dienstältesten Stationsarzt der HNO-Klinik als Beklagten zu 2), die beiden noch in der HNO-Facharztausbildung befindlichen Operateure als Beklagte zu 3) und 4), die bei der Operation anwesende Anästhesistin als Beklagte zu 5) sowie die Narkoseärztin, die den Patienten auf die Operation vorbereitet hat, als Beklagte zu 6).

Der Patient litt an einer Insuffizienz der Nebennierenrinde (Morbus Addison). Er nahm auf ärztliche Verordnung von 1982 an zur Substituierung der fehlenden NNR-Hormone u. a. morgens und abends das Cortisolpräparat Ultracorten ein. Wegen wiederholten Nasenblutens wurde er als Kassenpatient in der HNO-Klinik des Beklagten zu 1) stationär aufgenommen. Dort legte er seinen Notfallausweis vor, in dem sein Leiden verzeichnet und vermerkt war, dass im Falle einer Erkrankung oder bei einem Unfall der Corticoidmangel auszugleichen sei.

Nach vorübergehender Besserung trat am dritten Tage des stationären Aufenthaltes erneut stärkeres Nasenbluten auf. Der Beklagte zu 4) legte daraufhin abends eine sogenannte Bellocq-Tamponade. Bei diesem Eingriff wird unter Vollnarkose der Durchgang zwischen Nasen- und Rachenraum verschlossen. Der Beklagte zu 4) befand sich in der Facharztausbildung und hatte bis dahin noch keine derartige Operation vorgenommen. Beim Legen der Tamponade war auch der Beklagte zu 3) zugegen, der sich ebenfalls noch in der HNO-Facharztausbildung befand. Als Anästhesistin wurde die Beklagte zu 5) herangezogen, die im zweiten Jahr ihrer Facharztausbildung stand.

Die Narkose dauerte 75 min. Der Eingriff selbst, bei dem ein größerer Blutverlust (etwa 800 ml) auftrat, war nach 35 min beendet. Nach der Operation wurde der Patient auf die normale Krankenstation zurückgebracht und dort mit einem anderen Patienten zusammengelegt, der ständiger Überwachung bedurfte. Zum Ausgleich des eingetretenen Blutverlustes erhielt er Infusionen von insgesamt 1.000 ml. Cortisol-Präparate wurden ihm weder während noch nach der Operation verabreicht. In der folgenden Nacht ergaben die mehrmals gemessenen Blutdruck- und Pulswerte bis 2.00 Uhr stabile Kreislaufverhältnisse. Gegen 2.50 Uhr wurde der Patient vom Pfleger ohne Atmung und Pulsschlag aufgefunden; Reanimationsversuche blieben erfolglos. Die klagende Witwe behauptet, ihr Ehemann sei an einem durch Cortisolmangel verursachten Herz-Kreislauf-Versagen gestorben.

Lösung

Prozessverlauf

Das Landgericht wies die Klage gegen die Beklagten zu 2) (Stationsarzt) und zu 6) (vorbereitende Narkoseärztin) ab und verurteilte die Beklagten zu 1) (Krankenhausträger), 3) und 4) (Operateure) und 5) (Anästhesistin) als Gesamtschuldner zum Ersatz der materiellen Schäden. Das OLG Köln wies die Berufungen der vier verurteilten Beklagten zurück. Gegen dieses Urteil legten die Beklagten Revision ein. Der BGH nahm die Rechtsmittel der Beklagten zu 1) und 5) (Krankenhausträger und Anästhesistin) nicht an. Die Revisionen der Beklagten zu 3) und 4) (Operateure) hatten Erfolg und führten zur Zurückverweisung an das OLG Köln. Das Urteil wurde damit nur gegen die Anästhesistin und ihren Dienstherrn rechtskräftig.

Grober Behandlungsfehler der Anästhesistin

BGH und OLG bejahten übereinstimmend einen groben Behandlungsfehler der Anästhesistin bei der ärztlichen Versorgung des verstorbenen Patienten. Grob fehlerhaft sei gewesen, dass dem an Morbus Addison leidenden Patienten weder vor noch während der Operation Cortisol verabreicht worden sei. Diese Bewertung des ärztlichen Verhaltens beruhte auf den Äußerungen der Sachverständigen im Ermittlungsverfahren . Die Gutachter hatten die als Standardmethode bezeichnete Medikation erhöhter Cortisolgaben vor Operationen von Morbus-Addison-Patienten aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse bei Bagatelleingriffen als entbehrlich bezeichnet. Hierauf stützten sich die Beklagten. BGH und OLG hielten dies für die Bewertung des ärztlichen Verhaltens jedoch nicht von Belang, da selbst dann, wenn eine Bellocq-Tamponade regelmäßig nur als kleiner Eingriff zu werten sei, im vorliegenden Fall schon wegen der langen Dauer der Operation und des damit verbundenen erheblichen Blutverlustes es sich nicht mehr um eine Bagatelle gehandelt habe. Mit dieser Qualifizierung des Eingriffs widersprachen die Gerichte nicht den Sachverständigen, sondern erklärten deren Ausführungen zu neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen als auf den vorliegenden Fall für nicht anwendbar.

Beweislast streitentscheidend wegen unaufklärbarer Todesursache

Für die Gewichtung der unterlassenen Medikation als grober Fehler kam noch hinzu, dass der Patient letztmals am Morgen des Operationstages überhaupt Cortisol zu sich genommen habe, vor dem Eingriff selbst also nicht einmal seine normale Abend-Dosis erhalten hatte. Die Todesursache des Patienten blieb ungeklärt. Wegen des groben Behandlungsfehlers wirkte sich die ungeklärte Kausalität zwischen Behandlung und Schaden zu Lasten des Klinikträgers und der Anästhesistin aus.

Horizontale Arbeitsteilung Chirurg/Anästhesist

Dagegen hob der BGH das Berufungsurteil bezüglich der beklagten Operateure auf und verwies die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung zurück an das OLG Köln. Die Feststellungen des Berufungsgerichtes trugen nach Überzeugung des BGH nicht die Auffassung, dass das Unterlassen der Cortisol-Medikation auch ein Versäumnis der beklagten Operateure darstelle. Der BGH stützt sich dabei auf den Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung zwischen Fachärzten. In der präoperativen Phase sei der Anästhesist für die Vorbereitung der Narkose zuständig. In der intraoperativen Phase seien sowohl die Operateure als auch die beklagte Anästhesistin mit der Behandlung befasst gewesen. In diesem Zeitraum seien die Chirurg en für den operativen Eingriff mit den sich daraus ergebenden Risiken, die Anästhesistin für die Narkose einschließlich der Überwachung und Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen des Patienten zuständig gewesen. Nach dem Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung habe jeder Arzt denjenigen Gefahren zu begegnen, die in seinem Aufgabenbereich entstehen; er müsse sich aber, jedenfalls so lange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, darauf verlassen dürfen, dass auch der Kollege des anderen Fachgebietes seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt. Eine gegenseitige Überwachungspflicht bestehe insoweit nicht.

Keine Haftung der Chirurg en

Die beklagten Operateure hätten mangels gegenteiliger konkreter Umstände vor Beginn des operativen Eingriffs von einer sorgfältigen Prämedikation des Patienten einschließlich der erforderlichen Substituierung der fehlenden NNR-Hormone durch ausreichend dosierte Cortisol-Gaben seitens der Anästhesisten ausgehen dürfen. Auch für die Weiterbehandlung nach der Operation bleibe es zwischen Anästhesisten und Chirurg en bei den Grundsätzen der Arbeitsteilung. Regelmäßig werde der Patient nach der Operation von dem Anästhesisten wieder in die Obhut der jeweiligen Stationsärzte entlassen. Im Streitfall war jedoch auch nicht festgestellt worden, dass die beklagten Operateure für die Betreuung des Patienten auf der Station zuständig waren. Da den Operateuren somit schon kein grober Behandlungsfehler zuzurechnen war, wirkte sich die Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität von Fehler und Schaden nur zu Lasten der Anästhesistin und ihres Dienstherrn aus.

IV. Strafverfahren

1. Allgemeines

Einleitung des Strafverfahrens

Nicht selten erstattet der Patient Strafanzeige gegen den behandelnden Arzt (nur selten gegen nicht ärztliches Personal) und macht die zivilrechtlichen Ansprüche zusätzlich geltend.Footnote 26 Meist handelt es sich um den Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB). Im Falle der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) kann es zu Strafanzeigen der Hinterbliebenen oder von Polizei- und Gemeindebehörden nach § 159 Abs. 1 StPO kommen. Im Falle der Anzeigenerstattung oder sonstigen Kenntniserlangung ist die Staatsanwaltschaft nach § 160 Abs. 1 StPO zur Sachverhaltserforschung verpflichtet.

Unabhängigkeit von Straf- und Zivilverfahren

Durchführung und Ausgang von Straf- und Zivilverfahren sind voneinander unabhängig. Die Entscheidung des Zivilgerichtes hängt nicht von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, welches den Gegenstand eines Strafverfahrens bildet, so dass eine Aussetzung eines Zivilverfahrens bei Einleitung eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens nach § 148 ZPO nicht erforderlich ist. Die Aussetzung eines Zivilverfahrens ist auch unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie nach § 149 ZPO bei Verdacht einer strafbaren Handlung nur in Ausnahmefällen geboten.

Subsidiarität des Schlichtungsverfahren s

Ein Verfahren vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle ist neben einem Strafverfahren nicht möglich. Das Verfahren bei den Ärztekammer n wird erst gar nicht eröffnet, wenn bereits ein Ermittlungsverfahren bzw. Strafverfahren schwebt (z. B. § 4 Abs. 2 b Statut Westfalen-Lippe). Ein bereits bei der Ärztekammer anhängiges Verfahren wird entweder ausgesetzt (z. B. § 4 b Statut Westfalen-Lippe) bzw. eingestellt (z. B. § 2 Abs. 3 b Statut Schlichtungsstelle Hannover), sobald ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren oder ein Strafverfahren eröffnet wird.

2. Unterschiede zwischen Zivil- und Strafverfahren

Unterschiedliche Haftungsvoraussetzungen

Die Haftungsvoraussetzungen des Zivil- und Strafrechts unterscheiden sich. Im Zivilrecht ist die Grundvoraussetzung der Fahrlässigkeit shaftung die Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht. Im Strafrecht muss dem Angeklagten darüber hinaus auch seine subjektive Schuld nachgewiesen werden, d. h. der Arzt muss nach seinen persönlichen Fähigkeiten und individuellen Kenntnissen in der Lage gewesen sein, den objektiven Sorgfaltsstandard eines gewissenhaften Facharztes in der konkreten Situation einzuhalten. Dabei kommt einem fachmedizinischen Gutachten eine weniger entscheidende Rolle als im Zivilverfahren zu. Das Strafgericht entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (§ 261 StPO). Für die Urteilsfindung sind u. a. auch die Lebensumstände und Handlungsmotive des Angeklagten sowie sein Eindruck in der Hauptverhandlung entscheidend.

Grundsatz in dubio pro reo

Im Strafprozess gilt der Grundsatz in dubio pro reo, d. h. im Zweifel für den Angeklagten. Auch wenn es sich hierbei dogmatisch um keine Beweisregel, sondern um eine Entscheidungsregel nach abgeschlossener Beweiswürdigung handeltFootnote 27, so begründet dieser Grundsatz im Ergebnis im Strafverfahren eine unterschiedliche BeweislastregelungFootnote 28. Für den Fall, dass das Gericht nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten oder von dem Bestehen unmittelbar entscheidungserheblicher Tatsachen gewinnt, schreibt der Zweifelssatz vor, dass die dem Angeklagten jeweils günstigste Rechtsfolge eintreten muss. Im Zivilverfahren hat der Arzt dagegen immer die ordnungsgemäße Risikoaufklärung zu beweisen. Im Falle eines groben Behandlungsfehler s trägt er sogar das Risiko der Beweislastumkehr beim Nachweis der Kausalität zwischen einem Behandlungsfehler und eingetretenem Schaden. Im Strafverfahren muss ihm dagegen stets auch die Kausalität zwischen strafbarer Handlung und Erfolg nachgewiesen werden. Dies bedeutet beispielsweise für den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung , dass dem Arzt nachgewiesen werden muss, dass durch seine objektiv und subjektiv vorwerfbare Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht der Deliktserfolg eingetreten ist und ein spezifischer Zurechnungszusammenhang zwischen Deliktserfolg und Fahrlässigkeitstat besteht, sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Kurz: Nur wenn der Sachverständige positiv feststellt, dass bei standardgerechter Behandlung der Verlauf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein günstigerer gewesen wäre, hat sich der Arzt strafbar gemacht.

Amtsermittlungs- und Beibringungsgrundsatz

Im Strafverfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, während im Zivilverfahren grundsätzlich die Parteien den entscheidungserheblichen Tatsachenstoff beibringen müssen. Das Zivilgericht ist nach § 308 Abs. 1 ZPO auch an die Parteianträge gebunden und darf nicht über diese hinausgehen. Dagegen besteht im Strafverfahren weder eine Bindung der Staatsanwaltschaft an den Strafantrag des Patienten noch ist das Gericht an die Schlussanträge der Staatsanwaltschaft gebunden. Staatsanwaltschaft und Gericht haben von sich aus alle be- und entlastenden Umstände zu ermitteln, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (§§ 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO). Allerdings ist der Arzthaftungsprozess von der Rechtsprechung dem Amtsermittlungsverfahren angenähert wordenFootnote 29.

Möglichkeit zur Einstellung von Ermittlungs- und Strafverfahren

Im Ermittlungs- und Strafverfahren besteht die Möglichkeit zur Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO bzw. nach Erfüllung von Auflagen (§ 153a StPO). Dies gilt jedoch nur für Vergehen, d. h. rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind (§ 12 Abs. 2 StGB). Vereinfacht gesprochen kann nach § 153 StPO von der Strafverfolgung abgesehen werden, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. § 153a StPO ermöglicht die Einstellung des Verfahrens bei Erfüllung von Auflagen durch den Beschuldigten, z. B. in Form der Wiedergutmachung des verursachten Schadens oder Zahlung eines Geldbetrages für gemeinnützige Zwecke. Die Vorschriften der §§ 153 und 153 a StPO unterscheiden sich also grundlegend dadurch, dass bei § 153 StPO das öffentliche Interesse von Anfang an fehlt, während das Strafverfolgungsinteresse bei § 153 a StPO zunächst gegeben ist, jedoch durch Auflage bzw. Weisung kompensiert wird.Footnote 30

3. Prozesstaktische Erwägungen

Versuch der Förderung von Schadenersatzansprüchen

Zu einer Strafanzeige des Patienten kommt es häufig nur aus prozesstaktischen Erwägungen. Durch die Strafanzeige soll das Behandlungsgeschehen für den Patienten kostenlos durch die Staatsanwaltschaft ermittelt werden. Auch ein Druck auf den Arzt zur Erhöhung der Vergleichsbereitschaft wird nicht selten bezweckt. In der Fachliteratur wird von einem solchen Vorgehen zu Recht abgeratenFootnote 31. Gegen das Kostenargument spricht, dass mit dem Verfahren vor der Gutachterkommission bzw. Schlichtungsstelle für den Patienten ebenfalls ein kostenloses Verfahren zur Sachverhaltsermittlung und Beweissicherung zur Verfügung steht. Auch im Zivilverfahren kann der Patient Prozesskostenhilfe beantragen, die in der Praxis fast immer gewährt wird, da eine Bewertung der Erfolgsaussichten in der Regel erst nach Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens möglich ist.

Unerwünschte negative Effekte

Die versuchte Beschleunigung von Vergleichsverhandlungen durch eine Strafanzeige bewirkt häufig eher das Gegenteil. Beim Arzt bzw. seiner Versicherung besteht kaum Vergleichsbereitschaft, so lange noch die Gefahr einer Strafe mit allen berufsrechtlichen und öffentlichkeitswirksamen Konsequenzen droht. Schließlich bedarf es auch für die Einsicht in die Patientenunterlagen nicht der Beschlagnahme derselben durch die Staatsanwaltschaft . Dem Patienten steht nach ständiger Rechtsprechung ein Anspruch auf Einsicht in seine Behandlungsunterlagen zuFootnote 32.

Rechtzeitige Kopie aller Behandlungsunterlagen

Wegen der im Strafverfahren drohenden Beschlagnahme aller Behandlungsunterlagen durch die Staatsanwaltschaft nach §§ 94 ff. StPO sollten der Arzt bzw. der Krankenhausträger bereits bei der Androhung einer Strafanzeige durch den Patienten alle Behandlungsunterlagen kopieren, auf ihre Vollständigkeit hin überprüfen und gegebenenfalls – deutlich gekennzeichnet – vervollständigen. Ohne vollständige Behandlungsunterlagen besteht für den Prozessbevollmächtigten im Ermittlungsverfahren und im evtl. parallel laufenden Zivilverfahren keine Möglichkeit zu einer angemessenen Verteidigung. Auch die Vergabe eines Privatgutachten s muss so scheitern. Das Recht auf Akteneinsicht in die beschlagnahmten Unterlagen stellt keinen vollwertigen Ersatz dar. Nach § 147 Abs. 2 StPO kann das Recht zur Akteneinsicht und Besichtigung der Beweisstücke von der Staatsanwaltschaft bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens verwehrt werden, wenn eine Gefährdung des Untersuchungszwecks angenommen wird.

Die freiwillige Herausgabe der Beweismittel vermeidet eine Durchsuchung. Eine Stellungnahme sollte im Strafverfahren nur nach Rücksprache mit einem Anwalt abgegeben werden.

Merksätze

Merkmale des Arztstrafverfahrens:

  1. 1.

    Der Strafrichter entscheidet im Zweifel für den Angeklagten.

  2. 2.

    Der Strafrichter prüft neben der objektiven Pflichtverletzung eingehend die persönliche Schuld.

  3. 3.

    Staatsanwaltschaft und Gericht haben alle be- und entlastenden Umstände zu ermitteln, sie sind an die Anträge und das Vorbringen der Parteien nicht gebunden.

  4. 4.

    Staatsanwaltschaft und Gericht machen extensiv von der Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens Gebrauch.

Die strafrechtliche Bewertung ärztlichen Handelns soll im Folgenden an je einer Entscheidung aus dem Bereich der Strahlentherapie und der Zusammenarbeit zwischen Chirurg und Anästhesist en verdeutlicht werden:

Fall 36: Körperverletzung durch Strahlentherapie

BGH, Urteil vom 19.11.1997 – 3 StR 271/97 – NJW 1998, 1802

Sachverhalt

Die beiden Angeklagten Dr. R. und Dr. K. waren Fachärzte für Radiologie und Strahlentherapie und gleichberechtigte Partner in einer Gemeinschaftspraxis. Intern hatten sie eine Arbeitsteilung dahingehend vorgenommen, dass Dr. K. die Strahlentherapie oblag, während Dr. R. in diesem Bereich lediglich Urlaubsvertretungen wahrnahm. Ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet hatten die beiden Ärzte bei ihrer Facharztausbildung im Krankenhaus erworben, die über 10 bzw. 15 Jahre zurücklag. Die Fortbildung der beiden Ärzte im Bereich der Strahlentherapie war allenfalls rudimentär. Dr. K. sah keinen Fortbildungsbedarf, da er die Strahlentherapie für unproblematisch hielt. Entsprechendes galt für den Angeklagten Dr. R., der auf diesem Gebiet nur Urlaubsvertretungen wahrnahm.

Die Durchführung der Strahlentherapie in der Praxis entsprach in vielerlei Hinsicht nicht mehr dem Stand der Wissenschaft und den einschlägigen Vorschriften. Die zur größtmöglichen Schonung des gesunden Gewebes entwickelten Methoden wurden unzureichend angewandt:

  • Bei der Mehrfeldertechnik, bei der der Tumor von mehreren Feldern aus abwechselnd bestrahlt wird, wurde meist der tägliche Wechsel nicht eingehalten, in zahlreichen Fällen sogar die gesamte Bestrahlung nur über eines der Felder vorgenommen.

  • Die mit dem vorhandenen Gerät mögliche Rotationstechnik, bei der sich der Strahlenkopf bewegt, kam nicht zum Einsatz, weil der für die Strahlentherapie zuständige Dr. K. nicht in der Lage war, die dafür notwendigen Berechnungen anzustellen.

  • Die erforderlichen röntgenologischen Kontrollaufnahmen, mit denen geprüft wird, ob einerseits der Tumorherd getroffen wird und andererseits wichtige Organe geschont werden, unterblieben bei Bestrahlungen im Brust- und Beckenbereich, weil sie Dr. K. für entbehrlich hielt.

  • Die Bestrahlungen erfolgten in zwei Serien mit einer Zwischenpause von 6 bis 8 Wochen; dies war jedoch nach dem Stand der Medizin nicht mehr vertretbar, da die Unterbrechung dem Tumor Zeit gibt, erneut zu wachsen und den Erfolg der Therapie in Frage stellt.

  • Die Dokumentation der Bestrahlungsbehandlung in den Karteikarten erfolgte unzureichend, was der Urlaubsvertreter Dr. R. mehrfach beanstandet hatte, allerdings ohne eine Änderung zu erreichen. Die Patientenakten wurden sehr unordentlich geführt. Entgegen der Richtlinie Strahlenschutz wurde das Bestrahlungstagebuch von keinem der beiden Ärzte abgezeichnet. Das für das Telekobaltgerät vorgeschriebene Betriebstagebuch fehlte ebenso wie ein Wartungsvertrag. Die nach der Strahlenschutzverordnung und der dafür ergangenen Richtlinie erforderlichen betriebsinternen Prüfungen unterblieben.

  • Dr. K. errechnete ursprünglich die erforderlichen Bestrahlungszeiten für das von ihm eingesetzte Telekobaltgerät selbst. Nachdem er erfahren hatte, dass bei Überprüfungen des Gewerbeaufsichtsamtes Bestrahlungszeittabellen benötigt würden, ließ er sich solche von einem später ebenfalls angeklagten Medizinphysiker mit Hilfe eines Computerprogramms erstellen, um sie vorweisen zu können, beabsichtigte jedoch ihre Anwendung vorerst nicht. Bei der Erstellung kam es zu einem nicht mehr aufklärbaren Fehler, der die Erhöhung der Werte um den Faktor 2,2 bewirkte. Dies bemerkten weder der Medizinphysiker noch Dr. K., der die Tabellen ungeprüft übernommen und keine Plausibilitätskontrolle vorgenommen hatte. In der Folge kam es in einer Reihe von Fällen zu einer Bestrahlung von Patienten mit mehr als der doppelten der medizinisch indizierten Dosis. Dr. R. führte als Urlaubsvertreter bei fünf Patienten die Behandlung nach den fehlerhaften Plänen von Dr. K. weiter. Die angegebenen Bestrahlungszeiten überprüfte er nicht.

  • Dr. K. fertigte über die Bestrahlungskontrollen nachträglich Protokolle an. Dabei übernahm er in den meisten Fällen die Bestrahlungszeiten unverändert, verminderte in etlichen jedoch die Zeiten um 10 bis 20 %, um die angewandte Dosis geringer erscheinen zu lassen.

  • Im Jahre 1987 bat Dr. R. bei einer Überprüfung der Röntgenanlage durch das Gewerbeaufsichtsamt während seiner Urlaubsvertretung die Prüfingenieurin um eine Dosismessung an der Telekobaltanlage, weil ihm in letzter Zeit außergewöhnliche Hautreaktionen Anlass zu Zweifeln gegeben hatten. Die grobe Messung der Prüfingenieurin ergab, dass die Bestrahlungszeiten in der Tabelle mehr als doppelt so lang waren, als es der Dosisleistung entsprochen hätte. Die Ingenieurin wies Dr. R. darauf hin, dass er die Anlage bis zu einer genauen Messung nicht mehr benutzen dürfe. Dennoch führte Dr. R. an den Folgetagen noch weitere Bestrahlungen mit der bisherigen Überdosis durch.

Wie haben sich Dr. K, Dr. R. und der Medizinphysiker strafbar gemacht?

Lösung

Ergebnisse der Strafverfahren

Dr. K. wurde rechtskräftig wegen fahrlässiger Tötung in vier Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung in 16 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren auf Bewährung verurteilt. Der Medizinphysiker, der die Bestrahlungszeittabellen erstellt hatte, wurde wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten, ebenfalls ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Dr. R. wurde vom Landgericht wegen fahrlässiger Körperverletzung in 5 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen verurteilt. Hiergegen legte der Angeklagte Dr. R. Revision ein. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Die folgenden Ausführungen des BGH beziehen sich ausschließlich auf das strafrechtliche Verhalten des Urlaubsvertreters Dr. R:

Tatbestand der Körperverletzung

Die Strahlentherapie verwirklichte den objektiven Tatbestand der Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 229 StGB selbst in den Fällen, in denen keine manifesten Schäden als Folge der zu hohen Strahlendosis festgestellt werden konnten. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit auch dann als Körperverletzung zu bewerten, wenn er durch einen Arzt in heilender Absicht erfolgt. Die Heilmaßnahme kann im Regelfall nur durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werdenFootnote 33. Die Behandlung mit Gammastrahlen in einer zur Tumorvernichtung ausreichenden Dosis, auch wenn sie medizinisch indiziert und lege artis ausgeführt wird, bewirkt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten. Selbst wenn zur größtmöglichen Schonung des gesunden Gewebes entwickelte Techniken (z. B. Mehrfeldertechnik) eingesetzt werden, ist die Strahlentherapie regelmäßig mit Nebenwirkungen verbunden, wie z. B. Rötungen der Haut, Übelkeit und Erbrechen. Bei ordnungsgemäßer Dosierung klingen diese allerdings in der Regel alsbald wieder ab.

Fahrlässigkeit svorwurf

Das Verhalten von Dr. R. war auch fahrlässig i. S. d. §§ 229, 15 StGB. Soweit der Angeklagte in einigen Fällen die Bestrahlungen mit Überdosen auch dann noch fortsetzte, nachdem er von der Prüfingenieurin auf das alarmierende Messergebnis und die Notwendigkeit einer endgültigen Messung hingewiesen worden war, liegt Fahrlässigkeit auf der Hand. Hinsichtlich der vorangegangenen Bestrahlungen ist Dr. R. ein Fahrlässigkeitsvorwurf deshalb zu machen, weil er die Bestrahlungszeiten aus dem von seinem Kollegen Dr. K aufgestellten Behandlungsplan ungeprüft übernommen und nicht einmal eine stichprobenartige Plausibilitätsprüfung vorgenommen hatte, obgleich ausreichende Anhaltspunkte für ernste Zweifel an der Richtigkeit des Plans für ihn erkennbar gegeben waren.

Keine Berufung auf Vertrauensgrundsatz

Bei den ihm bekannten Verhältnissen in der Praxis konnte sich der Angeklagte nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Dieser ist zwar in der Rechtsprechung auch für den Fall der Zusammenarbeit von Ärzten der gleichen Fachrichtung bei der sogenannten horizontalen Arbeitsteilung grundsätzlich anerkannt. Jedoch gilt dieser Grundsatz nur, so lange keine ernsthaften Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Vorarbeiten des Kollegen erkennbar sind. Hier war jedoch die Tätigkeit des Kollegen für den Angeklagten erkennbar von zahlreichen Nachlässigkeiten gekennzeichnet. Bei der Fülle und Schwere der Anhaltspunkte hätte der Angeklagte nicht auf die Richtigkeit der von dem Kollegen angegebenen Bestrahlungszeiten vertrauen dürfen. Die Anforderungen an die Geltung des Vertrauensschutzes sind umso höher, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten sindFootnote 34.

Keine Rechtfertigung mangels wirksamer Einwilligung

Unter diesen Umständen lag auch keine wirksame, rechtfertigende Einwilligung der Patienten für die Eingriffe vor. Die Einwilligung bezog sich schon wegen Fehlens einer weitergehenden Aufklärung nur auf eine lege artis, d. h. nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft durchgeführten Heilbehandlung. Dass dies bei einer Bestrahlung mit fehlerhaft ermittelten Überdosen von mehr als dem Doppelten nicht der Fall ist, bedarf nach Auffassung des BGH keiner näheren Darlegung.

Schuldvorwurf

Schließlich handelte der Urlaubsvertreter Dr. R. auch schuldhaft. Dabei berücksichtigte der BGH auch den Umstand, dass Dr. R. seiner Pflicht, sich in dem Umfang fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Entwicklung der zu seiner Berufsausübung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig gewesen wäreFootnote 35, nicht nachgekommen war. Auch derjenige handelt schuldhaft, der eine Tätigkeit vornimmt, obwohl er weiß, oder erkennen kann, dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen. Das Verschulden kann dabei sowohl in der Übernahme einer die Fähigkeit des Handelnden übersteigenden Tätigkeit als auch in ihrer Fortführung liegen.

Fall 37: Ungeklärte Zuständigkeitsverteilung von Chirurg und Anästhesist

BGH, Urteil vom 16.10.1979 – 1 StR 360/79 – NJW 1980, 650

Sachverhalt

Im Jahre 1976 wurde der 38-jährigen Patientin in einer fast 7 h dauernden Operation eine Fettmenge von etwa 10 kg im Bereich von Hüften, Oberschenkeln, Gesäß und Bauch entfernt. Angeklagt wurden der operierende Chirurg und die beteiligte Anästhesistin. Nach der Operation wurde die ansprechbare Patientin auf die Intensivstation der Privatklinik verbracht, auf welcher ein Assistenzarzt und eine Krankenschwester den Nachtdienst versahen. Anordnungen für die postoperative Nachversorgung der Patientin gab der Chirurg nicht. Die Anästhesistin hatte auf dem Anästhesiejournal folgendes vermerkt: „Bitte sofort Dauerkatheter, Ausfuhr kontrollieren, Kreislauf! Für extreme Notfälle ist unbefundetes Blut da (ohne Luestest und Transaminasen) nur bei vitaler Indikation geben! Morgen Hb + HK + Elektrolyte. Evtl. Blutgabe. Bitte genau aufschreiben, wie viel Blut aus den Drainagen gekommen ist!“

Im Laufe der Nacht setzten bei der frisch operierten Patientin Nachblutungen ein, die einen Blutverlust von mindestens 1.710 ccm bewirkten, der vom Nachtdienstpersonal nicht ausgeglichen wurde. Am nächsten Tag verstarb die Patientin mittags nach einem erfolglos durchgeführten Rettungsversuch infolge Herz-Kreislauf-Versagens.

Das Landgericht stellte nicht fest, wie im Allgemeinen und im hier vorliegenden Fall die Verantwortlichkeit zwischen Chirurg und Anästhesistin in der postoperativen Phase verteilt war und ob die angeklagte Anästhesistin hiernach verpflichtet war, weitergehende Aufklärungen und Anordnungen für die postoperative Versorgung zu geben. Es wurde lediglich festgestellt, dass die Anästhesistin ihre schriftlichen Anweisungen auf dem Anästhesiejournal unabhängig von dem Chirurgen und aus eigenem Antrieb gegeben hatte. Ob dem konkreten Fall allgemein getroffene Vereinbarungen zwischen den beiden Angeklagten oder Anordnungen des Krankenhauses über die Zuständigkeitsverteilung vorangegangen waren, wurde nicht festgestellt.

Lösung

Verurteilung vom BGH aufgehoben

In erster Instanz war die Strafkammer des Landgerichts zuständig. Das LG verurteilte beide Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu Geldstrafen. Es lastete ihnen an, dass sie das Personal der Intensivstation nicht über die Operationsumstände und die akute Gefahr von Nachblutungen aufgeklärt hätten. Anordnungen für die Versorgung der Patientin seien entweder überhaupt nicht oder unzureichend gegeben worden. Nach Auffassung des Landgerichts lag die Pflichtverletzung der angeklagten Anästhesistin darin, dass sie ihrer Nachsorgepflicht nicht ausreichend nachgekommen war: Sie hätte den diensthabenden Arzt der Intensivstation aufklären und anweisen müssen, insbesondere hätte sie ihn über die besonderen Operationsumstände und die akute Gefahrenlage durch Nachblutungen unterrichten müssen. Spezielle Anordnungen seien in besonderen Fällen üblich gewesen, die Angeklagte habe durch ihre – allerdings unzureichenden – Hinweise im Anästhesiejournal gezeigt, dass sie sich verantwortlich gefühlt habe. Der BGH hat die Entscheidung des Landgerichtes aufgehoben, da die unzureichenden Feststellungen zu Absprachen über die Zuständigkeitsverteilung den Schuldspruch nicht tragen würden.

Anordnungen zur horizontalen Arbeitsteilung zwischen Chirurg und Anästhesist

Der BGH vermisste Feststellungen dazu, wie im allgemeinen und im vorliegenden Fall die Verantwortlichkeit zwischen Chirurg und Anästhesist in der postoperativen Phase verteilt war und ob die angeklagte Anästhesistin hiernach verpflichtet war, die vom Landgericht geforderten Aufklärungen und Anordnungen für die postoperative Versorgung zu geben. Unter Berufung auf juristische und medizinische Fachliteratur stellte der BGH fest, dass es zweifelhaft sein könne, ob in der postoperativen Phase der Anästhesist den Patienten lediglich bis zum Erwachen aus der Narkose oder darüber hinaus bis zur vollen Aufhebung der Betäubungswirkungen betreuen müsse. Es bedürfe für einen Grenzbereich einer konkreten Verteilung von Zuständigkeiten, um Überschneidungen und Lücken in der ärztlichen Betreuung zu vermeiden.

Verteilung von Zuständigkeiten auf verschiedenen Ebenen

Diese Verteilung von Zuständigkeiten könne auf verschiedenen Ebenen erfolgen: In Ausnahmefällen könne aufgrund besonderer Vereinbarungen zwischen Chirurg und Anästhesist auf die Bedürfnisse des Einzelfalles zur konkreten Zuständigkeitsverteilung eingegangen werden. Ansonsten gelte in jedem Krankenhaus eine Zuständigkeitsverteilung, die sich aus der täglichen Zusammenarbeit zwischen Chirurg und Anästhesist bilde. Eine allgemeine Vereinbarung der Zuständigkeit von Operateur und Anästhesist werde auch in der Fachliteratur für Fälle der Kompetenzüberschneidung empfohlen. Als Auffangregel solle im Falle eines positiven Kompetenzkonfliktes dem Operateur der Vortritt gelassen werden.

Strafrechtliche Verantwortung abhängig von Kompetenzregelungen

Im streitentscheidenden Fall war die Patientin nach Beendigung der Operation auf die Intensivstation gebracht worden. Dort war sie ansprechbar und befand sich in einem der Dauer der Operation entsprechenden Zustand. Nach Auffassung des BGH legte das die Annahme nahe, dass die Wirkungen der Betäubung aufgehört hatten und damit die Verantwortlichkeit der Anästhesistin ihr Ende gefunden hatte. Komplikationen, die sich aus der Operation selbst ergaben (wie Nachblutungen), mochten also in die Verantwortung des Chirurgen fallen. Der BGH, der als Rechtsmittelgericht selbst keine Sachverhaltsaufklärung vornehmen kann, sah sich aufgrund der lückenhaften Feststellungen des Landgerichts nicht dazu in der Lage, auf eine strafrechtliche Verantwortung beider Angeklagten zu erkennen. Es sei möglich, dass nicht beide Angeklagten für die postoperative Sorge verantwortlich waren, sondern entweder allein nur der Operateur (wegen der Gefahr negativer – hier eingetretener – Operationsfolgen) oder allein die Anästhesistin (aufgrund von Vereinbarungen oder Anordnungen).

Checkliste

Hierarchie der Regelungen zur Kompetenzverteilung zwischen Chirurg und Anästhesist

  1. 1.

    Vereinbarung zwischen Chirurg und Anästhesist im Einzelfall ✓

  2. 2.

    Allgemeine Zuständigkeitsverteilung im jeweiligen Krankenhaus ✓

  3. 3.

    Vermutung der Kompetenz des Anästhesisten für Nachuntersuchungen und -Behandlungen im Zusammenhang mit dem Betäubungsverfahren ✓

  4. 4.

    Verantwortung des Chirurgen bei positiven Kompetenzkonflikten als Auffangregel ✓

V. Sonstige berufsspezifische Verfahren

1. Allgemeines

Verbot der Doppelbestrafung

Neben der zivilrechtlichen Haftung und strafrechtlichen Sanktion kann ärztliches Fehlverhalten auch dazu führen, dass sich der Arzt gegenüber der Ärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigung, der Zulassungsbehörde oder seinem Dienstvorgesetzten verantworten muss. Grundsätzlich stellt sich dabei immer das Problem, ob berufsrechtliche Sanktionen zusätzlich zu einer strafrechtlichen Verurteilung überhaupt zulässig sind. Das Verbot der Doppelbestrafung („ne bis in idem“) ist in Art. 103 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich abgesichert. Danach darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Unterschiedlicher Strafzweck von StGB und Berufsrecht

Schon aus dem Wortlaut ergibt sich, dass das Verbot der Doppelbestrafung unmittelbar nur für Straftaten nach dem Kriminalstrafrecht gilt. Der Grundsatz „ne bis in idem“ kann für das Disziplinar- und Berufsstrafrecht nur aus dem Rechtsstaatgebot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgeleitet werden. Art. 103 Abs. 3 GG gilt auch nicht im Verhältnis von Kriminalstrafrecht einerseits und Disziplinar- und Berufsstrafrecht andererseitsFootnote 36. Eine mehrfache Bestrafung ist wegen der unterschiedlichen Zweckbestimmung der Sanktionsvorschriften gerechtfertigt. Das allgemeine Strafrecht hat repressiven Charakter, während Sanktionen nach dem Berufsrecht für die Zukunft eine Schädigung der Gesundheitsversorgung und des Ansehens der Berufsgruppe verhindern sollen. Außerdem richtet sich das strafrechtliche Delikt gegen ein für alle gewährleistetes Rechtsgut und stört damit den allgemeinen Rechtsfrieden. Demgegenüber bezieht sich die Disziplinarmaßnahme auf den besonderen Rechts- und Pflichtenstatus der Angehörigen eines bestimmten BerufsstandesFootnote 37.

Berufsrechtlicher Überhang

Gleichwohl ist es nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geboten, dass die Berufs- und Disziplinargerichte zusätzlich zu einem Strafurteil nur dann eine Sanktion verhängen dürfen, wenn ein besonderer sog. berufsrechtlicher Überhang besteht. Wenn eine Handlung sowohl ein Strafgesetz als auch die Berufspflichten verletzt, so kann es notwendig sein, über die in der Strafe liegende allgemeine Missbilligung der Verletzung des Rechtsgutes hinaus die besondere Missbilligung wegen der Verletzung der Berufspflicht zum Ausdruck zu bringen und mit dieser Reaktion einer Minderung des Ansehens der Ärzteschaft entgegenzuwirken. Ob der besondere Grund und Zweck der Berufsgerichtsbarkeit durch eine strafrechtliche Verurteilung etwa schon erfüllt wurde, ist Frage des Einzelfalles. Es obliegt den berufsständischen Organen, bei vorangegangenem Strafverfahren zu prüfen, ob eine Disziplinarmaßnahme zusätzlich notwendig istFootnote 38.

Verhältnismäßigkeitsprinzip als Grenze möglicher Sanktionen

Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgen Grenzen für das Nebeneinander von Kriminalstrafrecht und Disziplinar- bzw. Berufsstrafrecht auch bei der Höhe der Strafzumessung. Ist nach dem Disziplinarrecht bereits eine Freiheitsstrafe (militärischer Arrest) verhängt worden und wird auch vom Strafgericht auf eine Freiheitsstrafe erkannt, so muss auf die jeweils spätere Freiheitsstrafe die frühere angerechnet werdenFootnote 39. Bei weniger einschneidenden Sanktionen ist eine Addition der Strafen möglich. So schließt die Verhängung einer Geldstrafe im Strafverfahren nicht eine zusätzliche berufsrechtliche Geldbuße aus, wenn diese unter einem anderen Aspekt gerechtfertigt istFootnote 40.

2. Berufsrechtliches Verfahren

Grundlagen der Berufspflichten

Die Kammergesetze bzw. Heilberufsgesetze der Bundesländer sehen berufsgerichtliche Verfahren für Kammerangehörige vor, die ihre Berufspflichten verletzen (z. B. §§ 59 ff. HeilBerG NW). Die Berufspflichten sind in den Landesgesetzen nur rudimentär geregelt. So heißt es in § 29 Abs. 1 HeilBerG NW, dass die Kammerangehörigen verpflichtet sind, ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und den ihnen im Zusammenhang mit dem Beruf entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Zur näheren Ausgestaltung der Berufspflichten wird auf die zu erlassenden Berufsordnungen verwiesen (z. B. § 32 HeilBerG NW). Die Musterberufsordnung für Ärzte (MBO-Ä 1997)Footnote 41 und die von den Ärztekammern erlassenen Berufsordnungen enthalten Regelungen u. a. zu Aufklärungs-, Schweige-, Dokumentations- und Weiterbildungspflichten der Ärzte. § 11 Abs. 1 MBO-Ä verpflichtet den Arzt bei Übernahme der Behandlung gegenüber dem Patienten zur gewissenhaften Versorgung mit geeigneten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Der gesamte Teil B der MBO-Ä führt die wichtigsten Grundsätze ärztlicher Berufsausübung auf.

Aufbau der Berufsgerichte

Über die Verletzung von Berufspflichten befinden die Berufsgerichte in erster und die Landesberufsgerichte in zweiter Instanz. In Nordrhein-Westfalen z. B. sind für die Landesteile Nordrhein und Westfalen-Lippe je ein Berufsgericht bei den Verwaltungsgerichten Köln und Münster eingerichtet, das Landesberufsgericht als Rechtsmittelinstanz befindet sich beim Oberverwaltungsgericht in Münster (§ 61 Abs. 2 HeilBerG NW). Die Berufsgerichte sind mit einem Berufsrichter als Vorsitzenden und zwei Berufsangehörigen aus dem Beruf des Beschuldigten als Beisitzer zusammengesetzt (§ 62 Abs.1 HeilBerG NW), im Landesberufsgericht in Nordrhein-Westfalen sitzen drei Berufsrichter einschließlich des Vorsitzenden und zwei Ärzte als Beisitzer (z. B. § 62 Abs. 2 HeilBerG NW). In den meisten anderen Bundesländern bestehen ähnliche Strukturen. Unterschiede bestehen in manchen Bundesländern bei der personellen Zusammensetzung der Berufsgerichte sowie bei ihrer Zuordnung zu einer bestimmten Gerichtsbarkeit. So gibt es Berufsgerichte bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit, so in Bayern und Sachsen, bei den Dienststrafkammern für Beamte, so in Schleswig-Holstein, oder als selbständige Einheit bei den Ärztekammern in Baden-Württemberg, Niedersachsen und SaarlandFootnote 42.

Sanktionenkatalog

Berufsgerichtliche Maßnahmen können sich von der Warnung, dem Verweis über die Geldbuße (in Nordrhein-Westfalen bis zu 50.000,00 €) bis hin zu der Feststellung der Berufsunwürdigkeit des Beschuldigten erstrecken (vgl. § 60 Abs. 1 HeilBerG NW).

In diesem Zusammenhang ist allerdings auch das Verhältnis zum strafgerichtlichen Verfahren zu beachten: Bereits das Strafgericht kann nach § 70 Abs. 1 S. 1 StGB ein Berufsverbot für die Dauer eines Jahres bis zu fünf Jahren verhängen. Voraussetzung ist, dass der Arzt unter Missbrauch seines Berufes oder grober Pflichtverletzung die Tat begangen hat und die Gefahr besteht, dass er bei weiterer Ausübung seines Berufes erhebliche rechtswidrige Taten der bezeichneten Art begehen wird.Footnote 43 Auch ein darüber hinausgehendes Berufsverbot ist zulässig, wenn zu erwarten ist, dass die Höchstfrist von fünf Jahren zur Abwehr der drohenden Gefahr nicht ausreicht.Footnote 44

Subsidiarität des berufsrechtlichen Verfahrens

Der Vorrang des Strafverfahren s und auch des Disziplinarverfahren s ist in manchen Heilberufegesetzen ausdrücklich vorgesehen. Nach § 76 Abs. 1 HeilBerG NW ist ein berufsgerichtliches Verfahren auszusetzen, wenn vor oder nach seiner Eröffnung die öffentliche Klage im strafrechtlichen Verfahren wegen desselben Sachverhaltes gegen den Beschuldigten erhoben wird. Wird der Beschuldigte im strafgerichtlichen Verfahren freigesprochen, so kommt eine berufsgerichtliche Verurteilung nur in Betracht, wenn ein Berufsvergehen über den Tatbestand eines Strafgesetzes hinaus verwirklicht wurde (z. B. § 76 Abs. 2 HeilBerG NW). Diese Regelung des Vorranges des Strafverfahrens stellt damit eine spezialgesetzliche Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Forderung nach einem berufsrechtlichen Überhang des ärztlichen Fehlverhaltens dar.

Beispielfall zum berufsrechtlichen Überhang

Ein solcher berufsrechtlicher Überhang dürfte bei den im Arzthaftungsprozess typischerweise zur Diskussion stehenden Strafrechtsdelikten wie fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung seltener anzunehmen sein als zum Beispiel bei einem Betrug zum Nachteil des PatientenFootnote 45. Der Behandlungsfehler stellt für sich noch keine berufsrechtliche Pflichtverletzung darFootnote 46, erforderlich ist ein hochgradiges Fehlverhalten des Arztes.Footnote 47 Wenn aber – wie im Fall 37 der Körperverletzung durch Strahlentherapie – die Straftat durch kontinuierliche Verletzung der Fortbildungspflicht, nahezu unverständliche schlampige Praxisführung und jahrelange Verletzung von Sicherheitsvorschriften ermöglicht wird, ist im Anschluss an das Strafverfahren ein berufsgerichtliches Verfahren geboten.

So ist beispielsweise auch eine Anästhesistin, die bei einer Schönheitsoperation ohne vorherige Aufklärung die Anästhesie durchführte, nach dem hypoxischen Hirnschaden und Tod der Patientin einerseits vom Strafgericht zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Andererseits verhängte das Berufsgericht zusätzlich eine Geldbuße in Höhe von 4.000 € mit der Begründung, die strafbare Handlung der Beschuldigten treffe den Kernbereich ihrer Berufstätigkeit.Footnote 48

Kritik am möglichen Urteilstenor

Bemerkenswert ist der mögliche Urteilstenor für den Fall eines berufsrechtlichen Freispruchs. Nach § 92 Abs. 2 HeilBerG NW kann das Berufsgericht entscheiden, dass eine Verletzung der Berufspflichten entweder nicht vorliegt oder „nicht erwiesen ist“. Letztere Formulierung erinnert an den „Freispruch mangels an Beweisen“, der im Volksmund auch „Freispruch zweiter Klasse“ genannt wurde. Im Strafprozess gibt es diese Urteilsformel nicht mehr. Nach § 267 Abs. 1 und 5 StPO wird der Angeklagte entweder verurteilt oder freigesprochen. Ein Zusatz zum Freispruch würde gegen die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 MRK verstoßen und wäre daher unzulässigFootnote 49. Da die Vorschriften der Strafprozessordnung im berufsgerichtlichen Verfahren zumindest sinngemäß Anwendung finden (z. B. § 112 Satz 1 HeilBerG NW), ist der in § 92 Abs. 2 b HeilBerG NW vorgesehene Urteilsausspruch verfassungsrechtlich durchaus bedenklich.

Rechtsmittel

Gegen die zweitinstanzliche Entscheidung der Landesberufsgerichte stehen keine Rechtsmittel mehr zur Verfügung. Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist nicht eröffnetFootnote 50.

3. Widerruf der Approbation

Rechtliche Grundlagen des Widerrufs der Approbation

Die schwerwiegendste berufsrechtliche Maßnahme ist der Widerruf der Approbation durch die Approbationsbehörde. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Bundesärzteordnung ist die Approbation zu widerrufen, wenn sich der Arzt nach Erteilung der Approbation eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich seine Unwürdigkeit und Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes ergibt. Nach § 3 Abs. 5 Bundesärzteordnung kann die Erteilung der Approbation ausgesetzt werden, wenn gegen den antragstellenden Arzt ein Strafverfahren wegen des Verdachtes einer Straftat eingeleitet worden ist, aus der sich eine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes ergeben kann. Indirekt ergibt sich aus dieser Vorschrift, dass eine Verurteilung wegen einer entsprechenden Straftat auch zum Widerruf der Approbation berechtigen kann.

Generalklauseln „Unwürdigkeit“ und „Unzuverlässigkeit“

Unwürdigkeit und Unzuverlässigkeit des Arztes sind ein zwingender Widerrufsgrund. Die Tatbestandsmerkmale „Unwürdigkeit“ und „Unzuverlässigkeit“ stellen unbestimmte Rechtsbegriffe dar. Von der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass Berufspflichten nicht in einzelnen Tatbeständen erschöpfend umschrieben werden können, sondern in Generalklauseln zusammengefasst sind. Solche Generalklauseln sind auch gegenüber dem Verfassungsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, wonach die Strafbarkeit einer Tat im Zeitpunkt ihrer Begehung gesetzlich bestimmt sein muss („nulla poena sine lege“), als Grundlage für eine berufsgerichtliche Bestrafung ausreichendFootnote 51. Unwürdigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes ist dann anzunehmen, wenn der Arzt durch sein Verhalten nicht mehr das zur Ausübung des ärztlichen Berufes erforderliche Ansehen und Vertrauen besitztFootnote 52. Unzuverlässigkeit ist dann anzunehmen, wenn nach einer Prognoseentscheidung der Betroffene in Zukunft seine beruflichen Pflichten nicht erfüllen wirdFootnote 53.

Verhältnis zum strafrechtlichen Verfahren

An die Entscheidung eines Strafgerichtes ist die Approbationsbehörde nur unter bestimmten Umständen gebunden. Der Entzug einer Approbation auf administrativem Wege aufgrund von Rechtsvorschriften, die disziplinarrechtliche Züge tragen, ist wegen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Doppelbestrafung dann verboten, wenn das Strafgericht die Verfehlungen bei der Frage des Verbots der Berufsausübung bereits umfassend auch von der berufsrechtlichen Seite gewürdigt hat, so dass kein disziplinar- bzw. berufsrechtlicher Überhang mehr bestehtFootnote 54. Dies gilt aber nur für solche Fälle, in denen das Strafgericht überhaupt die Möglichkeit hatte, ein Berufsverbot in Betracht zu ziehen. Hierzu müssen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die strafgerichtliche Anordnung eines Berufsverbots gegeben sein, § 70 Abs. 1 S. 1 StGB. Andernfalls fehlt es an der Identität der Prüfungsgegenstände des Strafgerichts und der zuständigen Verwaltungsbehörde. Hat das Strafgericht also die berufsrechtliche Relevanz der strafrechtlich zu ahnenden Verfehlungen nicht auch unter dem Gesichtspunkt der Unwürdigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes geprüft, so ist der Widerruf der ärztlichen Approbation unabhängig vom StrafurteilFootnote 55. Ansonsten verbleibt es bei dem Grundsatz, dass ein richterliches Berufsverbot unabhängig vom Berufsverbot durch die Verwaltungsbehörden nach anderen Vorschriften istFootnote 56.

Verhältnis zwischen berufsgerichtlich festgestellter Berufsunwürdigkeit und Widerruf durch Approbationsbehörde

Sofern ein Berufsgericht die Berufsunwürdigkeit des Arztes festgestellt hat (z. B. § 60 Abs. 1 e HeilBerG NW), so ist eine gesetzliche Bindung der Approbationsbehörde an diese Entscheidung nicht ausdrücklich vorgesehen. Andererseits käme der Feststellung der Berufsunwürdigkeit durch das Berufsgericht kein eigener Regelungsgehalt zu, wenn diese nicht den Widerruf der Approbation nach sich ziehen würde. Für eine Verknüpfung beider Entscheidungen spricht schon die Verwendung der gleichen Terminologie. Außerdem überprüft das Berufsgericht das Verhalten des Arztes gerade im Hinblick auf die Verletzung von Berufspflichten, so dass eine Identität des Prüfungsgegenstandes mit dem Verfahren zum Widerruf der Approbation stets zu bejahen sein wird und voneinander abweichende Entscheidungen allenfalls theoretisch denkbar sind.

Rechtsmittel

Der Widerruf der Approbation stellt einen Verwaltungsakt dar, gegen den der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.

4. Beamtenrechtliches Disziplinarverfahren

Grundlagen der beamtenrechtlichen Dienstpflichten

Die beamteten Ärzte sind ebenfalls Pflichtmitglieder der Ärztekammern. Als solche unterliegen sie grundsätzlich denselben Berufspflichten und derselben Berufsgerichtsbarkeit wie ihre nicht beamteten Kollegen. Im Einzelnen ist das Verhältnis zwischen berufsgerichtlichem Prozess und beamtenrechtlichem Disziplinarverfahren landesrechtlich geregelt. In Nordrhein-Westfalen unterliegen beamtete Kammerangehörige nicht der Berufsgerichtsbarkeit, soweit sie ihre Beamtenpflichten verletzt haben (§ 59 Abs. 2 HeilBerG NW). Die Entscheidung in einem Disziplinarverfahren hat vor der berufsgerichtlichen Entscheidung Vorrang und ist für diese bindend, sofern kein berufsrechtlicher Überhang besteht (§ 76 Abs. 4 HeilBerG NW). Die Dienstpflichten für Beamte ergeben sich aus den jeweiligen Bundes- und Landesgesetzen zum Beamtenrecht.

5. Entziehung der Vertragsarzt zulassung

Voraussetzungen der Entziehung der Vertragsarztzulassung

Nach § 95 Abs. 6 SGB V i. V. m. der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (§ 27 Ärzte-ZV) ist die Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung u. a. dann zu entziehen, wenn der Vertragsarzt seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt hat. Zuständig ist der Zulassungsausschuss der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung, der von Amts wegen über die Entziehung der Zulassung zu beschließen hat. Nach § 95 Abs. 6 SGB V ist die Zulassung zu entziehen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen; dem Zulassungsausschuss steht dann kein Ermessen mehr zur Verfügung. Wie § 95 Abs. 6 SGB V ebenfalls klarstellt, muss der Vertragsarzt gegen seine vertragsärztlichen Pflichten verstoßen haben. Zusätzlich zu einem berufsgerichtlichen Verfahren findet ein kassenärztliches Disziplinarverfahren daher nur dann statt, wenn ein kassenarztrechtlicher Überhang bestehtFootnote 57.

Unabhängig von der Zulassungsentziehung können die Kassenärztlichen Vereinigungen aber auch satzungsgemäß Disziplinarmaßnahmen wie Verwarnung, Verweis, Geldbuße bis zu 10.000 € und Ruhen der Zulassung bis zu 2 Jahren verhängen, § 81 Abs. 5 SGB V.